Ich habe mich geirrt

Eine Feststellung, die man auch mal treffen können muss, insbesondere, wenn man sich mehrfach anders geäußert hatte. Die Anhänger von PEGIDA rekrutieren sich nicht – auch nicht mal wenigstens zum Teil – aus der Mitte unserer Gesellschaft. Der Umstand, dass trotz Hitlerbebartetem Bachmann und immer offenkundiger werdender Nähe des rechten Flügels der AfD – in personam Frauke Petry – zu diesen kurzsichtigen, verbohrten, rassistischen Populisten immer noch so viele auf die Dresdner Cockerwiese strömten, hat mich endgültig vom Gegenteil überzeugt. Dieses Pack ist ein Affront für die Demokratie, deren Früchte sie selbst so reich geerntet haben. Allerdings glaube ich daran, dass man auch mit Menschen reden muss, die sich in etwas Falsches verrannt haben; denn so sehr ich die Scheiß-Nazis auch hasse, sie sind trotzdem – wenigstens irgendwie – noch Menschen… Also auf zu ein paar erklärenden Erwägungen.

Zweifelsfrei hat sich das Leben in den fünf Bundesländern, die einstmals das Staatsgebiet der DDR konstituiert haben im letzten Vierteljahrhundert sehr drastisch verändert. Manche Dinge abseits der, zumeist gar nicht so subtilen, Repression dieses Regimes, welche von den Bürgern durchaus als Gewinn empfunden worden waren, wie staatlich verordnete Vollbeschäftigung und kostenfreie Kinderbetreuung für alle verschwanden im Orkus der Geschichte. Doch, und das sei hier noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt, relativiert nichts von diesen Errungenschaften des „real existierenden Sozialismus“ das Unrecht, welches dieser Staat gegen seine Bürger begangen hat. Einsperrung, Bespitzelung, Folter und Mord, das klingt jetzt nach Nordkorea, war für viele DDR-Bürger jedoch ebenso bittere Realität, wie dort in Asien.

Das ausgerechnet dort, wo so viele derartige Ungerechtigkeiten erleben mussten jetzt die Wiege eines erneuerten Nationalismus entsteht, mag verwundern, sind Staatsfaschismus und Staatssozialismus in ihren Funktionen und Auswirkungen einander doch sehr ähnlich. Doch wie so oft hat „der Westen“, in diesem Fall im Gewande der alten BRD viele Versprechungen gemacht und nur wenig davon gehalten. EX-DDR-Bürger wurden hier mit Bürokratismen und Bigotterie empfangen, die sie doch sehr an den Staat erinnert haben müssen, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. An der durch Jahrzehnte der Misswirtschaft entstandenen strukturellen Schwäche der Wirtschaft in den neuen Bundesländern haben alle „Bemühungen“ bis heute wenig ändern können. Mag auch daran liegen, dass man dazu einfach irgendwelchen Typen, die gesagt haben „Ich mach das für euch“ Geld in den Arsch geblasen hat, bis diese halbwegs saniert waren. Schönen Dank für die Verschwendung unserer sauer verdienten Steuern. Und schließlich hatte der Westen 1990 schon erheblich mehr Erfahrung mit Migrationskultur, als der Osten. Dass diese Migrationskultur den Namen nicht verdient, weil in der alten BRD „Gastarbeiter“ einfach ghettoisiert wurden, habe ich an anderer Stelle schon häufiger thematisiert, darauf gehe ich jetzt nicht noch mal ein.

Strukturwandel erzeugt, wie es scheint in kapitalistischen Systemen immer Gewinner und Verlierer. Wir leben im Kapitalismus. Man neigt manchmal dazu, zu vergessen, dass dieses ökonomische System nach stetigem Wachstum verlangt um funktionsfähig zu bleiben, dabei uns als Markt-Teilnehmer ebenso dazu nötigt, ständig nach „mehr“ zu verlangen und automatisch jene abkoppelt, die nicht in dieser Spirale aus Konkurrenz, Effizienz, Leistung, Konsum und Gewinn mitmachen können oder wollen. Die alte BRD hat neben einem wirklichen demokratischen System auch dessen eigentlich zutiefst undemokratischen Bastardbruder des entfesselten neoliberalistischen Kapitalismus auf das Gebiet der Ex-DDR exportiert. Es waren halt die 80er des 20. Jahrhunderts und Thatcher und Reagan hatten per Definition immer Recht. War ‘ne Scheißzeit für echte Demokraten und danach wurde es nie mehr so, wie es gewesen war, weil der Boden weltweit für nachhaltiges, reguliertes Wirtschaften verbrannt worden war. Die Zeche zahlt bis heute, wie stets, der einfache Bürger.

Man hatte den Bürgern der DDR von heute auf morgen den Kapitalismus aufgenötigt, ohne Chance, sich daran zu gewöhnen, damit zu wachsen, darin zu gedeihen; und das in einer Periode, in welcher die Friss-oder-Stirb-Mentalität der ungezügelten Zocker sich gerade mit aller Macht ihren Weg durch die Welt bahnte. Was für einen Eindruck das bei den Menschen hinterlassen haben mag, kann ich mir nur vorstellen, aber mit Sicherheit hatte es wenig mit dem zu tun, was in den Köpfen vorging, als die „Wir sind das Volk“-Rufe durch die Straßen hallten. Und ein Vierteljahrhundert, viele gebrochene Versprechen, Demütigungen und verlorene Träume später wundert man sich, wenn diese Menschen die Werte unserer Demokratie nicht schätzen gelernt haben? Wer hat ihnen denn gezeigt, was es zu schätzen gibt. Vielleicht jene Unternehmer, die aus dem Osten rausgeholt haben, was ging und sich dann vom Acker gemacht haben? Die vielen Westdeutschen, die sie als Schmarotzer beschimpft und nach einem Neubau der Mauer aus pekuniären Gründen gerufen haben? Oder unsere Politiker, die sich vor allem den althergebrachten neokorporatistischen Arrangements verpflichtet fühlen, in denen „der Osten“ bis heute bestenfalls die Dritte Geige spielt?

