Verwirrtes Herz…

Es gibt Momente im Leben, die man nicht vergisst. Viele Menschen können sich zum Beispiel genau daran erinnern, wo sie am 11.09.2001 waren, als jene grausigen Bilder über die Mattscheiben flimmerten und offiziell davon kündeten, dass die Zeit des Wegschauens vorbei war. Das ist natürlich ein öffentliches Beispiel, weil ich kaum in die Köpfe so vieler Menschen hinein sehen kann, um zu wissen, was jeden einzelnen in seinem tiefsten Innern bewegt. Ich wollte eine solche Kraft auch gar nicht, denn mit ihr ginge große Verantwortung einher. Aber mir ist bewusst, dass jedes menschliche Wesen Erfahrungen macht, auf die es lieber verzichtet hätte.

So trägt ein jeder ungesehen und unbeachtet sein eigenes Bündel von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr und ganz gleich, WO wir auch hingehen mögen, die Last der vorangegangenen Tage ist immer schon da. Wartet auf uns, wie eine alte Wolldecke auf der heimatlichen Couch, bereit uns einzuhüllen, um uns zuvorderst daran zu erinnern, woran wir gescheitert sind… und warum. Eigentlich ist die Erinnerung an die eigenen Fehler ja nur ein Schutzmechanismus unseres Gehirns, um uns davor zu bewahren, in genau diese Falle noch mal zu tappen. Doch manchmal sind wir einfach zu blöd, die Chiffren unseres eigenen Hirns zu entziffern.

Und manchmal kommen auch einfach neue Fehler hinzu; getreu Donald Ducks altem Motto „Aus Fehlern wird man klug, drum ist einer nicht genug!“. Als Mensch ist mir die Erfahrung, neue Fehler „zu erfinden“ nicht unbekannt. Doch natürlich besteht unsere Sammlung solch mächtiger Bilder nicht nur aus Schnappschüssen unserer Fehler, sondern eben auch aus Wahrnehmungen, die so gewaltig sind, dass sie sich gleichsam in unser aller Gedächtnis graben. Wie eben die zusammenstürzenden Twin Towers…

Gelegentlich teilen wir diesen mentalen Ballast, in der vagen Hoffnung, dass er dadurch leichter würde – geteiltes Leid sei halbes Leid, sagt man. Ob das stimmt? Ganz ehrlich – Ich weiß es nicht. Dennoch ist es mir in diesem dunklen Augenblick ein Bedürfnis, meine Trauer in Worte zu fassen, da ich rational natürlich absolut verstehe, was gerade passiert ist. Doch emotional… da stehe ich vor einem Trümmerfeld, dass ich erst sortieren muss, bevor ich es verstehen kann…

Mein Mutter ist gestern Abend (also genauer vor wenigen Stunden) gestorben. Ich kann nicht sagen, dass man es die letzten Tage nicht kommen sehen konnte. Mir ist auch bewusst, dass es für sie einen Frieden bedeutet, den sie hier auf Erden nicht mehr finden konnte. Und doch… bei all meiner beruflichen Erfahrung im Umgang mit dem Leiden und dem Tod, haut es mich um. In mehr als nur einer Hinsicht bin ich erschöpft und erschüttert. Ohne das hier weiter thematisieren zu wollen, oder zu können: es gibt ein paar Menschen, die ich auf den Mond schießen könnte. Und wiederum andere, die sich einmal mehr als so wertvoll erwiesen haben, dass ich mein Glück kaum fassen kann.

Ich weiß nicht, ob ich der Sohn war, den sie gewünscht oder verdient hatte. Aber ich bin mir sicher, dass alles irgendwann gut wird; denn wohin auch immer der Weg von nun an führen mag – ich bin bereit ihn zu gehen, loszulassen und das Leben, welches gelebt wurde genauso zu feiern, wie jenes, dass auch weiterhin gelebt werden wird. Mögen die guten Erinnerungen nicht verloren gehen. Denn über die Gegangenen schlecht zu reden, zeugt bestenfalls von der eigenen Schlechtigkeit. Ich wünsche uns allen Frieden und eine verheißungsvolle Zukunft.

