Schrei dich frei!

…oder eine kleine Anleitung zum Social-Media-Gebrauch:

Da ja heutzutage jeder einen Ratgeber auf den Weg bringen muss, mache ich das jetzt auch. Kostet nichts und ist super Werbung. Wie diese Listicles bei „Wirtschaftwoche“, „Kununu“ und wie die sonst alle heißen. Die haben zwar keinen Mehrwert, also sind sie im wahrsten Sinne des Wortes umsonst, aber hey… wenigstens kann man einen fetten Kommentar drunter setzen und sich wichtig fühlen. Also los!

  1. FOMO (Fear of missing out) ist doch keine Krankheit, sondern unbedingte Voraussetzung für das Überleben des Digital Native im neuen Jahrzehnt. Immerhin sind die „New Roaring Twenties“ gerade im Anbruch begriffen. Nicht nur ein neues Jahr, nein gleich ein ganzes verschissenes neues Jahrzehnt beginnt morgen Nacht. Heidewitzka! Also lasst eure Smartphones 24/7 an und reagiert auf das kleinste Piepen. Insbesondere Nachts. Nachts sind schließlich schon viele wahnsinnig wichtige Dinge passiert. Pissen nach übermäßigem Bierkonsum zum Beispiel…
  2. Postet natürlich auch einfach alles, was euch in den Sinn kommt: volle Teller, leere Teller, eure Shopping-Beute, euer neues Auto, Boot, Haus, Schmuck (damit der Einbrecher den auch auf jeden Fall findet und ihr hinterher über den Einbruch eine super Insta-Story machen könnt!). Eure Follower mögen schließlich Action!
  3. Und überhaupt: generiert Follower. Ihr seid heutzutage nur wichtig, wenn euch irgendwer irgendwohin folgt. Und wenn’s nur der Stalker von Gegenüber ist, in dessen gekacheltem Keller ihr dann vielleicht zu seiner super Insta-Story werdet. Lasst euch von niemandem einreden, dass das Leben eigentlich in der realen Welt stattfindet. Die haben alle keine Follower…ähm Ahnung…
  4. Meinung bildet man sich nicht – Meinung hat man. Und zwar soviel davon, wie nur möglich zu überhaupt allem und am besten sofort! Dieses sagenumwobene „Recherchieren“ und „Nachdenken“ kostet viel zu viel Zeit. Kommt auf den Punkt, sonst postet ein anderer womöglich vor euch. [Das waren die grundlegenden Regeln, jetzt kommt die Politik!]
  5. Satire auf keinen Fall als solche erkennen. Selbst wenn’s ganz einfach wäre, wie etwa beim „Oma ist ne alte Umweltsau“-Song. Satire darf dann alles, wenn man Linke und Grüne durch den Kakao ziehen kann. Und Politiker; die haben ja eh nix besseres verdient. Aber wehe, so eine linksgrünversiffte Sau bohrt da, wo’s ein bisschen weh tut. Etwa beim eigenen Verhalten! Das darf nicht ungesühnt bleiben. Die Greta ist immer als Zumutung zu empfinden! Da könnte ja jeder kommen und mir verbieten wollen, nicht mehr die Ressourcen mit vollen Händen zu verschwenden und dabei unsere Welt immer unbewohnbarer zu machen. Wir haben doch noch eine Zweite in Reserve! Es ist also in jedem Fall wichtig, alles negativ zu kommentieren, was irgendwie nach Umweltschutz klingt.
  6. Überhaupt, der Ton macht die Musik! Mal richtig einen raushauen ist erste Bürgerpflicht. Man sollte vor allem Fremde Menschen duzen, als wenn man sie schon mal vor dem Wirtshaus eigenhändig verprügelt hätte. Deftige Wortwahl hilft immer! Wichtig ist nur, dass man eventuell justiziable Kommentare ganz schnell löschen kann. Also gilt wieder Regel Nr. 1: immer online bleiben. Dann verwischst du die linksgrünen Säue auch besser.
  7. Auch, wenn man so schnell Freunde findet, die genauso denken: Manchmal stolpert man doch über so einen Simpel, der tatsächlich mit dem Anwalt droht. Da hilft nur ignorieren, blockieren und vor allem alle Posts löschen, die vielleicht zu verwerflich waren. Es ist MEINE Blase und ich will in MEINER Blase nur mit MEINEN Leuten zu tun haben! Sonst könnte ich mich ja mit Informationen infizieren…
  8. Nur lesen, was auch passt! Wie schnell landet man sonst in Teufels Küche. Im Netz kursieren so viele Fakten, da wird man ganz schnell wirr im Kopf von. Fakten, insbesondere, wenn sie von den Systemmedien als solche ausgezeichnet sind, muss man in jedem Fall umgehen. UND AUF KEINEN FALL LESEN ODER – NOCH SCHLIMMER – DRÜBER NACHDENKEN! Meine Leute haben schon die Wahrheit gepachtet, da brauche ich keine Fakten!

…so, alle schon am Schnappatmen? Ja wunderbar. So funktioniert Erregung in den sozialen Medien. Vielleicht finde ich das eine oder andere meiner absolut satirisch gemeinten Anleitung zum Social-Media-Gebrauch irgendwann auf einschlägigen Seiten wieder. Drauf geschissen. Ich würde mich entsetzlich freuen, wenn wir die, tatsächlich anbrechenden Neuen Zwanziger zum Anlass nähmen, wieder unseren Verstand zu benutzen und nicht jedem Rattenfänger hinterher zu laufen. Und dabei ist es mir, auch wenn ich ein alter Soze bin, vollkommen Wumpe, ob das Grüne, Schwarze, Blaue, Braune, Rote, Gelbe oder irgendwie karierte Rattenfänger sind. Alle bieten doch heutzutage Opinion To Go an, als wenn man sich für informierte Entscheidungen nur am Grabbeltisch des Vorgekauten bedienen müsste.

Eine informierte Entscheidung treffen zu können – und die ist das Kennzeichen der Mündigkeit, von welcher Kant so gerne sprach – bedingt, zuvor Informationen gewonnen zu haben. Und wie das bei allen kostbaren Ressourcen so ist: sie zu erlangen, kostet Anstrengungen. Worauf viele Menschen heutzutage keinen Bock mehr haben. Und bevor jetzt gleich wieder einer losjodelt: das betrifft alle Altersgruppen. Darum hier meine wichtigste Bitte für 2020: da auch ich nicht von social media lassen kann, weil es für mich, neben der Funktion als Beobachtungsort für Idioten in ihrem natürlichen Habitat, auch noch für andere Dinge gut ist: DENKT BEVOR IHR POSTET! UND WENN IHR AUCH NUR DEN FUNKEN EINES ZWEIFELS HABT – NICHT POSTEN, SONDERN WEITERDENKEN! Danke… Peace…

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Zuviel

Widersinn haut manchmal hin. Zumindest, wenn er eigentlich gar nicht so widersinnig daher kommt, sondern eher als kleiner Bastardbruder der Avantgarde. Man kann jetzt (noch) darüber streiten, ob FFF schon Mainstream oder noch Avantgarde ist, wenn so viele Menschen hingehen und tatsächlich anfangen, ihren Konsum zu überdenken. Ich nehme mich dabei übrigens nicht aus. Obschon mir manche Dinge schwerer fallen. Das mag an meinem Alter, meiner Sozialisierung, oder sonstwas liegen; ist auch egal. Im Ergebnis bedeutet es allerdings, dass ich nicht so konsequent handle, wie ich mir das gerne einrede. Und ich rede mir recht viel ein, wenn der Tag lang ist, auch mein Selbstbewusstsein ist schließlich nicht aus Eisen…

Ein wirklich guter Zeitpunkt, um die Inkonsistenz und Inkonsequenz des eigenen Tuns besonders intensiv zu erleben, sind natürlich die Feiertage. „Ich bin kein Kostverächter!“ war früher eine halbwegs elegante Umschreibung für „Ich fresse gerne bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie ein Scheunendrescher!“. Und dafür ist Weihnachten halt prädestiniert. Es gibt immer von allem zuviel. Zuviel Essen, zuviel Alkohol, zuviel sonstiger Konsum, zuviel Rührseligkeit; und manchmal auch zuviel Streit. Gegen zuviel Rührseligkeit ist echt kein Kraut gewachsen. Zuviel Streit können wir selbst verhindern. Bei zuviel Konsum jedoch wird es haarig. Und ausgerechnet der muss doch auf den Prüfstand, nicht wahr…?