Spielt letzten Endes auch keine Rolle, Fakt ist, dass das wirtschaftliche System, welches in den Köpfen der Menschen die wichtigere Rolle spielt, weil ihre Existenz davon abhängt, in der Hauptsache Enttäuschung exportiert hat. Und in den Köpfen besteht immer noch diese Analogie zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen System, womit diese Enttäuschung auf den Staat reflektiert wird. In den Köpfen ist also die BRD Schuld an den Existenzängsten, ganz gleich wie viel reale Substanz die empfundene Bedrohung auch haben mag. Ein Kind nimmt man ja auch in Am, wenn es Angst vor den Monstern unter dem Bett hat…

Zum Staatssozialismus kann und will man nicht zurück, der war noch beschissener, aber die Rückbesinnung auf nationale Ideale, ja das klingt gut. Schmeißen wir doch einfach alle raus, die hier nicht her gehören, dann hört auch die existenzielle Bedrohung auf. Ist das wirklich so einfach zu erklären, was da in Dresden passiert? Ich denke schon! Und ich verweise nochmals auf das zuvor Gesagte – auch wenn jetzt nationalistisches, ja auch faschistisches Gedankengut unterwegs ist, enthebt uns das nicht der Verantwortung zum Dialog. Dass dieser Faschodreck weder bei den täglichen Problemen hilft, noch irgendwo anders hinführt, als in eine neue, andere Diktatur, kann, nein MUSS man den Pegidisten dabei in jedem Fall sagen.

Einfach nur Fragen…

Zuerst ein Gedanke am Rande: wenn es das Links-Rechts-Bündnis in Athen tatsächlich – im Moment muss man wohl wider Erwarten sagen – schaffen sollte, vernünftige Regierungsarbeit zu machen, was sagt das über unsere etablierten Schablonen politischen Denkens?

Wenn PEGIDAs Führungsstruktur gerade im Begriff ist, sich selbst zu zerlegen, was wird dann aus dieser Bewegung? Verschwinden das, was sie auf die Straße gebracht hat einfach? Oder lassen wir es zu, dass sich Menschen, die zum Teil aus der Mitte der Gesellschaft stammen, endgültig desillusioniert aus der Teilnahme an der deutschen Gesellschaft verabschieden, oder noch schlimmer, sich radikalisieren?

Muss man es gut finden, dass die europäische Zentralbank jetzt tatsächlich auf Teufel komm raus Staatsanleihen kaufen will, um die Konjunktur der großen Player anzukurbeln – wodurch mittels dann wieder steigender Zinsen und Preise die Konjunktur für den Normalbürger abgewürgt wird? Wo ist denn die Deflation?

Darf man keine Sympathie dafür haben, dass die Griechen eine Regierung abgewählt haben, deren Mitglieder sich zum größten Teil aus dem Pool vorgeblicher Eliten rekrutierte, die das Land abgewirtschaftet und die Bilanzen gefälscht haben; also in einem etwas deutlicherem Diktum: korruptes, verlogenes Gesindel?

Wer glaubt dem Bundeswirtschaftsminister, wenn er verkündet, dass in diesem Jahr mehr Geld in Bildung und Infrastruktur investiert werden wird? Oder anders betrachtet, wer glaubt, dass das getan werden soll, um jungen Menschen Bildung und damit Zukunft zu ermöglichen; und nicht, was leider viel wahrscheinlicher ist, um so durch die Hintertür Wirtschaftssubventionierung betreiben zu können?

Wird sich die Bundesfamilienministerin, die gerne eine stärkere Entlastung für Familien verkünden können würde, sich gegen den „Gott der schwarzen Null“ durchsetzen können? Und sind nicht all das sowieso nur parteipolitische Klüngel, um von anderen Problemen und Machtkämpfen abzulenken? So wie stets…?

Hat eigentlich noch irgendjemand in letzter Zeit mal wieder was von den Piraten und ihrer „liquid democracy“ gehört? Wäre es nicht schön, wenn sich zu Abwechslung mal eine neue Partei etablieren könnte, die nicht so richtig in das schlechte alte Farben- und Richtungsspektrum passt? Frisches Blut für alte Demokratie?

Haben nicht all diese Fragen miteinander zu tun, und wäre es nicht toll, wenn man genau das ein bisschen besser durchschauen könnte; mit anderen Worten, wäre es nicht richtig fein, seinen Kopf mal nicht nur als Mützenständer zu gebrauchen?

Hm…?

Ach ja, eines noch – warum müssen wir Rüstungsgüter in Länder verkaufen, in denen Frauen einfach so auf offener Straße geköpft werden, weil der Gatte behauptet hat, sie sei eine Mörderin und wo Typen wie ich – kritische Blogger – eingesperrt und öffentlich ausgepeitscht werden? Anstatt dessen kondoliert man artig zum Tod eines Monarchen, der es über Jahrzehnte verabsäumt hat, Saudi-Arabien in die Zukunft zu führen. Eine Zukunft, wo jedes Wesen selbst darüber bestimmen darf, woran es glauben möchte…

Pfui Teufel, es dreht sich auch in Gutmenschland, mit Biofleisch und Verständnis für alles und jeden, ökologisch abbaubaren Konsumgütern und Kehrwoche doch alles immer nur um dasselbe: Geld, Macht und Ressourcen! Wollt ihr da draußen das wirklich alle so…?

