Capital Bra ist ein Einhorn. Also nicht so ein flauschiges, niedliches, Regenbogen-farbiges, knuddeliges; sondern eher so ein abgerissenes, schmuddeliges, nicht ganz so hübsches. Was seinem Erfolg gegenwärtig wenig Abbruch tut. Meine Tochter (11) regt das total auf, denn sie kann den Typ und seine Musik nicht ab, manche ihrer Klassenkameraden (ebenfalls 11!) aber schon! Beim Sportlehrer bin ich mir nicht sicher, wie’s kommt, aber bei den Kids hat es was mit „Coolness“ zu tun. Oder besser – dem, was hier als „Coolness“ verkauft wird. Ich fange hier jetzt nicht mit einer hermeneutischen Analyse seiner Texte an, das wäre über’s Ziel hinaus geschossen. Aber sagen wir mal so: düsteres Capital, ähm Kapitel, dieser Wortschatz…
Sein Erfolg ist das Produkt geschickten Social-Media-Einsatzes und unfassbar hoher Präsenz. An der Qualität seiner Musik liegt es nicht unbedingt, die ist deutscher Rap-Durchschnitt; durchaus professionelle Produktion, jedoch nur bedingt akzeptable Schöpfungshöhe. Ich will – obschon in der Überschrift etwas davon steht – hier lieber nicht mit Geschmack anfangen, denn der ist nur angeblich individuell. Wo ich selbst diesbezüglich stehe, kann jeder wissen, der schon mal ein paar Blog-Posts von mir gelesen hat. Mich fasziniert denn auch eher das Medien-Phänomen „Capital Bra“, denn als Musiker nehme ich ihn definitiv NICHT ernst.
Wenn ich von der angeblichen Individualität des Geschmacks rede, denke ich als erstes nicht an Bourdieu, obschon das, was wir als unseren eigenen Geschmack wahrnehmen natürlich durch unser soziales und kulturelles Kapital (nicht Capital) vorgeformt wird. Heutzutage genießen soziale Medien jedoch ein Maß an Einfluss auf die Ausbildung eines individuellen Geschmacks, wie Bourdieu das zur Zeit seiner Untersuchungen (die 60er des letzten Jahrhunderts) unmöglich voraussehen konnte. Und vor genau diesem Hintergrund ist Musik eben nicht (nur) Geschmackssache, sondern auch Produkt sozialer Prozesse: „meine Kumpel mögen alle Capital Bra, also mag ich den auch, sonst gehöre ich nicht mehr dazu“, also Gruppenzwang ist da nur eine, wenig subtile Spielart.
Wenngleich Peer Pressure eine wohlfeile Erklärung ist, müssen wir wohl doch ein bisschen tiefer in der soziologischen Mottenkiste graben, um das Phänomen des Erfolges dieses jungen Mannes besser erklären zu können. Das Spiel mit den Rollen, aus deren Gleichgewicht sich später unsere Persönlichkeit zusammensetzt (Vater, Freund, Feind, Kollege, Untergebener, Vorgesetzter, Kunde, Dienstleister, Lehrer, Schüler, etc.) beginnt von Kindesbeinen an. Und der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule ist einer der wichtigsten Übergänge. Die Kids suchen sich Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, die in dem Durcheinander ihres Lebens, das noch kein so rechtes Ziel, keinen wahren Sinn ergibt, Orientierung geben können.
Das Internet hat die Auswahl an solchen Vorbildern demokratisiert. Jeder, der nur bekannt genug ist, kann zum Idol werden. Und auch, wenn mich das gruselt: Capital Bra ist für viele ein Idol, denn er hat Erfolg mit dem, was er tut. Früher wollten die Kids Feuerwehrmann werden, Polizist oder Astronaut. Heute Youtuber, Influencer oder eben Rapper. Weil, da hat man schnell Erfolg! Das für den Erfolg auch bei Capital Bra harte Arbeit notwendig ist und seine Welt gewiss nicht nur aus eitel Sonnenschein besteht, wird dabei übersehen. Denn dieses Maß an Reflexion müssen die Kids ja erst noch lernen (weswegen mich der Sportlehrer meiner Tochter immer noch gehirnfickt, der, obwohl er ja ein Studium überstanden haben muss, diesen doch sehr durchschaubaren Herrn immer noch gut findet. Sei’s drum…).
Nein, Musik ist nicht (nur) Geschmackssache. Sie ist auch Beeinflussung auf der Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Jede Form von Kunst oder Unterhaltung kann heute Einfluss auf unsere Lebensgestaltung haben. Je jünger der Rezipient, desto stärker. Genau aus dem Grund finde ich es problematisch, wenn 11-jährige unmoderiert Spotify u. Ä. nutzen dürfen und dann gesagt bekommen, wie (angeblich) das Leben auf der Straße läuft… Das Frauenbild, die Lebensgestaltung, wie man Respekt bekommt, etc.; alles, was die neugierig machende Kunstwelt in den Videos postuliert ist – mit Verlaub – gequirlte Scheiße, allerdings unterlegt mit einschlägigen Beats. Et voilá: Erfolg.
Capital Bra ist deshalb ein Einhorn, weil er es durch seine Medienpräsenz geschafft hat, den Rap mit anderen Genres, anderen „Künstlern“ zu verbinden, die natürlich auch nur ein Interesse am Klingeln der Kasse haben. Manche Leute, wie etwa Dieter Bohlen, tun für ein bisschen mehr Kohle einfach alles – keinen Dank dafür. Ich kann den Typ übrigens auch nicht ab. Ich gönne ihm seinen Erfolg dennoch. Ich glaube ja, ER wird wieder in der Versenkung verschwunden sein, lange bevor ICH aufhöre zu bloggen. Schönen Tag noch.