Sieht ja noch ganz OK aus. So’n bisschen Bio-Suppengrün halt…

Wäre ich Pinocchio und würde jetzt behaupten, dass unsere Verköstigung zu Weihnachten bisher ökologisch bewusst und sinnvoll war, hätte meine Nase jetzt gerade den Bildschirm meines Convertibles durchstoßen und ich hätte mich schon wieder in überflüssigem Konsum ergehen dürfen. Wobei… es ist eigentlich ja vor allem ein Arbeitsgerät. Wie dem auch sei; wir haben – wie wir das jedes Jahr tun – sowohl am heiligen Abend zu Hause, mit unseren Kindern, als auch am ersten Feiertag im Kreise weiterer Familie alles andere als sparsam getafelt. Totes Tier war auch dabei. Und schon geht sie los, unsere Öko-Terror-Polonaise…

…welches allerdings nur zur Verfeinerung einer Lammkeule gedient hat. Ist jetzt Teil der Soße.

Worauf ich hinaus will? Nun… die Menschen, die sich bestimmt darüber echauffieren, dass der Mensch, der nach eigener Aussage ökologisch angehauchter Sozialdemokrat ist, dann SO unverantwortlich mit dem Planeten umgeht. Meat-Shaming! Tierkinder-Mörder! CO2-Fußabdruck! Überfluss! Was ist mit denen, die nicht so viel haben? Sagen wir mal so: ich habe mir darüber durchaus Gedanken gemacht. Und tue es mit diesem Text immer noch. Weil es doch das eine oder andere zu bereden gibt, wenn wir über unser Handeln zum höchsten Christenfest nachdenken wollen.

Zum einen möchte ich dem möglichen Vorwurf bezüglich Bigotterie meines eigenen Handelns folgendermaßen begegnen: ich brauche, wie neulich gesagt, Traditionen. Das allein mag als Entschuldigung nicht genügen; ich wage jedoch zu sagen, das bestimmte Teile unseres kulturell bestimmten Handelns länger zum Wandel brauchen werden, als andere. Der Verzicht auf das dauerhafte, mobile verheizen fossiler Brennstoffe ebenso wie die Einschränkung des heimischen Energieverbrauchs und des eigenen Konsums gehen bei uns dafür ja voran. Ich sehe wohl, dass die Zeit drängt, die Zukunft für meine Kinder und die aller anderen Eltern zu erhalten. Was jedoch mitnichten bedeuteten sollte, dass wir unsere gegenwärtige Kultur einfach abschaffen müssen. Modifizieren wäre die passendere Herangehensweise.

…mit Herz ginge vieles besser…

Die Radikalität, mit der bestimmte Veränderungen eingefordert werden, überfordert den größten Teil der Menschen. Würde man sich stattdessen der Methoden des Change-Managements bedienen, wären die Erfolge weit schneller erzielbar. Das wahre Problem sind denn auch nicht die Menschen in der Masse, sondern jene, die Macht und Ressourcen haben und diese um jeden Preis behalten wollen. JEDEN PREIS! Die würden nicht absaufen, wenn die Kölner Bucht dereinst den Namen verdient. Sie hätten alle Möglichkeiten, da zu überleben, wo’s auch dann noch ganz nett ist und würden mit Wonne auf den Rest der Menschheit scheißen. So lange wir Gier-gesteuerten Manchester-Kapitalisten allen Einfluss auf die Politik lassen und uns als braves Wahl-Volk verhalten, wird sich daran auch nichts ändern.

Also zurück zum Festtagsbraten. Natürlich ist es ein Zuviel. Ein heilsames Zuviel für die Seele. Dadurch wird’s nicht gerechter oder ökologisch sinnvoller. Aber wir als Spezies haben da noch einen sehr langen Lernprozess vor uns. Auch wenn das FFF und die Leute bei Extinction Rebellion nicht wahrhaben wollen, wird es nicht schnell gehen. Deren Einzel-Aktionen erzeugen zwar nach und nach Öffentlichkeit und damit Verständnis für die Anliegen, solange der (höchst individuell zu sehende) Bogen dabei nicht überspannt wird. Doch eine Änderung der Welt als Ganzes werden Sie damit weder schnell noch nachhaltig hinbekommen. Doch, wenn auch nur einer deswegen sein Handeln ändert, hin zu mehr ökologischem Bewusstsein, sind wir auf dem richtigen Weg.

Man darf mich hier nicht falsch verstehen: ich finde, dass FFF und XR einen hohen Wert haben. Doch ich kenne den Mensch und die Gesellschaft gut genug, um zu wissen, dass man sich nicht einfach irgendwo hinstellen und schreien kann, damit alles gut wird. Und das wissen die Aktivisten in ihrem Herzen auch. Weihnachten sollte eigentlich eine Zeit des Friedens sein. Wir können das Private zum Teil auch politisch werden lassen; ein Stück weit war es das schon immer. Aber wir können niemanden dazu zwingen, das genauso schnell zu tun, wie FFF und XR das fordern. Weshalb ich meiner Familie an einem Tag im Jahr die Illusion schenke, dass Frieden herrscht und irgendwie alles gut wird. Es ist das beste Geschenk, dass ich machen kann. Und wenn’s das nächste Mal eine Lammkeule aus ökologischer Landwirtschaft wird, nicht eine, dass ich hastig besorgen musste (so, wie mein ganzes Leben derzeit subjektiv im Modus der Hast läuft), dann ist mein eigenes Gewissen auch besänftigt. Friede euch allen! Nach den Festtagen können wir wieder streiten…

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Ein Witz über Weihnachten?

Ich habe das schon bei mancher Gelegenheit getan: nämlich, mich über das Pogo-Hüpfen im Minenfeld zu beömmeln, dass die Festtage für viele Menschen darstellen. Das hohe Christfest im Kreise der Familie wird von manchem Autor eher als garstiges Gemetzel rings um den Gänsebraten beschrieben. Aber auch, wenn derlei Possen natürlich einen gewissen Unterhaltungsfaktor haben mögen – irgendwann ist genug davon. Doch nicht, weil mir Weihnachten auf einmal wieder heilig geworden wäre.