Amen

Erwachsen bilden #14 – Schulstress?

Das Leben als Schüler oder Auszubildender ist nicht einfach. Man ist – mal mehr, mal weniger – ständig einem Erwartungsdruck ausgesetzt. Allein der Gedanke an die Abschluss-Prüfungen lässt manchem Probanden den Magen flau werden, sind doch zumeist unfassbar viele Faktoren damit verknüpft,die auf den weiteren Lebensweg wirken könnten. Ich sage bewusst „könnten“, weil insgesamt gar nicht so sicher erscheint, dass eine einmal getroffene Entscheidung soviel Wirkmacht auf Wohl und Wehe unserer Existenz hat.

Das mit dem Druck beginnt manchmal ja schon vor der allgemein bildenden Schule. Einmal mehr bin ich über einen Artikel auf Zeit Online gestolpert, der exzellent illustriert, welche Denke mittlerweile den Umgang mit Schule und Ausbildung dominiert schneller, höher, weiter, besser, mehr… Und mit gewisser Beunruhigung musste ich in einem Moment der Selbstreflexion feststellen, dass meine Frau und ich als Eltern nicht selten einem ähnlichen Druck anheim fallen und unsere Kinder „knechten“, wenn es doch besser wäre, den Dingen gelassener entgegen zu sehen. Keine andere Bevölkerungsgruppe hat in der BRD anscheinend so viel Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg, wie der so genannte Mittelstand, zu dem wir als Familie uns – im krassen Gegensatz zu Friedrich Merz – zählen dürfen.

Was ist denn die Konsequenz, wenn die Bildungskarriere nicht straight zu Einser-Abi führt? Endet man dann als Heizer auf einem panamaischen Seelenverkäufer, als eingesperrter T-Shirt-Näher in Bangladesch oder als LKW-Fahrer im Hindukusch? Und falls ja, warum erscheint uns dieses „Schicksal“ so dramatisch? Seien wir mal ehrlich – selbst wenn ich in der BRD ins soziale Netz fiele, ginge es mir objektiv immer noch wesentlich besser, als den vorgenannten Menschen. Und doch haben wir so entsetzliche Angst davor, als Versager zu gelten, wenn wir es uns nicht Kraft Abschluss aussuchen zu können, wer oder was wir sein wollen. Die Saat der meritokratischen Illusion ist vollends in uns erblüht. Wir sollten uns folgende, einfache Tatsache ins Gedächtnis rufen: Diesen Luxus haben die allerwenigsten Menschen auf diesem Planeten!

Der eine oder andere mag sich fragen „Und was hat das nun mit dem sonstigen Thema „Berufsbildung“ an dieser Stelle zu tun?“. Es ist eigentlich ganz einfach: wir sollten uns einmal über Erwartungshaltungen unterhalten. Über Lernziele und den Druck, den wir in den jungen Leuten aufbauen; leider oft genug, ohne diesem geeignete Ventile zum Abbau zu verschaffen. Denn schon in der Berufsschule beginnt der Kampf – Noten. Sie sind dazu gemacht, einander zu vergleichen und eine Taxonomie zu generieren, die letztlich nur dazu geeignet ist, Folgendes auszusagen: „DU bist schlechter als ICH!“; oder vice versa. Exzellente Voraussetzungen, um die lern- und improvisationsfähigen, lebensklugen, empathischen, stressfesten Sanis zu erzeugen, die wir uns doch so sehr wünschen, oder…? Oder…?

