Dieser Tage saß ich abends mit der besten Ehefrau von allen bei geistigen Getränken auf dem Balkon und wir parlierten so über dies und das. Irgendwann kam das Gespräch darauf, dass es mich ein wenig amüsieren würde, dass bei einer Fortbildungsveranstaltung in der Vorstellungsrunde alle TN auf ihre beruflichen Funktionen rekurriert haben, um sich den Anderen zu präsentieren. Und das es mich grundlegend irritieren würde, dass Menschen so sehr auf dieses Distinktionsmerkmal „Beruf“ fixiert seien. Die Replik meiner Gattin war eine Frage: wodurch sollten sie sich denn sonst definieren? Und so ganz unrecht hat sie damit ja auch nicht. Denken wir das ganze mal in Gruppenprozessen, geht es neben der Distinktion der eigenen Person von Anderen ja auch um die Zugehörigkeit zu einer Peergroup. Und da wir nicht mehr in marodierenden Nomadenstämmen durch die Gegend ziehen, um dann in Clans gegeneinander Krieg um Land und Vieh zu führen, ist die eigene Berufsgruppe als Platz der Zugehörigkeit ein dankbarer Ersatz. Man muss dafür halt auch niemandem den Schädel einschlagen…
Das Problem mit Gruppenprozessen aller Art ist, dass sie in der Folge nicht selten dazu verführen, um der Zugehörigkeit in der eigenen Peergroup Willen Dinge zu tun, die nicht ganz so schön sind. Eine auch heute noch beeindruckende Beschreibung solcher Prozesse lieferte Norbert Elisas in seinem (mittlerweile wohl als Klassiker der Sozialwissenschaften betrachteten) Buch „Etablierte und Außenseiter“ von 1965. Merkmale der eigenen Gruppe werden dabei als positiv stilisiert, Merkmale anderer Gruppen hingegen abgewertet, um einerseits den subjektiven Wert der eigenen Gruppe zu erhöhen und andererseits durch den daraus entstehenden Konformitätsdruck („Willst du drin sein, oder draußen?“) den Zusammenhalt zu steigern. Eine Gruppe wird so zu einem selbsterhaltenden sozialen System (Autopoiese), dass allerdings – sofern der oben beschriebene Mechanismus wirksam wird – die Betonung des Andersseins gegenüber anderen Gruppen für die eigene Kohäsion benötigt. In der Folge kann es z. B. zur Stigmatisierung der Mitglieder anderer Gruppen kommen. Insbesondere, wenn die Gruppe, von welcher diese Art von Aggression ausgeht, die Mehrzahl der Menschen in einem Bereich stellt.
Doch, was hat das nun wieder mit Netzwerken zu tun? Betrachten wir zunächst die Beziehungen innerhalb einer solchen Peergroup, weicht die Punktualisierung als zufällig emergierende soziale Verbindung mit u. U. unabsehbaren Auswirkungen und ungewisser Zukunft einer Ritualisierung, ja beinahe Formalisierung der Beziehungen – und in der Folge auch der genutzten Kommuniaktionsformen (Bro-Fist, Special Handshakes, Running Gags und Insider Gags, etc.). Ein weiterer möglicher Aspekt ist die Entstehung einer – vielleicht formellen, oft aber eher informellen – Rangordnung innerhalb der Gruppe. In der Folge kann es wiederum zu Machgefällen kommen, welche dazu führen, dass eine (Subjektive) „Elite“ innerhalb der Gruppe Macht über die anderen Mitglieder erlangen und schließlich Herrschaft über diese ausüben könnte. Nun kann man Herrschaft über andere Menschen allerdings üblicherweise nur dann ausüben, wenn die Beherrschten die Beherrschung selbst legitimieren. Da innerhalb einer Peergroup jedoch Konformitätsdruck herrscht, kann eine hinreichend gute Begründung (z.B. durch gemeinsame Feindbilder) für die eigenen Ziele so viel Zustimmung einwerben, dass der eben beschriebene Prozess in Gang kommt. Ein prominentes Beispiel ist die Vereinnahmung der AfD durch Nazis.
Gegenüber anderen Gruppen verändert sich dadurch natürlich das Auftreten. An die Stelle der (natürlichen) Suche nach Konsens mit anderen Gruppen durch öffentlichen Diskurs tritt die öffentliche Verneinung der Legitimation anderer Standpunkte ohne inhaltliche Diskussion; der eigene Standpunkt wird als „letzte Wahrheit“ verabsolutiert und alles andere als schädlich verworfen (=> Grünen-Bashing). Was Stigmatisierung mit anderen Menschen macht, kann man exzellent an der Diskussion um Intergration in unserem Lande sehen. Es wird immer wieder dieser widerliche Begriff „Leitkultur“ verwendet, bei dem nicht wenige Menschen so ein bestimmtes Bild im Hinterkopf haben: lauter weiße Menschen, Bierzelt, Schützenfest, Spanferkel „Mei, is des deitsch!“. Alternativ darf man natürlich die Reihenhaus-Vorstadt-Siedlung mit akkurat gestutzem Rasen und deutschem Markenfabrikat in der Auffahrt nicht vergessen. Was nicht in dieses Bild einer Mehrheits-Kultur passt, wird verachtet und demgemäß gedisst. Dass Kultur ein Prozess ist – nun ich habe es schon tausend Mal gesagt, und werde das gewiss noch tausend Mal tun – bedeutet jedoch, dass diese Bilder von der „guten alten Zeit“ eine Illusion sind. Ein Schritt von vielen in der Entwicklung unseres Landes…
ACHTUNG: Gruppenprozesse sind mitnichten immer böse! Dass sieht man am kameradschaftlich-altruistischen Handeln vieler, vieler Menschen in den von der Flutkatastophe betroffenen Gebieten. Aber die beschriebenen Mechanismen können eben genauso wirksam werden – und sie tun dies jedesmal, wenn jemand Facebook aufruft, weil der Algorithmus dies begünstigt. Da kann man noch so viele Anti-Hate-Crime-Gesetze auf den Weg bringen. So lange asoziale Medien nicht anders strukturiert werden (und damit unrentabel für die Betreiber werden, weil der Algorithmus Werbeeinnahmen generiert), bleiben sie asozial. Das ist nur ein Netzwerk-Aspekt, aber damit wollen wir’s mal gut sein lassen. Peace
- Elias, N.; Scotson, J. 2002: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/Main: Suhrkamp.