Römer haben vor 2020 +/- ein paar Jahren einen Juden ans Kreuz genagelt, der neue Ideen unters Volk gebracht hatte. Man darf getrost davon ausgehen, dass an der Geschichte, die alljährlich auf’s Neue erzählt wird, ein wenig historische Substanz dran ist, die eher mit Aufstand gegen ein repressives Regime zu tun hatte, denn mit der Geburt von Gottes Sohn auf Erden. Wir Menschen waren ja schon immer ganz gut darin, die „gute alte Zeit“ ex post zu verklären…

Nein, das mit reichlich heidnischem Brauchtum (geschmückte Bäume, etc.) verbrämte, mittlerweile zum hastigen Konsumspektakel regredierte Abfeiern im Abglanz fromm zitierter christlicher Glaubensgrundsätze, die dann doch weit häufiger ein bloßes Lippenbekenntnis bleiben, macht mich nicht zu einem gläubigeren Menschen, als ich das sonst auch bin. Womit nicht gesagt ist, dass ich ungläubig oder unspirituell wäre. Ich brauche dafür nur meistens keine Rituale. Und doch – an diesem einen Datum lasse ich diesen Ritualen Raum, denn sie haben tatsächlich einen erdende Funktion in meinem Leben.

Jedes Ende ist auch ein Anfang und zweifelsohne gibt es keinen besseren Zeitpunkt für einen selbstläuternden Rite de Passage, als zum kalendarischen Jahresende; Weihnachten fällt nicht zufällig in diese Zeit, hat Kaiser Konstantin es doch geschafft, die Bischöfe beim 1. Konzil von Nicäa davon zu überzeugen, den 25. Dezember als höchsten Feiertag des Sol Invictus-Kultes im römischen Reich in die damals noch junge christliche Liturgie mit zu übernehmen. Also feiern wir am 1. Weihnachtsfeiertag auch das, im heidnischen Glauben natürlich verehrte, Wiedererstarken der Sonne nach der Wintersonnwende, die üblicherweise auf den 21. oder 22. Dezember fällt.

Meine Selbstläuterung beinhaltet ein bewusstes Innehalten, ein Reflektieren, eine Introspektion, bei der das peinliche Einhalten gewisser tradierter Handlungsabläufe hilfreich ist. Auch, wenn mir das erst im Laufe der Jahre bewusst geworden ist: die Rituale und Traditionen, die sich im Laufe der Zeit rings um bestimmte Feiertage herausgebildet haben sind es, die den besonderen Wert solcher Zeiten für uns Menschen ausmachen. Weil diese Rituale uns zwingen, vom Alltag wenigstens kurz Abstand zu nehmen. Das klappt natürlich oft nicht so gut, wie man sich das erträumt, weil solche besonderen Zeiten in unserer schnelllebigen Welt leider nur zu gerne mit der Erwartung auf Perfektion aufgeladen werden, die – zu Weihnachten genauso, wie sonst den Rest des lieben langen Jahres – stets eine Illusion bleiben wird. Et voilá: garstiges Gemetzel, rings um die Gans…

Das ist bei mir daheim manchmal nicht anders. Aber das ist kein Grund zum Ärger mehr. Ich las heute einen Artikel auf Zeit Online (wo auch sonst), in dem sich die Autorin damit befasst, dem Nazi-Onkel auch am Festtisch entschieden entgegen zu treten. Was letztes Jahr, vorletztes Jahr und die fünf Jahre davor nix gebracht hat – egal, ob zu Weihnachten, Ostern, oder dem Geburtstag von Tante Hildentrude – wird auch dieses Jahr nichts bringen, außer Ärger und Verdruss. Mal davon abgesehen, dass die Lady sich dem naturalistischen Fehlschluss hingibt. Ich muss gar nix, nur weil ich „dem Guten“ dienen soll – was auch immer das sein mag. Nazis werden geboren, leben und sterben wieder und die in meiner Verwandtschaft betrachte ich als biologisch selbst lösendes Problem.

Was vom Feste dann übrig bleibt, sind zumeist überschüssige Kalorien auf der Hüfte, mancher Tand, den man nicht unbedingt gebraucht hätte, Erinnerungen aller Art und das Gefühl, dass es doch irgendwie ganz OK gelaufen ist. Ich schätze vor allem die Kalorien und die Zeit, die ich in den letzten Jahren – allem Trubel zum Trotze – für mich selbst freimachen konnte. Entschleunigung. So wie im Sommerurlaub, nur ohne Pool, Sonne und eine endlos lange Autofahrt. Denn der Teil meiner Familie, mit dem ich feiere, wohnt im Nahbereich. Auch dieses Jahr wird es wieder OK sein. Und falls nicht – habe ich genug Schnaps gebunkert. Cheerio und gesegnete Festtage!

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Ist Musik Geschmackssache?

Capital Bra ist ein Einhorn. Also nicht so ein flauschiges, niedliches, Regenbogen-farbiges, knuddeliges; sondern eher so ein abgerissenes, schmuddeliges, nicht ganz so hübsches. Was seinem Erfolg gegenwärtig wenig Abbruch tut. Meine Tochter (11) regt das total auf, denn sie kann den Typ und seine Musik nicht ab, manche ihrer Klassenkameraden (ebenfalls 11!) aber schon! Beim Sportlehrer bin ich mir nicht sicher, wie’s kommt, aber bei den Kids hat es was mit „Coolness“ zu tun. Oder besser – dem, was hier als „Coolness“ verkauft wird. Ich fange hier jetzt nicht mit einer hermeneutischen Analyse seiner Texte an, das wäre über’s Ziel hinaus geschossen. Aber sagen wir mal so: düsteres Capital, ähm Kapitel, dieser Wortschatz…

Sein Erfolg ist das Produkt geschickten Social-Media-Einsatzes und unfassbar hoher Präsenz. An der Qualität seiner Musik liegt es nicht unbedingt, die ist deutscher Rap-Durchschnitt; durchaus professionelle Produktion, jedoch nur bedingt akzeptable Schöpfungshöhe. Ich will – obschon in der Überschrift etwas davon steht – hier lieber nicht mit Geschmack anfangen, denn der ist nur angeblich individuell. Wo ich selbst diesbezüglich stehe, kann jeder wissen, der schon mal ein paar Blog-Posts von mir gelesen hat. Mich fasziniert denn auch eher das Medien-Phänomen „Capital Bra“, denn als Musiker nehme ich ihn definitiv NICHT ernst.

Wenn ich von der angeblichen Individualität des Geschmacks rede, denke ich als erstes nicht an Bourdieu, obschon das, was wir als unseren eigenen Geschmack wahrnehmen natürlich durch unser soziales und kulturelles Kapital (nicht Capital) vorgeformt wird. Heutzutage genießen soziale Medien jedoch ein Maß an Einfluss auf die Ausbildung eines individuellen Geschmacks, wie Bourdieu das zur Zeit seiner Untersuchungen (die 60er des letzten Jahrhunderts) unmöglich voraussehen konnte. Und vor genau diesem Hintergrund ist Musik eben nicht (nur) Geschmackssache, sondern auch Produkt sozialer Prozesse: „meine Kumpel mögen alle Capital Bra, also mag ich den auch, sonst gehöre ich nicht mehr dazu“, also Gruppenzwang ist da nur eine, wenig subtile Spielart.

Wenngleich Peer Pressure eine wohlfeile Erklärung ist, müssen wir wohl doch ein bisschen tiefer in der soziologischen Mottenkiste graben, um das Phänomen des Erfolges dieses jungen Mannes besser erklären zu können. Das Spiel mit den Rollen, aus deren Gleichgewicht sich später unsere Persönlichkeit zusammensetzt (Vater, Freund, Feind, Kollege, Untergebener, Vorgesetzter, Kunde, Dienstleister, Lehrer, Schüler, etc.) beginnt von Kindesbeinen an. Und der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule ist einer der wichtigsten Übergänge. Die Kids suchen sich Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, die in dem Durcheinander ihres Lebens, das noch kein so rechtes Ziel, keinen wahren Sinn ergibt, Orientierung geben können.