A snipet of war – on our streets?

Ja genau, wir müssen jetzt unbedingt das Militär aus den Kasernen holen, damit es uns hier zu Hause beschützt. Ist in Europa ja nicht ohne Präzedenz, die sind ja so gut darin ausgebildet, Terroristen zu finden und zu liquidieren, das ist wirklich eine gute Idee. Oder habe ich da was falsch verstanden? Ach so, die sollen nur die Polizei dabei unterstützen, potentielle Anschlagsziele zu schützen? Hm… also gut, lass mich mal kurz durchrechnen, wir haben wie viele… so um die 250.000 Soldaten und ca. 30 Millionen Haushalte. OK, dann können wir ein knappes Prozent unserer Haushalte schützen, denn für einen überzeugten Terroristen sind wir alle nur laufende Zielscheiben, oder? So genannte weiche Ziele.

Bevor jetzt wieder die ganzen besserwisserischen Arschmaden angekrochen kommen – ich weiß dass das da oben eine polemische Milchmädchenrechnung ist, denn genau das soll es sein. Welchen Zweck sollte Militär auf unserer Straßen und Plätzen noch mal haben? Terroristen von Anschlägen abzuhalten? Pustekuchen, bestenfalls wird der Tod einiger unserer Soldaten als willkommener Bonus betrachtet, an der Bedrohungslage, speziell durch im Stillen radikalisierte Einzelkämpfer ohne große Organisation dahinter ändert das Null Komma Nichts.

Das Einzige was Militär auf unserer Straßen bewirken würde wäre, ein Klima der Angst zu schaffen. Oder ein vielleicht schon vorhandenes solches noch zu verstärken. Unsere Lebensweise zu torpedieren, unsere Gesellschaft zu beschädigen, indem man Misstrauen, Xenophobie, Stigmatisierung noch Vorschub leistet; denn wenn Polizisten auf unseren Straßen schon nicht wohl gelitten sind, was würden wohl Soldaten in Kampfmontur bewirken? Wie würden die Soldaten auf Menschen reagieren, die in ein Feindbildschema passen? Und würden sich jene, die zumindest optisch in dieses Schema fallen, sich überhaupt noch auf die Straße trauen, integriert oder nicht? Es würde vielleicht nicht so krass ablaufen, wie in dem Thriller „Ausnahmezustand“ mit Denzel Washington und Bruce Willis, aber wer weiß schon, wie unseren kommandierenden Offiziere ticken und welche Vollmachten ihnen die Politik auszustellen bereit wäre, wenn es hart auf hart käme?

Soldaten befolgen Befehle und ich kann nicht einschätzen, welche Befehle zu geben man bereit wäre, um ein erteiltes Mandat erfüllen zu können. Kaum ein Amerikaner hätte vor 20 Jahren gesagt „Klar foltert die CIA in großem Stil in Geheimgefängnissen überall auf dem Globus“. Passiert ist es trotzdem. Ich hoffe zwar auf die Verfassungstreue unserer Streitkräfte, was aber die einzelne, womöglich schnell zu treffende Entscheidung im Extremfall angeht, so wird es sehr schwierig, vorherzusagen, was alles passieren kann. Nun ist das hier die BRD und unsere Verfassung sagt klipp und klar (Im Artikel 87), dass unsere Streitkräfte nur zur Nothilfe bei Katastrophen oder im Eintritt des Spannungs- oder Verteidigungsfalles auf dem Boden des Bundesgebietes tätig werden können; unter Vorbehalt der Zustimmung durch das Parlament.

Und es wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass selbst die Gefahr einzelner terroristischer Anschläge tatsächlich unsere demokratische Grundordnung bedroht. Und damit ist die Frage auch schon geklärt! Unser Militär hat in den Kasernen zu bleiben, ebenso wie das Verlangen nach Vorratsdatenspeicherung gleich wieder vom Tisch muss, da diese zur Terrorabwehr erwiesenermaßen nichts bringt. Und für tatsächliche Ermittlungsfälle haben unsere Behörden sehr wohl ausreichende Instrumente zur kriminologisch-forensischen Informationsbeschaffung.

Tragen wir jedoch mittels unserer Soldaten den Terror tatsächlich in unsere Straßen weiter, so haben die Terroristen tatsächlich einen entscheidenden Schritt geschafft; nämlich uns in ein Klima der Angst zu tauchen und uns unsere staatsbürgerlichen Rechte wenigstens teilweise wegzunehmen. Und DAS darf auf KEINEN Fall geschehen. Denn so entstehen Autokratien…

Mon nom, ce n’est plus Charlie, parce-que…

Ja, ich habe auch so ein Bild gepostet, hat doch in der Woche jeder gemacht, was in der ersten Betroffenheit irgendwie auch erklärbar ist. Inzwischen ist man mit etwas Abstand wieder zum Tagesgeschäft übergegangen, in manchen Periodika sind noch Artikel über einzelne Betroffene zu lesen und immer mal wieder irrlichtert eine Meldung durch die Eilnachrichten-Ticker, das irgendwo in Frankreich oder Benelux abermals Terrorverdächtige inhaftiert worden seien. Vielleicht nicht ganz Business as usual, aber doch relativ nah dran. Denn seien wir doch mal ehrlich – tief im Herzen wissen wir alle, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis in Europa wieder Anschläge stattfinden würden. London und Madrid mögen hierzulande im Nebel des schlechten Gedächtnisses verschwunden sein, andernorts sind die Bilder immer noch präsent. Und das wir in Deutschland bislang von Attentaten solchen Ausmaßes verschont geblieben sind, ist mehr der Nachlässigkeit potentieller Dschihadisten zu verdanken, als den „Glanzleistungen“ unserer Sicherheitsbehörden. Vielleicht ist man ja nicht nur auf dem rechten Auge ein wenig sehbehindert…?