Wir haben uns so sehr in Regularien, Curricula, Evidenz, Leistung und deren Messbarkeit vergraben, dass wir manchmal nicht mehr sehen, was das wahre Kernstück unseres Berufes ist: wir sind Menschen, die mit Menschen an Menschen für Menschen arbeiten! Und eben nicht nur Vitalparameter-Maschinisten, Logistik-Manager, Rennfahrer und Algorithmen-Puzzler. Doch genau das erzeugen die Schulen landauf, landab im Moment: junge Menschen mit der Mission, den ganzen technokratischen Krempel auch endlich anwenden zu dürfen; leider oft genug jedoch ohne einen Plan, wie man abseits der „Handlungsempfehlungen“ handlungsfähig im Sinne des Patienten bleibt. Denn neben dem ganzen Wissen um Notfallmedizin wird auch die allseits dominante ökonomische Logik mit indoktriniert. Der Mensch ist in der Humanmedizin heutzutage oft genug nicht mehr als ein 62-prozentiger Wassersack mit einer Kontonummer drauf.

Indem wir die Lehre mit Druck betreiben, bereiten wir unsere zukünftigen Kolleginnen und Kollegen auf ein Leben unter Druck vor, denn letztlich ist klar, wohin unser Gesundheitswesen im Moment steuert: noch mehr Arbeitsverdichtung, noch weniger Humanität, noch mehr Controller, anstatt Menschen. Und der NotSan wird Aufgaben zugewiesen bekommen, die heute noch gar nicht absehbar sind, weil er zu einer, beliebig vor Ort einsetzbaren, sozial-medizinisch-psychatrischen Feuerwehr umgebaut werden wird. Ist billiger, als überall Ärzte hinzuschicken. Und obendrein ist das Personal schneller ausgebildet. Über den Verschleiß macht sich dabei kaum einer Gedanken.

Wie wäre es, wenn wir als Ausbilder uns dafür einsetzen, eine eigene Disziplin zu begründen, Rettungsdienst als eigenes Forschungs-, Wissens- und Ausbildungs-Fach zu betreiben und uns so von den Interessen Dritter zu emanzipieren? Jener, die uns eh nur als unangenehmes, aber leider notwendiges Anhängsel betrachten, dem man besser nicht zu viel Freiraum gibt, weil es sonst womöglich auf eigene Ideen kommt. Lasst uns genau das tun: eine Disziplin begründen, die eigene Wege gehen und vor allem ihre Auszubildenden besser zu behandeln vermag. Sapere aude im besten Sinne Kants! Das wäre doch mal ein Projekt… Ach ja – gibt’s ja schon! Schaut doch mal bei der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft im Rettungsdienst vorbei. Wir würden uns freuen!

Auch zum Hören…

Der verwirrte Spielleiter #17 – Go down in style!

Ja verdammich – jetzt sind wir in den „New Roaring Twenties“, da müssen wir doch auch was für den Stil tun, oder? Immerhin waren die 20er des 20. Jahrhunderts sowas wie die Initialzündung eines neuen Individualismus. Abseits solcher real-weltlicher Betrachtungen sind der jeweilige visuelle Stil und das Setting im Pen&Paper natürlich untrennbar miteinander verbunden. Ansonsten würde es für die Verlage wenig Sinn machen, eigene Art&Design-Abteilungen zu unterhalten. Wobei deren Arbeit im Zusammenspiel mit dem Fluff der Regelwerke natürlich für Bilder in unseren Köpfen sorgen soll. Die Gamedesigner möchten ihre Vorstellungen schließlich zum Spieler transportiert wissen.

Eine Welt voller rosa Knuddeleinhörner, in der sich Vampirclans übelst bekämpfen, klingt wahrscheinlich nicht nur für mich ein bisschen kontraintuitiv… Damit sei gesagt, dass man stets nach einer Passung zwischen visuellem Stil und Setting sucht. Nicht selten werden dabei Stereotypen bemüht, die manchmal doch schon ein bisschen Rost angesetzt haben. Natürlich wirkt „The Matrix“ auch heute noch ziemlich frisch; doch seien wir mal ehrlich: das Lack und Leder-Thema für den Cyber-Punk ist mittlerweile schon ein bisschen abgedroschen, oder? Ach ich kann in meinem Hinterkopf das große „ABER…“ aufbranden hören. Und natürlich war der Film – zusammen mit diversen Animes und Coverart – auch für meine Vorstellungen diesbezüglich stilbildend. Und doch… doch bleibt die Frage, ob’s auch noch anders geht.