Das Internet hat die Auswahl an solchen Vorbildern demokratisiert. Jeder, der nur bekannt genug ist, kann zum Idol werden. Und auch, wenn mich das gruselt: Capital Bra ist für viele ein Idol, denn er hat Erfolg mit dem, was er tut. Früher wollten die Kids Feuerwehrmann werden, Polizist oder Astronaut. Heute Youtuber, Influencer oder eben Rapper. Weil, da hat man schnell Erfolg! Das für den Erfolg auch bei Capital Bra harte Arbeit notwendig ist und seine Welt gewiss nicht nur aus eitel Sonnenschein besteht, wird dabei übersehen. Denn dieses Maß an Reflexion müssen die Kids ja erst noch lernen (weswegen mich der Sportlehrer meiner Tochter immer noch gehirnfickt, der, obwohl er ja ein Studium überstanden haben muss, diesen doch sehr durchschaubaren Herrn immer noch gut findet. Sei’s drum…).

Nein, Musik ist nicht (nur) Geschmackssache. Sie ist auch Beeinflussung auf der Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Jede Form von Kunst oder Unterhaltung kann heute Einfluss auf unsere Lebensgestaltung haben. Je jünger der Rezipient, desto stärker. Genau aus dem Grund finde ich es problematisch, wenn 11-jährige unmoderiert Spotify u. Ä. nutzen dürfen und dann gesagt bekommen, wie (angeblich) das Leben auf der Straße läuft… Das Frauenbild, die Lebensgestaltung, wie man Respekt bekommt, etc.; alles, was die neugierig machende Kunstwelt in den Videos postuliert ist – mit Verlaub – gequirlte Scheiße, allerdings unterlegt mit einschlägigen Beats. Et voilá: Erfolg.

Capital Bra ist deshalb ein Einhorn, weil er es durch seine Medienpräsenz geschafft hat, den Rap mit anderen Genres, anderen „Künstlern“ zu verbinden, die natürlich auch nur ein Interesse am Klingeln der Kasse haben. Manche Leute, wie etwa Dieter Bohlen, tun für ein bisschen mehr Kohle einfach alles – keinen Dank dafür. Ich kann den Typ übrigens auch nicht ab. Ich gönne ihm seinen Erfolg dennoch. Ich glaube ja, ER wird wieder in der Versenkung verschwunden sein, lange bevor ICH aufhöre zu bloggen. Schönen Tag noch.

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Postmoderne Gedanken N°4 – Navi kaputt…?

Es ist ebenso einfach, wie banal vereinfachend, die Moderne anhand ihrer technischen und politischen Errungenschaften zu beschreiben. Und doch machen die Menschen in ihren Köpfen Zeitalter insgesamt an solchen Ankerpunkten fest, die sie in Büchern, im Geschichtsunterricht, auf Discovery Channel, oder irgendeinem sonstigen, als bildungsförderlich verschrieenen Medium erfahren haben. Da werden mehr oder weniger plakative Ereignisse, von denen Historiker annehmen, dass sie einen Einfluss auf „die Geschichte“ gehabt hätten irgendwie beschrieben. In der Schule musste man sich sodann Namen, Zahlen und Fakten merken, um sie zum Zeitpunkt der Klausur regurgitieren zu können. Natürlich lernt der Mensch so nicht wirklich etwas. Und doch ist das eine oder andere Datum hängengeblieben.

Sowas nennt man gerne Allgemeinbildung und mokiert sich immer mal wieder darüber, dass diese langsam aber sicher flöten geht. Doch ist es relevant, wann und wo Karl der Große zum Kaiser gekrönt wurde, wer wann zu wem nach Canossa ging, wann die Vereinigten Staaten gegründet wurden, wann Napoleon von Elba entfleuchte oder an welchem präzisen Tag die Weimarer Republik ausgerufen wurde? Oder sind nicht vielmehr die Mechanismen dahinter, die zu weitreichenden Änderungen für eine Menge Menschen geführt haben, viel interessanter; und vor allem relevanter? Ohne Zweifel sollte man über einige der vorgenannten Ereignisse irgendwas wissen. Denn manches davon wirkt bis in unsere heutige Zeit nach. Doch die Vermittlung erzeugte nicht allzu selten hier nur enzyklopädisches Wissen ohne jeglichen Bezug zu unserer eigenen Lebensrealität. Und solche „Allgemeinbildung“ ist höchstens auf Stehparties relevant, wenn man sich im Lichte seiner Gelehrsamkeit sonnen möchte…

Heutzutage gibt es Apps, die einen zum Speed-Reader werden lassen sollen; meine Erfahrungen und Erkenntnisse über das Lernen lassen mich jedoch erheblich daran zweifeln, dass solche Techniken auch zu einem tiefgründigen Textverständnis helfen, wie man es z. B. für wissenschaftliche Texte benötigt. Abgesehen von dem Maß an Kontemplation, welches Lesen bei „Normalgeschwindigkeit“ in mir auszulösen vermag. Aber was weiß ich schon… Es ist ein Gefühl, dass ich jetzt natürlich mit Studien zu unterfüttern versuchen könnte; aber für mein privates Blog soll genügen, dass ich das krankhafte Effizienz-Steigern für extrem schadhaft für den Lernprozess und die Seele halte. Auch, wenn ich keine Achtsamkeits-Seminare verkaufen muss.

Da haben wir nun also jede Menge Menschen, die nutzloses – weil nicht vernetztes und mit lebensweltlicher, praktischer Relevanz aufgeladenes – Wissen anhäufen und dies mit echter Erkenntnis verwechseln. Ein weiterführender Beweis, warum es überhaupt möglich ist, einen Begriff wie „alternative Fakten“ zu lancieren, ist damit unnötig. Ich muss allerdings gestehen, dass jene, welche die Notwendigkeit dieser Erkenntnis beträfe, hier wahrscheinlich nicht mitlesen. Sei’s drum. In jedem Fall sind wir damit dem Postmodernen von einer anderen Seite näher gekommen. Denn so, wie die „Erfinder“ des Begriffes die Fehler der Moderne als Versprechen entlarven und dekonstruieren wollten, re-konstruieren sich wenig demokratische Kräfte nun eine neue Erzählung der Moderne, obwohl ihre Methoden diese hinter sich lassen.

Denn, obschon die Neu-Rechten, die Identitären, die AfD und die Faschisten ohne Sammelbezeichnung alles daran setzen, ein Bild von der „guten alten Zeit“ herauf zu beschwören, ist ihr Weg einer in eine neo-kapitalistische, neo-faschistische, neo-korporatistische und ganz und gar technokratische Zukunft. Die haben kein Interesse am „kleinen Mann auf der Straße“. Die wollen Macht akkumulieren, um ihre verqueren Vorstellung einer „guten neuen Zeit“ unter dem Deckmäntelchen der Tradition auf allen Ebenen durchzusetzen. Und wenn denen das gelingt… hängen Typen wie ich, die vor ihnen warnen und mahnen, am nächsten Laternenmast.

Unser soziales und politisches Navi scheint kaputt zu sein. Die Moderne ist vom Beginn an damit beschäftigt gewesen, das Ende ihrer eigenen Geschichte zu schreiben, weil der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zwangsläufig auch die weniger charmanten Seiten des ungebändigten Homo Sapiens in die Freiheit entlässt. Ich will mit dieser Feststellung keineswegs Bestrebungen das Wort reden, dem Menschen seine Freiheit wieder zu nehmen, wie „konservative“ Politiker dies gerne tun. Man muss sich nur der Konsequenz bewusst sein: nämlich, dass die Moderne mit all ihren Errungenschaften irgendwann von ihrem Schöpfer wieder abgerissen wird.