Ich werde gewiss nichts relativieren, die Morde in Paris waren schrecklich, sowohl aus menschlicher Perspektive, als auch hinsichtlich des Umstandes, dass mit dem Angriff auf eine Zeitungsredaktion sehr direkt auf ein Herzstück unseres demokratischen Selbstverständnisses gezielt wurde: nämlich unsere Meinungsfreiheit. Dass sich die Pegidisten dazu verstiegen haben, ausgerechnet der von ihnen so geschähten Lügenpresse zu kondolieren, bleibt eine zugegeben ekelerregend bigotte, aber dennoch im Gesamtzusammenhang eher unwichtige Randnotiz. Und auch wenn ich zunächst Deutscher, dann mit dem Herz Europäer und ebenso irgendwie auch Weltbürger bin, so liegen mir natürlich jene Ereignisse, die sich in relativer räumlicher Nähe zu meinem Zuhause abspielen gedanklich und emotional näher, als jene, die sehr weit weg passieren; von hier nach Paris sind es etwas mehr als 500 KM.

Was sich allerdings an Nigerias Grenze zu Kamerun, Niger und dem Tschad abspielt, jenes grausige Spektakel mit Namen Boko Haram, das sprengt die Dimensionen dessen, was wir in Europa als Terror erfahren mussten um ein Vielfaches und bleibt dennoch genauso eine Randnotiz, wie Pegida es eigentlich sein sollte. Möglicherweise Tausende getötet, schwer bewaffnete Milizen rücken auf Maiduguri vor, fordern die offensichtlich vollkommen überforderten Sicherheitskräfte Nigerias einmal mehr auf eigenem Grund heraus… und von alledem bekommen wir nur ab und zu ein Schnipsel präsentiert, obwohl sich dort eine politische und humanitäre Katastrophe zeitigt, deren Wurzeln der westliche Kolonialismus mit zu verantworten hat.

Nicht dass mich jemand falsch versteht: die Mitglieder von Boko Haram nennen sich vielleicht Dschihadisten, sind aber einfach nur Raubmilizionäre, wie so viele vor ihnen, ihre Einigkeit ist aus niedersten Beweggründen geboren und den Glauben nutzen sie lediglich als wohlfeiles Deckmäntelchen für ihr Menschenverachtendes Geschäft; wie im Übrigen auch Joseph Konys „Lord’s Resistance Army“, die im Namen „unseres“ Gottes seit Jahrzehnten Terror in Uganda und seinen Nachbarstaaten verbreitet. Doch den Boden solch schwacher Staatsgebilde, die es überdies leider allzu oft an echter demokratischer Legitimation vermissen lassen, haben die einstigen Kolonialmächte bereitet, indem sie erst vorhandene Strukturen zerstört, sich dann ungehindert bereichert und sich, als die Rechnung nicht mehr funktionieren wollte rasch zurückgezogen haben; und die derart destabilisierten Ex-Kolonien einfach sich selbst überließen. In den so künstlich geschaffenen Machtvakua brachen alte Konflikte entlang ethnischer und religiöser Grenzen, welche von den Kolonialmächten einfach mit Gewalt befriedet worden waren, mit Macht wieder auf.

Bedauerlicherweise konnte so mancher Staat in Afrika sich bis heute nicht von den Dämonen der Vergangenheit frei machen, was mannigfaltige Konsequenzen nach sich zieht. Zum einen bittere Armut, die zu bekämpfen sich heute ironischerweise Entwicklungshelfer aus eben jenen Länden aufmachen, deren Kolonialpolitik in der Geschichte viel dazu beigetragen hat, den furchtbaren Status Quo aufzubauen. Die daraus notwendiger Weise resultierenden sozialen Verwerfungen, denn wer glaubt bitte, dass jenes Geld, welches von der Weltbank oder anderen Gönnern auf die Konten autokratischer Regimes überwiesen wird, auch wirklich in Entwicklung oder soziale Projekte fließt…? Und schließlich die, bereits erwähnten, ethnischen und religiösen Unterschiede. Für viele Afrikaner ist der Klan oder Stamm kulturelle Heimat, nicht die Nation auf deren Boden sie leben, wurden die Grenzen doch oft willkürlich von den Kolonialmächten gezogen.

Ja, Terror in Europa ist wirklich schlimm! Aber Terror anderswo, zum Beispiel in Afrika ist ebenso schlimm und verdammungswürdig! Insbesondere, wenn man die Verantwortung der ehemaligen europäischen Kolonialmächte für den gegenwärtig instabilen Zustand vieler afrikanischer Staaten mit in Betracht zieht. Und genau deshalb ist Charlie Hebdoe für mich kein Thema mehr. Die Menschen, die davon direkt betroffen sind, haben mein Mitgefühl und meine Trauer. Aber ich war und bin nach wie vor entsetzt, wie wenig die gewaltigen Sicherheitsapparate, die zu unterhalten wir in den entwickelten Industrienationen der ersten Welt uns leisten, an der Terrorgefahr wirklich ändern können. Und ich bin ebenso entsetzt, wie in diesem typischen, reaktionär-konservativen Reflex des nutzlosen Glaubens an Überwachung wieder einmal nach einer Aufweichung unserer Bürgerrechte gerufen wird. Wie die üblichen Verdächtigen uns noch transparenter machen wollen, anstatt an der eigenen Transparenz zu arbeiten und sich endlich zu den wahren Werten unserer Demokratie zu bekennen. Wie hieß noch gleich das Motto der Franzosen: Liberté, Egalité, Fraternité: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Klingt gut, nicht wahr? Ich bin mir ziemlich sicher, wären das tatsächlich die Werte, die auch von der Politik gelebt würden, gäbe es nicht so viele junge Menschen, die sich radikalisieren lassen und im Namen falsch verstandener Religiosität Verbrechen begehen.