Ich gestehe, dass ich ganz gut im Geschichten-Entwickeln und Erzählen bin. Meine visuellen Skills sind jedoch eher begrenzt, so dass ich mir meine Anregungen im Netz suchen, oder meine Frau um Unterstützung mit dem Zeichenstift bitten muss. Und an dem, was da gesprochen wird, beweist sich einmal mehr, dass ein Bild aus meinem Kopf nicht so leicht in einen anderen hinüber gelangen kann. Aber vielleicht ist das ja einer der Hauptreize am Pen&Paper? Das die Geschichte in jedem beteiligten Kopf ein Eigenleben hat, dass sich u. U. von den Vorstellungen der anderen an manchen Punkten gravierend unterscheidet. Und ziehen wir mal den Bereich der Fan-Art mit in Betracht, ist es höchst wahrscheinlich, dass ich bei weitem nicht der Einzige bin, in dessen Kopf die Geschichten zwischen den einzelnen Sitzungen – manchmal auf recht auf schräge Weise – weiter gesponnen werden. Und das ist auch absolut legitim. Jeder hat schließlich ein Recht auf seine Fantasie.

Nun ist es so, dass sich in solchen Side-Stories das Bild, dass man von seinem Charakter hat, ausdifferenziert und weiter reift. Bei Chars, die mehr als nur ein paar Mal gespielt werden, entsteht dabei mit der Zeit eine gewisse Verbundenheit mit der Figur. Und so, wie wir auch im echten Leben einen gewissen Stil entwickelt haben – Kleidung, Musikgeschmack, Vorlieben, Abneigungen, das ganze Ding eben – wird auch der Charakter in solcher Weise… nun ja… Charakter bekommen. Blödes Wortspiel, aber trotzdem wahr! Ein diesbezügliches Problem entsteht, wenn der SL und die Spieler unterschiedliche Vorstellungen von diesem Reifungsprozess haben.

Ich als SL habe ja nicht nur eine Vorstellung von „meiner“ Welt, in der die Chars ihr Unwesen treiben – so, wie ich die Geschichte vorantreibe, indem ich die Spieler immer wieder an Nexuspunkte heranführe und schaue, was sie mit den Möglichkeiten anstelle, so mache ich mir auch über die Entwicklung ihrer Charaktere Gedanken. Das dabei auch visuelle Gesichtspunkte eine Rolle spielen, steht außer Frage. Wenn aber der Spieler seine Figur in eine völlig andere Richtung entwickeln möchte, als ich dies antizipiert habe, steht mir ein verdammt schwieriger Sprung über meinen Schatten bevor. Denn natürlich ist die Vorstellung des Spielers die relevante und ich muss mich womöglich von einer lieb gewonnenen, fixen Idee trennen. Der Satz ist ganz einfach zu verstehen – ICH MUSS! Nicht mein Spieler, sondern ich!

Was für die Story-Elemente gilt, gilt natürlich ebenso für die visuelle Vorstellung über den Charakter. Wenn der Spieler etwas ausprobieren will, einen bestimmten Style im Kopf hat, den er ausprobieren will, dann tut er oder sie das und es geht mich als SL nur insofern etwas an, als die Welt eventuell darauf reagiert. Das ist dann, wie in einem vorangegangenen Post dieser Serie bereits thematisiert, Teil der Spielmechanik. Was daraus wird, hängt vom Spiel ab. Es darf jedoch nicht von meiner fixen Idee abhängen, wie etwas, bzw. jemand sein muss. Denn das wäre Railroading.