Was wir als nächstes bekommen werden, weiß ich genauso wenig, wie irgendjemand anders auf dem Erdenrund. Wenn wir uns aber eine Chance auf die Bewahrung der bewahrenswerten Errungenschaften der Moderne erhalten wollen – Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialversicherung, etc. – dann müssen wir auf dem öffentlichen Markt der Meinungen als freiheitlich denkende Menschen nicht nur die besseren Argumente haben, sondern diese auch vehement vertreten. Sonst werden die Kräfte, die behaupten, unsere Lebensform – was auch immer das meinen mag – zu bewahren, aber doch nur Macht besitzen wollen, alles, was mir als Demokrat lieb und teuer geworden ist, verschlingen und als braunes Depositum wieder auf diese Erde scheißen. Das werde ich nicht erleben. Schönes Wochenende.

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One-man-show…?

Also ehrlich: es ist schon schön, wenn es Indikatoren dafür gibt, dass man gebraucht wird. Z. B. die eigenen Kinder, die einen frenetisch begrüßen, wenn man nach einem langen Tag nach Hause kommt, oder sich freuen, wenn man mal dazu kommt, sie selbst vom Hort abzuholen. Die Freude der Gattin über das Mittagessen, das zu Hause auf sie wartet, wenn man mal nicht Kernzeit arbeiten muss. Freunde, die sich Zeit für einen Spieleabend, ein Telefonat (>1h) oder ein Frühstücksgespräch nehmen. So kleine Dinge halt, die einem zeigen, dass man nicht alleine auf der Welt ist.

Und dann gibt’s die Momente, in denen man verflucht, dass man auch aus anderen Gründen und für andere Menschen, die wir mal Kollegen nennen wollen, wichtig ist: wenn man im Urlaub, im Krankenstand mit E-Mail, Telefonaten und Messenger-Nachrichten vom GmbH-Typ beglückt wird: „Geh mal, bring mal, mach mal, hol mal!“. Da könnt ich… OK! Ich bin natürlich zur Hälfte selbst dran schuld. Ich könnte ja auch einfach nicht drauf reagieren. Was allerdings bei manchen Menschen dazu führt, dass die Intensität der Anfragenflut noch größer wird. Weil geflissentlich davon ausgegangen wird, das Funktionsträger in Organisationen ihre Funktion immer und überall ausüben. Hierzu ein klares NEIN!

Und überdies eine Klarstellung: wenn ich morgens über den Hof gelaufen komme, beantworte ich keine Fachfragen oder Anforderungen, bevor ich nicht mindestens eingestempelt habe! Eigentlich wäre es für die Gesundheit der Nachfragenden gut, wenn sie mich erst meinen Kaffee trinken ließen; immerhin habe ich meine Affekte heutzutage halbwegs unter Kontrolle. Tote und Verletzte sind daher bislang ausgeblieben. Aber es nervt. Und das weiß man eigentlich so als Mensch auch. Doch die Idee von der ubiquitären Verfügbarkeit sozialer Dienstleistungen scheint sich irgendwie in die Gehirne meiner Kollegen geätzt zu haben.

Sitze ich dann im Büro und bin – OFFENSICHTLICH – auf etwas anderes konzentriert (könnte man am Blick auf den Bildschirm und der Bewegung meiner Finger auf einer Tastatur relativ simpel herleiten), kommen die lieben Kollegen hereingewalzt und fangen an, ohne Punkt und Komma auf mich einzureden. Ohne abzuwarten, ob ich jetzt gerade die zeitlichen und kognitiven Ressourcen für ihr Anliegen frei habe. NEIN – ich sitze nicht den ganzen Tag da und warte auf einen Partner für ein Schwätzchen. Es kann ab und zu mal vorkommen, dass ich mir Zeit für die informelleren Teile meiner Arbeit nehmen kann. Aber nur, wenn die anderen Dinge erledigt sind, oder etwas wirklich wichtig ist. Dann hat man aber trotzdem 30 – 60 Sekunden Zeit, zu warten, bis ich Kommunikationsbereitschaft signalisiere. Das hat was mit dieser altertümlichen Unart namens „Höflichkeit“ zu tun…

Besonders problematisch wird es jedoch, wenn Arbeit und Privates vollkommen entgrenzt werden, weil mich Erstere in das Letztere verfolgt. Z. B., wenn ich – für die Schnupfensaison vollkommen untypisch – mit einem wüsten Atemwegsinfekt auf der Schnauze liege, daher plötzlich nix mehr funktioniert, wie vorgesehen und ich mit fiebrigem Schädel von Zuhause aus Dinge managen muss, weil ich vorher schlicht keine Zeit hatte, einen Plan B für alle Fälle zu entwickeln. Mal davon abgesehen, dass das Ressourcen-Portfolio die frühzeitige Vorplanung für solche Eventualitäten schlicht nicht zulässt. Schade auch…

Ich mache im Moment einen auf One-man-show, weil das Projekt, mit dem ich nun betraut bin noch entwickelt wird und ich nebenher meinem bisherigen Arbeitsbereich am Laufen halten und dazu noch ab und an Blaulichtauto fahren muss. Ich sag’s wie’s ist: das klappt nicht immer ohne Reibungsverluste und Friktionen. Aber man hat bei meinem AG im Hause immer noch nicht vollständig begriffen, dass das Zeitalter der eierlegenden Wollmilchsäue vorbei ist. Endgültig!

Die Lehre, die ich für mich daraus ziehe ist Folgende: ich werde zumindest versuchen, für die Zukunft nur noch mit einem Plan B zu disponieren. Alles, was keinen Plan B zulässt, sollte nicht realisiert werden, weil es sonst hinterher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur unangenehme Fragen und lange Gesichter gibt. Und ein vollkommen ausgebranntes Ich – hatt‘ ich schon, brauch ich nich‘ noch mal. Ich bin mir ziemlich sicher, ähnliches schon mal geschrieben zu haben, doch im Moment nervt mich vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der man annimmt, dass ich zur Verfügung stehe, obwohl ich KzH bin. Na ja, ab Januar wird alles besser. So wie jedes Jahr. Au revoir.

Kunst-Demokratie?

Manchmal ist meine Artikelauswahl auf einschlägigen Webportalen großer Zeitungen recht eklektisch; manchmal durch die Paywall diktiert, weil ich vielleicht doch zu geizig bin, jedes Blatt zu abonnieren und manchmal durch mein verquere Art, die Welt und damit auch ihre Zeitungen zu lesen. Wieder einmal ist jedenfalls „Zeit Online“ schuld, weil die einen Artikel über die Forderung nach Mitsprache bei der Auswahl der Exponate namhafter Museen gebracht haben. Klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich interessant, spannend, oder gar verfänglich, nicht wahr…? Und da sage ich einfach : au contraire, mes amis!