Ach Kacke…

… die Podcasts zu den Beiträgen von heute und den nächsten Tagen muss ich nachreichen, da ich husteninduzierter Weise momentan nicht viel mehr als 10 Worte am Stück rauskriege, die dann zudem belegt klingen. Aber – alles wird gut!

Bescheid-Wissen

Ich habe gerade festgestellt, dass ich schon viel zu lange nichts mehr gepostet habe. Ist ja nicht so, dass mich nix beschäftigt hätte, sowohl physisch als auch psychisch, aber irgendwie habe ich einfach den Arsch nicht hochbekommen. Die Charlie-Hebdo-Geschichte treibt mich zwar um, aber meine Gedanken waren noch nicht sortiert. Schon wieder was über die Nazi-Hinterher-Läufer aus Sachsen? Alter Hut, läuft sich gerade tot, weil der Aufstand der Anständigen mittlerweile aus jedem potentiell fremdenfeindlichen „Abendspaziergang“ ein Spießrutenlaufen macht. In einer Gesellschaft, die ihre Klassenkämpfe längst institutionalisiert hat, wird halt einfach die – wenn auch nur verbale – Andersdenkendenklatscherei ebenso zum Zeremoniell erhoben und schon hat man eine Konkurrenzveranstaltung zum rheinischen Karneval. Schwellköppe gibt’s an beiden Orten reichlich zu finden; und Narren sowieso.

Da sich medial, egal wo in Print oder im Weltgewebe schon lange alle mit ihren vorgefertigten Meinungen, ihrem undifferenzierten televerbalen Geschwurbel und ihren Pauschal-Dogmen in Stellung gebracht haben, gibt es auf diesem Acker nichts mehr zu bestellen. Dann verbringe ich meine Zeit lieber mit mir genehmen Zeitgenossen bei Spaß und Spiel, sauf abends gemütlich ‘nen Captain mit Cola und lass fünfe gerade sein. Auf Grund eines Jobwechsels bin ich gerade mit etwas mehr Freizeit gesegnet als sonst und man kann ja nicht den ganzen Tag über den Büchern für’s Studium hängen, schließlich hält Konzentration nicht ewig. Obschon das Thema, mit dem ich mich momentan diesbezüglich beschäftige wirklich interessant ist. Sozialstrukturanalyse und Gegenwartsdiagnosen. Sehr erhellend.

Ich kam dabei nicht umhin, einmal mehr meine eigenen Positionen zu überdenken. Nicht das jetzt jemand meint, ich sei von meinem Bekenntnis zur Sozialdemokratie bekehrt worden. Au contraire, meine Lieben, es muss nur gelegentlich mal gesagt sein, dass Sozialdemokrat zu sein und die SPD zu wählen heutzutage leider manchmal nur noch wenig miteinander zu tun hat. Danke Gerd, dass du die Ideale der Genossen entweiht hast. Wahrhaft traurig dabei ist aber eigentlich, dass Frau Merkel und ihre Gurkentruppe die Früchte jener als z.B. Hartz-Gesetze bekannt gewordenen und nach wie vor ungeliebten Reformen ernten. Denn Fakt bleibt, dass strukturelle Veränderungen und damit einher gehend auch Einschnitte in der Organisation staatlicher Transferleistungen nach der Maxime „Fordern und Fördern“ tatsächlich unumgänglich notwendig waren. Dass dabei handwerkliche Fehler gemacht wurden (zum Beispiel bei der staatlich geförderten Rentenversicherungen vom Riester-Typ, oder beim Bürokratie-Wildwuchs in den Jobcentern und sonst wo), man es überdies nicht geschafft hat, den Leuten zu erklären, warum das notwendig ist, was damit erreicht werden soll und man mit unangenehmen Notwendigkeiten natürlich auch keine Wahlen gewinnt, ist eine ganz andere Sache.

Und die große Koalition ergeht sich Geplänkel um Möchtegernreförmchen wie die Mogelpackung Mindestlohn und das Populismusmonster Maut; wer hat’s erfunden? Na klar, wie immer unseren südöstlichen Problembären der Weißwurstokratie. Jedes Mal wenn irgendeine Biertischscheiße zum Gesetz hochgejuxt werden soll, ist die CSU voll mit im Boot. Ach Mist, jetzt bin ich ja schon wieder bei der Politik gelandet! Na ja, was soll’s, wie Pispers in „Bis neulich 2014“ gesagt hat: er macht jetzt 30 Jahre Kabarett und das immer über die gleichen Themen. Dafür wird es ja wohl einen Grund geben, nicht wahr?
Was mich eigentlich an politischen Themen und deren Protagonisten reizt? Einfach alles!

Es ist schon ein paar Jahre her, da ließ ich mich bei einer Ausbildungsveranstaltung zu einem ganz anderen Thema dazu hinreißen, eine abfällige Bemerkung über Politiker zu machen, was der Dozent zum Anlass nahm, mich zu fragen, wer denn der Bundestagsabgeordnete meines Wahlkreises wäre und das falls ich da nicht wüsste, und mich nicht mit seiner Arbeit beschäftigt hätte ich ja kein Recht hätte, Politiker pauschal abzuurteilen. Für ihn war das eine willkommene Möglichkeit, die aus seiner Sicht vorhandene Überlegenheit seiner Argumentation zu demonstrieren, einfach weil der Typ ein arrogantes Arschloch war und im Übrigen immer noch ist. Er meint tatsächlich, er wäre wichtig, weil er sich in irgendeiner NGO hochgebumst hat und ein paar Verbindungchen zu Lokalschranzen hat; nun ja, jeder nach seiner Facon.