Das bedeutet nicht, dass die Wirkung, welche zum Beispiel eine bestimmte Outfit-Wahl haben könnte, deshalb unbedingt freundlich ausfallen muss. Wenn jemand im Latex-Nonnen-Kostüm zu einer Bar Mirzwa erscheint, muss er sich nicht wundern, wenn das im Eklat endet. Aber nehmen wir mal das kurz das Thema Superhelden-Kostüme: Sie dienen in Comics einerseits der Wiedererkennbarkeit eines Charakters, andererseits dem Schutz der, in solchen Kreisen üblichen Geheimidentität. Transponieren wir das auf Pen&Paper, kommt es auf das Setting an. Aber nehmen wir mal an, die Chars hätten Kräfte außerhalb der menschlichen Norm; dann könnte die Annahme eines solchen Alias sinnvoll sein. Und wenn sich jemand nun derart betätigen, oder einen bekannten Style kopieren möchte, dann soll er das doch tun. Ich würde mir dieses Recht auch rausnehmen. Zwar glaubt ja keiner, dass man jemanden unter einer Halbmaske, wie Daredevil eine trägt, nicht erkennt. Aber der Effekt ist trotzdem ganz nett.

Ich glaube vor allem, man muss sich einfach von der Idee verabschieden, dass man Stile nicht mischen darf. Natürlich gibt es Dinge, die unique sind und bleiben sollen; so wie Lichtschwerter. Und Raumschiffe im Fantasie-Setting sind vielleicht auch nicht der Bringer (man denke an die Ufo-Szene aus „Life of Brian„). Aber ansonsten sollte erlaubt sein, was Spaß macht. Wohin das dann jeweils führt, kann ja ein Abenteuer für sich sein, bzw. werden. So, wie plötzlicher Ruhm durch omnipräsente Kameras. In diesem Sinne – alwas game on!

Auch zum Hören…

Erwachsen bilden #13 – Was treibt einen eigentlich zum Lernen?

Schönen Palindromsonntag wünsche ich (02.02.2020). Ich stecke momentan mitten in einem Studienbrief, der u. A. thematisiert, wie für Erwachsene Zugänge zu Bildung aussehen, und was einen dazu bringt, sich (weiter) zu bilden. Studium im besten Sinne bedeutet, dass es Fragen aufwirft, die den Studenten selbst betreffen. So wie dies beim Lernen insgesamt der Fall sein sollte. Mensch lernt, wenn das, was zu lernen angeboten wird, sich irgendwie an seine vorbestehenden Erfahrungen anschließen lässt, einen für den Lerner erfahrbaren Sinn hat und der Lerner eine Motivation erfährt, sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Das ist natürlich eine verkürzende und überaus vereinfachende Darstellung von mehreren 100 Seiten Material; für die folgende (Selbst)Betrachtung sollte es jedoch als Einstieg genügen…

Es gab – und gibt immer noch – die Idee des Fahrstuhleffektes; nämlich das durch das Wohlstands-Wachstum seit dem II. WK alle Teile der bundesrepublikanischen Bevölkerung materielle Verbesserungen erfahren haben, obschon die sozialen Unterschiede kaum abgenommen hätten. Es war Teil der sozialdemokratischen Bildungspolitik in den 60ern, 70ern und frühen 80ern, sozialen Aufstieg durch breitere Teilhabe, vor allem an akademischer Bildung, ermöglichen zu wollen. Folglich ist der Akademiker-Anteil in der Bevölkerung seitdem erheblich gestiegen. Und tatsächlich hat sich der materielle Wohlstand seit damals gemehrt. Doch seit der neoliberalen Wende Anfang der 80er wurde dieses Versprechen in immer geringerem Maße eingelöst, obwohl nach wie vor alle bildungspolitischen Bemühungen auf eine Steigerung der Akademiker-Quote zielten.