Die Frage nach dem, was Museen ausstellen wollen bzw. dürfen berührt die Frage nach dem Kern von Kunst – nämlich ihrem Wesen und ihrer Bedeutung für die Menschen. Kunst hat weniger etwas mit oberflächlichem ästhetischen Empfinden zu tun, sondern mit der Kapazität eines Werkes – gleich welcher Art – mich zu irritieren und so zum Nachdenken anzuregen. Kunst muss nicht hübsch oder schön sein, oder gar auf den ersten (oder auch zweiten) Blick zugänglich. Kunstwerke können das sein; sie müssen es jedoch nicht! Doch die Aufgabe von Kunst ist eigentlich, einen Rückbezug auf die grundlegenden Fragen des Mensch-Seins zu ermöglichen. Wie sie das tut, ist immer neu, da sie dabei stets auch den Zeitgeist reflektiert. Dies mag Manchem jetzt sehr theoretisch erscheinen, aber vielleicht schauen wir uns einfach ein Beispiel an…

Die „Kopie“ des Holcaust-Mahnmals in Berlin, welches die Aktivisten vom „Zentrum für politische Schönheit“ in Eichsfeld Herrn Höcke vor die Tür gesetzt haben, spaltet die Geister mindestens ebenso sehr, wie das Original. Ist das eine Kunst und das andere nicht? Und falls ja, welche Form davon? Insbesondere unter dem Aspekt, dass nämlicher Herr Höcke das Original als „Denkmal der Schande“ bezeichnet hat. Wie wurde doch die Ambiguität dieser Aussage diskutiert. Sehen wir uns mal ein Gegenbeispiel an, dass vermutlich fast jeder kennt: Leonardo Da Vincis „Mona Lisa“. Zweifellos eines der bekanntesten Kunstwerke der Welt. Doch was macht es zu Kunst? Es handelt sich um ein Porträt, dessen ästhetischer und kunsthistorischer Wert, insbesondere im Vergleich mit anderen Meistern seiner Zeit als unbestritten gilt.

Doch sind die Schöpfungshöhe, die notwendigen handwerklichen Fertigkeiten, die Planung und schließlich die Kraft der Reflexion, welche es beim Betrachter auslöst, mehr wert, als bei den Arbeiten in Berlin, oder der Kopie in Eichsfeld? Die ja letzten Endes, ein politisches Statement darstellt und damit sehr viel größeren Bezug zu unserer aktuellen Lebensrealität hat, als das Porträt einer seit Jahrhunderten verstorbenen Dame? Ich kann und will diese Fragen nicht für andere Menschen beantworten, ich kann aber für mich selbst klar sagen: beides ist Kunst, die in ihrem jeweiligen Kontext gesehen werden muss!

So wie Kunst den Zeitgeist aufnimmt, reflektiert, interpretiert und wieder ausspeit, nimmt sie damit auch Einfluss auf das Mensch-Sein – und somit auf soziale, politische und wirtschaftliche Umstände. Sie tut dies vielleicht sehr subtil, aber die Wirkung ist da. Wenn nun Menschen den Anspruch erheben, auf das Einfluss nehmen zu wollen, was dargestellt / ausgestellt wird, so versuchen sie damit Einfluss auf das Mensch-Sein an sich zu nehmen. Ein Anspruch, dem ich aus vollem Herzen entgegnen möchte: NEIN! Weil, auch wenn dieser Umstand vermutlich vielen Menschen verschlossen bleibt, Kunst ein Bereich unseres Leben bleiben muss, der allzeit – zumindest in Teilbereichen – frei vom Zugriff der unmittelbaren ökonomischen Verwertbarkeit ist; und der alles, was da Kunst ist, allen Menschen zugänglich machen können soll.

Mir ist bewusst, dass , um es mit Adornos und Horkheimers Worten zu sagen – eine Kulturindustrie existiert, deren Funktionen tatsächlich frappierende Ähnlichkeit zu den Ausführungen in der „Dialektik der Aufklärung“ aufweisen. Insofern ist der ökonomische Zugriff auf kulturelles und damit auch künstlerischen Schaffen leider in vielerlei Hinsicht gegeben. Und dennoch bleiben jene Bereiche, in denen Kunst tut, wozu sie gut ist: mich irritieren, zum Nachdenken, im besten Fall sogar zum Handeln anregen, sofern dies angezeigt ist. Wenn Menschen nun fordern, dass nur bestimmte Dinge gezeigt werden sollen und andere nicht, so stellte dies – gäbe man diesen Ansprüchen überall nach – eine Verarmung unserer Kultur dar. Man könnte denen nun verschiedene Motive unterstellen: manche Kunstwerke sind sicherlich nicht leicht anzuschauen oder gar zu ertragen, also wäre es möglich, dass diese Menschen einen leichteren Zugang zu Kunst haben möchten.

Es könnten auch pekuniäre Aspekte dahinter stehen. Künstler, die öfter in großen Häusern wie der Tate Modern in London oder dem Museum of Modern Art in New York ausgestellt werden, erzielen alsbald höheren Marktwert. Vielleicht hat da jemand schon ein, zwei Stücke im Lager liegen und möchte einen Reibach machen? Oder man versteht, dass es Menschen gibt, welche die politische Sprengkraft fürchten, die Kunst bisweilen hat. Und die um keinen Preis in ihrer Agenda gestört werden möchten. Und dann gibt es noch jene, die in ihrem falschen Verständnis von „political correctness“ alles aus der Welt bannen möchten, was sie irritiert. Was für ein armseliges Verständnis von Kunst. Aber vermutlich haben die Wenigsten die Zeit und Muse, sich hierüber Gedanken zu machen, weil’s ja einfacher ist, zu konsumieren, als zu reflektieren; aber eigentlich mache ich mir die Mühe ja vor allem für mich selbst. Und Tschüss!

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Postmoderne Gedanken N°3 – öffentlich vs. privat

Öffentlich ist, wenn ich’s so mache, dass alle zukucken können – oder? Also, egal was, meine ich. Nun könnte man entgegnen, dass manche Dinge nicht in die Öffentlichkeit gehören. Liebe an und für sich z.b. – also Masturbation. Und sicher fallen jedem einige Dinge ein, die er nicht so gerne öffentlich, oder noch besser veröffentlicht sähe. Das liegt u. U. daran, dass wir stets versuchen, eine positive Geschichte unseres Selbst zu erzählen. Und da empfinden wir bestimmte Bilder eben als störend im Storyboard. Im Gegenzug versuchen wir natürlich, uns im besten Lichte strahlen zu lassen. Und hier gibt es – wie stets im Leben – ein Gleichgewicht, dass allzu schnell in die Toxizität abgleiten kann; zu wenig offenbart einen Mangel an Selbstwertgefühl, zu viel eine Narzisstische Störung. Das Erste quält vor allem einen selbst, das Letztere die Mitmenschen.

Was für den Menschen als Individuum gilt, hat auch für Organisationen Bedeutung. Zumindest insofern, als jedes komplexe Konstrukt, in dem viele Menschen an irgend einem Ziel zusammenarbeiten irgendwann die Legitimitätsfrage gestellt bekommt, oder sich diese selbst stellt. Bei einem Industrieunternehmen ist die Frage leicht zu beantworten: es geht darum, Geld zu verdienen. Da hängen Existenzen dran. Macht das Ding Kohle und verteilt diese halbwegs gerecht an alle Teilnehmer, ist alles Tacco, wie ein Kollege von mir sagen würde. Problematisch wird es hier höchstens, wenn das mit der Verteilungsgerechtigkeit nicht (mehr) funktioniert. Kann man im Moment überall in den entwickelten Industrienationen beobachten. Doch dazu später mehr.

Wie ist es mit behördlichen Institutionen? Ämter, auf denen man all diese staatlichen Dienstleistungen abrufen kann/muss, welche die Verwaltung einer Nation mit ca. 82 Millionen Menschen darin so mit sich bringt. Ich meine – Politiker werden in ihre Ämter gewählt, was eine recht direkte Form von demokratischer Legitimierung mit sich bringt. Aber die Sachbearbeiterin im Ordnungsamt? Kurz gesagt: mit dem Entstehen moderner, säkularer Staatswesen, mit welchem ein enormes Wachstum und damit die Notwendigkeit leistungsfähigerer Verwaltungen einher ging, entstand die Bürokratie als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem, welches sich nicht nur selbst erhält (Autopoiese) sondern auch seine eigene Legitimität produziert (vgl. hierzu Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit). Das Amt macht also, dass das Amt sein muss. (Falls irgendjemand jetzt noch nicht verstanden hat, warum wir eine so ausufernde Steuergesetzgebung haben, kann ich leider auch nicht mehr helfen).