Ich habe daraus allerdings eine Lehre gezogen und für die sage ich: Danke Arschloch! Ich gehe nicht mehr unvorbereitet in irgendeine Art von sozialer Situation, die einen verbalen Schlagabtausch nach sich ziehen könnte, weil ich keinen Bock darauf habe, jemandem als Profilierungspunkt zu dienen, dessen Geltungsbedürfnis kein reelles Korrelat hat; oder weniger verklausuliert: der sich selbst viel zu wichtig nimmt. Außerdem hatte ich seitdem ja auch ein paar Tage Zeit zum Üben und wie wir wissen, ist die Zunge die einzige Waffe, welcher durch ständigen Gebrauch schärfer wird. Gilt natürlich auch für das geschriebene Wort. So oder so weiß ich heute Bescheid. Und frage mich immer noch, was die Kenntnis eines Politikers und seiner offiziellen Agenda mit den in der Politik unserer Zeit üblichen neokorporatistischen Arrangements und dem damit notwendigerweise einher gehenden Lobbyismus denn nun zu tun hat. Nix! Denn Namesdropping klingt schön, ändert aber an den Umständen, unter denen Politik tatsächlich zu Stande kommt eher wenig.

Ich vermute, dass er das auch weiß. Was es für ihn noch beschissener aussehen lässt, wenn er wider dieses Wissen gehandelt hat, indem er so tat, als wenn er um so viel besser Bescheid gewusst hätte, als ich. Damals vielleicht ein bisschen, heute sicher nicht mehr. Der Punkt, zu welchem ich hier eigentlich kommen wollte ist der: Bescheid zu wissen wird zum Bescheid-Wissen, wenn man mittels dieses Wissens einfach nur sein eigenes Ego feiert, anstatt es mit Engagement für wirklich wichtiges in die Waagschale zu werfen. So ein Jemand möchte ich nicht sein. Ich will in Wort und Tat zu meinen Überzeugungen stehen, weil sie wohl abgewogen habe und nicht um mich von irgendjemand bewundern zu lassen. Falsche Idole haben wir schon genug. Und Schluss!

Atomisierte Gesellschaft

Ich kann es nicht mehr hören: der ehemalige Innenminister fordert von Frau Merkel, sie müsse den rechten Rand des CDU/CSU-Klientels besser integrieren, er warnt vor einer Spaltung des bürgerlichen Lagers. Auf der anderen Seite wettert die Linke, dass die Union sich nicht hergeben dürfe als Sammelbecken für den rechten Rand, weil in deren Augen PEGIDA-Anhänger wohl irgendwie so was wie Undemokraten sind. Worte mit der Vorsilbe Un- haben heute anscheinend genauso Konjunktur wie in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts. Die einen fordern mehr Integration, ohne genau zu benennen, wen sie wie in was integrieren wollen und die anderen sagen, das Boot ist voll, ganz im Stile der republikanischen Rechtsaußen. Na ja, Sin Fein ist ja auch nur der halbwegs salonfähige Teil der IRA… All überall in der Politik dominiert, ungefähr 25 Jahre nach dem Beginn vom Ende des letzten kalten Krieges das Blockdenken. Ganz so, als wenn sich auf den Straßen der jungen Republik tatsächlich Sozialisten und Kapitalisten immer noch unversöhnlich gegenüber stünden, Knüppel in der Hand, Kampflieder auf den Lippen, allzeit bereit, aufeinander loszustürmen. Deutschland im Winter 2014/15, das ist eine fatale Reminiszenz an den Klassenkampf, ein in seiner Verwutbürgerung entsetzlich lebendiges Museum überkommenen Gedankengutes.

Das bürgerliche Lager? Ja Herr Friedrich, was ist denn das, dieses von ihnen so bezeichnete Gebilde? Sind das die „klassischen“ Vater-Mutter-Doppelkind-Familien mit 1,5 gutdotierten Beschäftigungsverhältnissen, vulgo der Mittelstand, den die Lobbyarbeit des industriellen Komplexes so erfolgreich zu zerstören versteht? Oder vielleicht doch eher die Selbstständigen mit ihren kleinen und mittleren Betrieben, die das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden? Möglicherweise meinen sie ja auch die eher an Ökologie und Nachhaltigkeit orientierte Intelligenzia mit dennoch wertkonservativen gesellschaftlichen Vorstellungen? Auch der eine oder andere neoliberale Wirtschaftsmensch gehört wohl dazu und natürlich auch jene Menschen, denen alles Fremde und jedwede Veränderung des Status Quo ein Greul in sich selbst ist? Oder vielleicht irgendetwas dazwischen? Auf jeden Fall war Beharrungsfähigkeit im Antlitz nicht aufzuhaltender Veränderung immerhin 16 Jahre lang das Markenzeichen der Union. Vielleicht auch nur das von Helmut Kohl, aber das werde ich hier nicht diskutieren; meine Meinung zu diesem Menschen steht fest. Auf jeden Fall ist das mit dem Beharren nicht besser geworden.