Diese ist in anderen Ländern allerdings u. A. deshalb um einiges höher, weil es dort kein Duales Ausbildungssystem gibt. Wie dem auch sei, Studieren ist immer noch „in“ und auch die Wege zum berufsbegleitenden Hochschulstudium auf dem zweiten Bildungsweg sind vielfältiger und der Einstieg einfacher geworden. Zumindest das hat der Bologna-Prozess als Gutes gehabt. Ich persönlich profitiere davon, hätte ich doch mit 20 gar nicht gewusst, dass mich Erwachsenenpädagogik jemals so begeistern könnte. Und dennoch bleibt natürlich die Frage: ist meine Begeisterung echt, oder doch nur Notwendigkeitsgeschmack im Sinne Bourdieus; also dem Umstand geschuldet, dass ich gerne noch etwas erreichen, jemand sein möchte, was auf Grund meiner Herkunft nur durch Leistung möglich ist…?

Natürlich rede ich mir gerne ein, dass es nur meine eigene, ganz persönliche Entscheidung ist, mir dies abzuverlangen. Und tatsächlich empfinde ich es als wenig quälend. Ja – Zeitmanagement ist kritisch. Und ja – meine Familie leidet darunter (vermutlich mehr, als ich mir eingestehen möchte). Und ja – ich habe ein paar spezielle Ziele, die ich in meinem Leben noch verwirklichen möchte; einfach nur, um zu sehen, ob ich das kann. Aber ist es nicht dennoch einfach nur dieser Wunsch nach etwas mehr materieller Sicherheit für uns; meine Frau, unsere Kinder, mich…?

Ich war in den vergangenen Jahren immer mehr der Meinung, dass ich nicht so ein materialistischer Konsum-Krüppel wäre, wie so viele Andere. „Leistungsträger“. Dieser Begriff geistert immer wieder durch Foren, in denen ich mich rumtreibe und letzten Endes meint dieses Wort Folgendes: „ICH leiste mehr als du, also darf ICH mir auch mehr gönnen!“ Was für ein wundervoller Ausbund an narzisstischem Ego-Trip. Ich könnte im Strahl kotzen, wenn ich so was lese und distanziere mich innerlich mit Schaudern von solcherlei Äußerungen. Und doch… ist da dieses kleine Männchen in meinem Hinterkopf, das etwas ähnliches ruft: „Schaut her, was ich alles erreicht habe! Ich bin…“ Verdammte Axt…!

Es ist mir wichtig, Menschen dahin zu führen, dass sie ihr eigenes Handeln und Unterlassen bewusst reflektieren und informierte Entscheidungen treffen lernen. Jeden Tag ein bisschen mehr. Und während ich das versuche, lerne ich ebenfalls etwas dazu. Lehren ist immer ebenso ein Lernprozess. Und manchmal demaskiert dieser Lernprozess Seiten an einem selbst, die man gerne maskiert gelassen hätte. Weil es manchmal echt wehtut, der Wahrheit ins Auge zu sehen. In meinem Bemühen, etwas über das Lehren zu lernen, habe ich also einmal mehr etwas über mich selbst gelernt; und es macht keinen Spaß, das zuzugeben. Aber ich muss meine Beweggründe noch einmal reflektieren.

Natürlich wollte ich schon seit Jahren in eine echte Führungsposition, weil diese Gestaltungskompetenz mit sich bringt – und damit die Chance, jene Dinge besser zu machen, die man seit Jahr und Tag bei Anderen suboptimal ausgeführt gesehen hat. Oder bin ich doch selbst nur auf einem narzisstischen Ego-Trip und will einfach Macht, weil Macht zu haben geil ist? Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich habe mächtige Emotionen, die manchmal zum Spielen raus wollen, auch wenn ich meine Affekte heute ganz gut im Griff habe. Aber könnte es nicht sein, dass mein Wunsch nach Gestaltungskompetenz nicht einfach nur Ausdruck kleinbürgerlicher Großmacht-Träume ist…?

So lange ich offen darüber rede, ist vermutlich noch alles OK, aber meine internen Checks and Balances werden sicher noch das eine oder andere zu tun bekommen. In jedem Fall muss mir irgendjemand da draußen Bescheid geben, wenn ich anfange, zum „Leistungsträger“ zu mutieren. Wir hören uns.

Auch zum Hören…