Warum nun so kompliziert Dinge herleiten, die man doch aus dem alltäglichen Leben kennt? Nun, kennen und verstehen, insbesondere das Verstehen der Zusammenhänge sind immer zwei Paar Stiefel. Und bezüglich dieser Zusammenhänge wird es haarig, wenn wir uns Private-Public-Partnerships anschauen: die öffentliche Hand (legitimiert sich selbst durch Notwendigkeit der Verwaltung) und Privatunternehmen (legitimieren sich durch Gewinnoptimierungs-Absichten) arbeiten zusammen, um Geld zu sparen. Aus unternehmerischer Sicht immer Win-Win, denn dem utilitaristischen Prinzip folgend stehen die Regularien des Staates (der ja zuvorderst den Interessen seiner Bürger verpflichtet sein soll) beim Geldverdienen im Weg. Arbeite ich mit dem Staat also direkt zusammen, habe ich (un)mittelbaren Zugriff auf diese dämlichen Regularien. Oder einfacher formuliert: mit PPPs öffne ich die Tür für die Lobbyisten so weit, dass diese mit dem Laster ins Rathaus einfallen und alles abräumen können, was ihnen in den Kram passt.

Bürokratie-Abbau, Lockerung der Arbeitnehmerschutzgesetze, verbilligter Zugang zu Energie und anderen Ressourcen, etc. Das sind zumeist die wahren Gründe, warum Unternehmen ein bisschen Kohle in die Hand nehmen und zusammen mit staatlichen Institutionen irgendwelche Projekte machen – und dafür auch noch eine positive Mediendarstellung bekommen. Doch altruistisch ist an solcherlei Aktionen gar nichts. Direktes Mäzenatentum steht im krassen Gegensatz dazu. Dabei wird, zumeist durch Stiftungen Geld für öffentliche Projekte bereit gestellt, ohne das eine Leistung durch ein gemeinsames Unternehmen generiert werden soll. Und so mancher Unternehmer kommt seiner sozialen Verpflichtung, wie sie unser GG bestimmt, in hohem Maße nach. Mit Sicherheit spendet ein Herr Dietmar Hopp auch deshalb nicht unerhebliche Teile seines Privatvermögens, weil es seinem individuellen Narrativ und damit ihm selbst gut tut; wahrscheinlich mag er auch die positive Publicity.

Was nun die Verteilungsgerechtigkeit angeht: eben PPPs verschlechtern diese in vielen Fällen, weil die Teil-Privatisierung vormals staatlicher Leistungen zumeist mit der Unterwerfung dieser Dienstleistung unter das Primat des Marktes einher geht. Insbesondere das Gesundheitswesen leidet, seit der marktwirtschaftlichen Wende Mitte bis Ende der 90er des letzten Jahrhunderts, unter einer Dehumanisierung und qualitativen Verschlechterung seiner Dienstleistungen für jene, die nicht extra zahlen können. Et voilá: Zweiklassen-Medizin.

Ich muss hier nicht explizieren, an welchen anderen Stellen derlei Auswirkungen noch zu beobachten sind. Ich empfehle an dieser Stelle zwei Buchtitel: Michael Sandel „Gerechtigkeit“ und Colin Crouch „Postdemokratie“; und überdies bitte ich darum, sich selbst via Recherche ein Bild zu machen. Ich kann für mich sagen, dass ich PPPs zutiefst misstraue, weil ich stets unlautere Absichten unterstelle. Ich mag mich ab und an irren, aber in der Gesamtschau muss man demgegenüber kritisch bleiben; denn es geht hier oft nicht um Bürokratie-, sondern um Demokratie-Abbau! Schönen Tag noch.

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Asketische Alternativen…?

Man muss so einen Blog-Beitrag auch mal mit einem Geständnis beginnen dürfen: ich bin ein Genussmensch! Ich konsumiere gerne leckere Dinge. Was lecker ist, definiere ich selbstverständlich nur für mich, jeder andere darf gerne seine eigene Definition haben! Allerdings ist eine solche Haltung – weil im Kern libertär – heutzutage eine ziemlich einfache Möglichkeit, sich der Verdammung anheim zu geben. Also, jetzt nicht der Göttlichen. Mehr so der, die man auch unter dem Begriff „Shitstorm“ kennt. Denn „Verzicht“ ist eines der neuen goldenen Wörter unseres Zeitalters. Zusammen mit „Nachhaltigkeit“ und „Umweltschutz“ bildet es die heilige Trinität des „Guten Lebens“. Zumindest in der Diktion Mancher. Und wenn man sich öffentlich dazu bekennt, sich nicht in allem einschränken zu wollen…

Man möge mich bitte nicht falsch verstehen. Ich stehe voll hinter den „Fridays for Future“; ich hoffe auf eine noch schnellere Umsetzung der Energie- und Mobilitäts-Wende und versuche mein Teil dazu zu tun. Aber, bigott, wie ich als mittelalter weißer Mann nun mal bin, nehme ich mir frech das Recht heraus, dennoch dem einen oder anderen Genuss zu huldigen. Auch heute noch! Reden wir dabei dieses Mal nicht über das Essen, sondern über das Trinken. Auf Zeit Online fand ich heute einen Artikel über Alternativen zu Schnaps. Also quasi harte Drinks mit ohne!

Nun ist der Schaden, welchen Alkohol an der Volksgesundheit anrichtet, unbestreitbar. Jedes Jahr sterben viele Tausend Menschen an den Folgen zu intensiven Konsums. Immer wieder verursacht das „über die Stränge schlagen“ junger Menschen Ärger, aber auch Elend und Tod, weil das Ingestieren von C2H5OH nun mal enthemmt; manchmal in einem Maße, dass üble Probleme mit sich bringt. Es ist ja aber nicht so, dass neben jedem Konsumenten einer mit gezogener Waffe steht und befiehlt: „SAUF, BIS ES VORBEI IST!“. Wir reden von einer Entscheidung die Menschen mehr oder weniger bewusst treffen. Und wie das mit uns Menschen so ist – wir treffen regelmäßig falsche Entscheidungen.

Eines der Hauptargumente für staatlichen Paternalismus, auch bekannt als „Verbots-Wahn“ ist, den Bürger vor sich selbst schützen zu wollen und zu müssen. Letztlich geht dieses staatsphilosophische Verständnis auf Thomas Hobbes „Leviathan“ zurück. „Homo homini lupus“ – „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“; und muss folglich eingehegt werden, damit der Staat als Ganzes gedeihen kann. Das besorgen auch heute noch Gesetze, die im Grunde dazu gemacht sind, uns Menschen voreinander, aber manchmal eben auch vor uns selbst zu schützen. Selbstverständlich weckt dieses – zugegeben etwas begrenzte – staatstheoretische Verständnis den Wunsch, auch Genuss zu limitieren, sofern er dem Volke zum Nachteil gereichen KÖNNTE. Et voilá: Prohibition. Wie gut DAS funktioniert hat, kann man gerne in den Geschichtsbüchern nachlesen.