Noch immer unterteilen Politiker die Welt in Einflusssphären, in Blöcke entsprechend einem von Kindesbeinen an gelernten Richtungsspektrum, das von ganz Links (immer schlimm) bis ganz Rechts (schlimm, wenn sie ihre Dummheiten öffentlich begehen) alles und jeden fein säuberlich in Schubladen einordnet. Also gut, dann ordnen sie doch bitte mal den hier ein: 40, verheiratet, zwei Kinder. Jung genug um soziale Gerechtigkeit immer noch als Kampfthema zu begreifen. Erfahren genug, um die Notwendigkeit bestimmter ordnungspolitischer Grundsätze anerkennen zu können. An nachhaltiger Zukunftsentwicklung interessiert und Willens, etwas dafür zu tun. Kritisch gegenüber der aktuellen Handhabung politischer Probleme. Fremden gegenüber aufgeschlossen und wissend, dass wir Zuwanderung brauchen. Dennoch davon überzeugt, dass die hiesige Justiz manchmal zu lasch urteilt, insbesondere wenn es um Personen von gewisser Bekanntheit/Wichtigkeit geht. Jederzeit bereit, seine Meinungen auch öffentlich zu vertreten – was er übrigens gerade tut. Denn dieser Typ bin ich. Nutzt man das übliche Schubladendenken, finde ich vermutlich mit bestimmten Aspekten in jeder Schublade Platz, aber das Complet zeigt an meinem persönlichen Beispiel auf, dass sich die Interessen der Menschen partikularisiert haben.

Die Wenigsten Menschen, die ich kennenzulernen die Ehre und das Vergnügen hatte entsprechen in ihren sozialen Praktiken und ihren gesellschaftlichen Ansichten den Blockbildern, in welchen die politischen Parteien sich nach wie vor abzubilden mühen. Ein Arbeiter wählt heute nicht mehr die SPD, weil er halt zur Arbeiterklasse gehört, weil es diese Arbeiterklasse in solcher Trennschärfe nicht mehr gibt. Vielleicht hat es sie nie wirklich gegeben, aber nun ist auch das Bild in den Köpfen am schwinden, weshalb es sehr schwer wird, so etwas wie eine Stammwählerschaft, auf die man sich in den 50ern, 60ern, 70ern noch eisern verlassen konnte, überhaupt zu finden. Dass die Union gegenwärtig so stabil bei über 40% steht, liegt nur daran, dass viele von uns bunten Bürgern über die letzten Jahre alternativlos in den Topor gemerkelt wurden. Ihre „Politik der ruhigen Hand“ ist wie ein riesiges Barbiturat-Raumspray, das auch den letzten Rest politischer Volksbeteiligung ausräumen soll. Ein Volk stört nämlich nur beim Regieren…

Deshalb reagiert man im politischen Berlin auch so verschnupft, vor allem aber irritiert auf PEGIDA. Mag sein, dass da auch rechte Wirrköpfe mit feurigen Gewaltphantasien mitmarschieren, von denen gibt es gewiss noch zu viele in unseren Landen – woanders aber ebenso. Das ändert aber nichts daran, dass dieses Phänomen, genauso wie übrigens auch die Krawallbrüder von der AfD nicht so richtig in das Schubladensystem passen. Und alles was da nicht reinpasst, ist übrigens neuerdings Rechts. „Nazi“ ist das neue „Störenfried“.

Unsere Gesellschaft ist nicht mehr so, wie zu Großvaters Zeiten, als man an Hand des Wohnvierteles ziemlich präzise vorhersagen konnte, wie einer so insgesamt tickt. Nicht nur unsere Wohnverhältnisse, auch unsere Ansichten, Werte, Ideale, Normen haben sich atomisiert. Ohne jetzt schon wieder mit Individualisierung kommen zu wollen, oder noch Mal das Zeitalter der Beliebigkeit postulieren zu müssen, ist recht leicht feststellbar, dass ehemals gültige soziale Unterscheidungskriterien ihre Kraft verloren haben. Das war beim Übergang von der Ständisch-bäuerlichen zur Industriegesellschaft der Fall und das ist beim Übergang von der Modernen in die Postmoderne Gesellschaft, den wir gerade im Begriff sind zu vollziehen genauso. Immer noch mit den Begriffen der klassischen Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts zu hantieren geht folglich also irgendwie am Ziel vorbei, Phänomene wie PEGIDA korrekt analysieren können zu wollen. „Das sind alles Nazis“ ist ein Reflex, geboren aus dem Unverständnis sozialer Wandlungsprozesse. Und diesem Irrtum sitzen nicht nur Politiker auf, sondern ebenso Vertreter unterschiedlichster sozialer Gruppierungen und der Medien. Traurig, wer sich da alles um so viel intelligenter als diese Mitläufer-Demonstranten wähnt…

Nicht nur die Erkenntnis, vor allem das Anerkennen der Tatsache, dass alte Schemata und Handlungspraktiken nicht mehr genügen, um in der postmodernen Gesellschaft die drängenden Fragen beantworten zu können, wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich kann das Wort Nazi nicht mehr hören. Ja, wir haben immer noch viel zu viele Menschen mit jeder Menge brauner Scheiße im Kopf hier rumlaufen, doch muss ein demokratisches Gemeinwesen mit extremen Meinungen jedweder Art leben, sie aushalten und durch Wort und Tat entkräften können. Doch wir haben verlernt, dass Toleranz Duldung bedeutet, nicht Umarmung. Ein Demokrat muss scheinbar Unzumutbares erdulden und trotzdem aufrecht voranschreiten können. Unsere Zukunft gestalten wir nur selbst, wer glaubt, dass die Politiker dies für uns erledigen, der tut mir leid. Die erledigen allerhöchstens noch den letzten Rest von Partizipation, wenn wir sie gewähren lassen!

Ich habe keine Sympathien für die Agitatoren von PEGIDA, ich kann aber verstehen, warum die Menschen ihnen hinterher rennen. Dies Verständnis in sinnvolle Handlungen umzumünzen ist das Gebot der Stunde. Einfach nur „NAZI“ schreien und nach Fackeln, Mistgabeln, Stricken suchen – selbst, wenn diese nur rhetorischer Natur sind – ist allerdings keine Lösung. Was wollen wir tun? Eine neue Partei der gesellschaftlichen Mitte gründen? Oder versuchen, die verkrusteten Strukturen unserer eigentlich recht tauglichen parlamentarischen Demokratie wieder aufzubrechen, um sie für alle zugänglich und nutzbar machen zu können? Lasst uns doch gemeinsam darüber nachdenken, vielleicht finden wir dann einen Weg, wenigstens einen Teil der atomisierten Gesellschaft zu (re)integrieren…?

Ich will keine guten Vorsätze!

Die sind für den Arsch. Menschen machen ja zu Silvester kuriose Sachen, wie z.B. Blei gießen, Unmengen lauter, bunter Lichter um sich schießen und saufen, bis die Rettung kommt. Na gut, das Letztere machen sie eigentlich das ganze Jahr über. Aber sich gute Vorsätze für’s kommende Jahr vornehmen ist, als wenn man sich nur einen Zehner mit zum Shoppen nimmt, aber die Kreditkarten nicht aus dem Geldbeutel legt; also, wie schon bemerkt, für den Arsch.

Ich verurteile Niemanden, wenn er zum Jahreswechsel ein bisschen übermütig wird. Mache ich ja selbst auch. Ist eine willkommene Abwechslung zum schmuddelig-dunklen Wettereinerlei und der überall stattfindenden Bilanz-Zieherei, quasi ein rezeptfreies Antidepressivum. Man trifft sich, lässt die Sau raus, am nächsten Morgen – na ja, vielleicht eher Mittag – ist wieder gut, alle gehen ihrer Wege und Alles bleibt beim Alten. Denn so sehr wir uns auch darauf versteifen, dass ein neues Jahr wie eine neue Chance für das eigene Leben ist, Wandel entsteht nur, wenn man sich selbst wandelt, anstatt dazusitzen und zu hoffen, dass 20xx es schon richten wird. Zeit vergeht. Sie vergeht nicht für jeden gleich, das ist auch so eine Wahrnehmungsgeschichte, aber zurückdrehen lässt sie sich niemals. Und weil es ziemlich einfach ist, am eigenen Tun oder Lassen irgendwas Negatives zu finden, fallen die oben erwähnten Bilanzen dann zumeist auch eher ernüchternd aus.

Dies oder jenes nicht geschafft, ja nicht mal in Angriff genommen; hier eine Chance verpasst, da eine schlechte Entscheidung getroffen. Selbstzerfleischung und die daraus unweigerlich resultierenden Selbstzweifel brauchen am Ende eines weiteren nicht allzu erfolgreichen Jahres ein Pflaster, woraus folgt: Silvester muss geil sein, prall gefüllt mit Action und guten Vorsätzen. Was muss nicht alles besser werden… Das allein das Fassen guter Vorsätze schon die nächste Silvesterpflasterwürdige Enttäuschung in sich trägt, wird dabei gerne geflissentlich übersehen. Menschen ändern sich langsam, mit zunehmendem Alter immer schwerer und eine realistische Selbsteinschätzung abgeben zu können ist etwas, dass unsere Spezies erst noch lernen muss. Das kann man gut beobachten, wenn man mal seinen Kollegen bei der Arbeit und dann bei ihren Berichten davon während formloser Anlässe, zum Beispiel am Wasserloch zusieht. Die dabei zu beobachtende Inkongruenz zwischen der tatsächlich erbrachten Leistung und dem Bericht darüber ist mir persönlich schon zu oft negativ aufgefallen.

Da sitzt man nun also in der Silvesternacht oder am Neujahrsmorgen in unerfreulicher Selbstbeschau und um die Geister der vergangenen Weihnacht zu verjagen, beschließt man, ab jetzt aber auch so richtig alles anders zu machen. Besser, größer, schöner, ehrlicher, und so weiter und so fort. Weil drunter geht es ja in unserem Zeitalter nicht. Und rumms, keine zwei Wochen später, wenn es überhaupt so lange dauert, ist man in eines der selbst ausgelegten Bäreneisen getreten. Zunächst versucht man noch verzweifelt, den eigenen Zielvorgaben gerecht zu werden, aber spätestens im Frühling beginnt sich das Gefühl auszubreiten, dass man ja noch jung ist und es dieses Jahr mal wieder etwas ruhiger angehen sollte. Es kommt ja wieder ein neues Silvester. Und was lernen wir daraus? Gute Vorsätze sind ein Selbstbetrug auf Zeit mit 100% Enttäuscht-werden-Garantie. So was brauch ich und will ich nicht!

Mir wäre es lieber, wenn man immer mal wieder über sich selbst und seine Beziehungen, über das was man für sich und andere erreicht hat, das was man noch erreichen will und die möglichen Wege dorthin nachdenkt, vollkommen unabhängig davon, ob Silvester ist, oder nicht. Diese Nacht ist ein Rite de Passage, sie markiert den Umkehrpunkt, ab dem der Lebenszyklus durch die Jahreszeiten von neuem beginnt. Würden wir den Jahreswechsel Ende Juni begehen, hätten wir trotzdem in einer Mittwinternacht ein Fest, welches dieses Ereignis begeht. Schließlich braucht man einen halbwegs glaubwürdigen Grund zum Feiern. Feiern ist auch in Ordnung, aber bitte nehmt euch keine guten Vorsätze vor, sondern denkt lieber öfter mal über euch und euer Leben nach, das bringt viel mehr. Und zusammen einen saufen kann man eh immer, wenn einem danach ist.