Wie wäre es, wenn man, anstatt den Zugang zu etwas zu limitieren, die Konsequenzen aggraviert: du wolltest Komasaufen und jetzt sitzt wegen dir jemand im Rollstuhl? Ab in den Knast; oder noch besser 3000 Sozialstunden im Pflegeheim. Würden wir, so als Gesellschaft, beschließen, dass sich mit Ansage zu betrinken auch inkludiert, dass alle Untaten, die im folgenden Vollrausch begangen werden damit automatisch Vorsatz-Taten sind und auch demgemäß bestraft werden, würde die Zahl solcher Delikte recht bald drastisch zurückgehen, weil das Maß und die Umstände des Konsums plötzlich wichtig würden. Könnte für andere Rauschmittel ebenso gelten. Wenn ich dann noch für die mittelbaren Konsequenzen des Konsums, wie etwa medizinische Probleme eine anteilige Haftbarkeit übertragen bekäme – was übrigens auch mich beträfe, denn ich trinke ja auch ab und an Alkohol – überlegte ich mir sehr gut, wie viel ich den in welchem Zeitraum trinken wollen würde.

Um auf den Artikel auf ZON zurück zu kommen: offenkundig sind die Alternativen zu Schnaps gar keine, weil sie schauderhaft schmecken. Überdies hat irgendein Kommentator sinngemäß geschrieben, dass er vor allem wegen der berauschenden Wirkung trinkt (anonym kann man so einen Spruch schon mal raushauen) und spätestens dann muss ich wohl zum Original greifen. Ich selbst trinke Alkohol (auch Schnaps), weil’s mir schmeckt und ich habe, sofern ich zum gegebenen Zeitpunkt keinen Verpflichtungen mehr nachkommen muss, auch kein Problem mit dem Rausch. ich habe vor langer Zeit gelernt, wie viel OK ist und übertreffe diese Grenze nur sehr, sehr selten. Vielleicht ein mal im Jahr.

Ich will diese Entscheidung über meinen Genuss und etwaig damit einhergehenden Kontrollverlust aber selbst treffen dürfen, weil es – meinem Empfinden nach – gegen Art. 2, Abs. 1 GG verstieße, mir diese Entscheidung durch ein Gesetz abnehmen zu lassen; auch wenn das missionarische Geifern mancher Menschen danach verlangt. Eben an jener Stelle im GG ist ja auch meine Pflicht niedergelegt, Anderen durch mein Tun keinen Schaden zuzufügen. Welchen Schaden ich mir selbst zufüge, darüber denke ich mehr als genug nach und betrachte es daher als meine Privatsache. Und wenn ich dafür irgendwann später vom Leben, den Sozialkassen oder sonstwem haftbar gemacht würde, so wäre dies legitim und ich würde mich fügen. Bis dahin gilt jedoch für mich beim Trinken, das Askese in der oben beschriebenen Form keine Alternative für mich ist. Wenn jemand das anders sieht, darf er das gerne tun und seine Meinung für sich behalten. Sie interessiert mich in diesem Zusammenhang nicht. Schönen Tag.

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Wechselbäder

Ich wünschte, mir wäre humorig zumute, doch dies ist nicht der Fall. Ich versuche ja immer, meine eigenen kleinen Verstimmungen auf die leichte Schulter zu nehmen; funktioniert mal so, mal so. Aber im Mittel läuft in meinem Leben eigentlich alles geschmeidig. Eigentlich… Wenn ich jedoch im Moment an meine Kinder denke, könnte ich die glatte Wand hochgehen. Die eine ist dauernd bockig, weil sie – eben in die Grundschule gekommen – ernsthaft glaubt, dass Mama und Papa keine Autoritäten mehr sind. Wobei „mehr“ da eher so eine Floskel im Satz ist. Eigentlich hat sie das nämlich noch nie so recht akzeptieren können. Aber im Moment ist so richtig Bambule. Und ihre große Schwester? Die hat Stimmungsschwankungen, die selbst mich als Depressionserfahrenen ratlos zurück lassen.

Um an dieser Stelle eines vorweg zu nehmen: ich brauche und will keine Erziehungs-Ratschläge. Die Besten bekommt man ja üblicherweise von Leuten, die keine Kinder haben. Und die dürfen jetzt alle – mit Verlaub – bitte die Fresse halten, weil sie einfach NULL Ahnung haben.

Morgens ist man also der Papa, der genauso lieb gehabt wird, wie er ist… und Abends, wenn man die Härte des Lebens (vulgo Hausaufgaben) durchsetzen muss, ist man das böse Arschloch. Was man da vorgeworfen bekommt, spottet der Beschreibung und manchmal auch der Realität. Zumindest meiner. Aber wie war das noch mal mit dem 3. Axiom nach Watzlawick: der Empfänger macht die Botschaft? Und was sie denkt und fühlt, ist halt IHRE Realität. Wir haben hier also offensichtlich ein Missverständnis am laufen und es gibt keine Möglichkeit, dieses aufzulösen. Ganz gleich, welche – für mich durchaus emotional nachvollziehbaren – Argumente und (Zu)Geständnisse ich nutze; es bringt einfach nichts, denn das Kind will mich hassen. Bis es dass nächste Mal kommt, weil es kuscheln möchte.

Da stehe, sitze, liege ich nun und weiß irgendwie nicht recht weiter. Ist das quasi der normale Beginn dieses Eltern-Kind-Wahnsinns, den man gemeinhin als Pubertät bezeichnet? Eigentlich ist sie dafür noch zu jung, aber was weiß ich schon darüber. Ich hatte zwar selber mal eine, aber die ist verdammt lang her. So knapp 30 Jahre. War ich da auch so? Keine Ahnung, vermutlich schon. Meine Mutter kann ich zwar fragen, aber das Gehirn neigt ja dazu, die Vergangenheit zu verklären; positives Selbstbild und so. Also bleibt die Erkenntnisausbeute dabei eher dürftig. Ratgeber-Bücher lesen? Um Gottes Willen, never ever. Da lande ich womöglich bei irgend so einem Skandinavier, der die Kindheit als Heiligtum verklärt, um dann bei der feierlichen Deklamation der kindlichen Menschenrechte geflissentlich zu vergessen, dass es unsere Aufgabe als Eltern ist, Grenzen zu setzen, damit sich die Blagen nicht aus Versehen töten.

Wir haben uns für unsere Kinder bewusst entschieden. Und ich stehe immer noch dazu, weil ich denke, dass wir durch sie etwas Positives in die Welt zurückgeben können. Wenn die sich nicht gerade so aufführen, wie eben jetzt. Ich mache kein Yoga und diesem ganzen Achtsamkeits-Wahn stehe ich eher reserviert gegenüber. Also atme ich bei solchen Gelegenheiten wie vorhin tief durch die Hose und versuche mich daran zu erinnern, dass ich eigentlich an Güte und Gerechtigkeit glaube. Fällt mir momentan zwar schwer, aber es hilft, wenn man es mit ein wenig physischem Abstand kombiniert und der Angelegenheit ein Weilchen zum Abkühlen gibt. Funktioniert ja auch bei Gussstahl.

Gott hat Humor – nicht weil er, wie Hagen Rether mal bemerkte, die Meerschweinchen gemacht hat – sondern weil er etwas, dass am Anfang so süß und Unschuldig daher kommt, wie ein Baby, mit einem Nukleus der Boshaftigkeit versehen hat, der sich immer bei Reibung entzündet. In meinem Geiste sitzt ER an einer Art himmlischem Fernseher und lacht sich gerade scheckig über meine nur langsam verrauchende Wut. Drauf geschissen. Mein Kind bleibt mein Kind auch wenn sie mich gerade mal wieder hasst. Wenigstens noch für eine Weile kommt sie ja irgendwann wieder kuscheln. Wenn’s damit allerdings auch vorbei ist, ziehe ich vielleicht lieber für zwei, drei Jahre ganz in mein Arbeitszimmer, damit ICH niemanden töte. Schönen Abend noch.

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