Ein geschäftiges Jahrzehnt

Retrospektiven stehen zum Jahresende immer hoch im Kurs; dieses Mal natürlich unter dem besonderen Aspekt, dass auch ein neues Jahrzehnt anbricht. Im vergangenen Jahrhundert wahren die Zwanziger ein Zeitalter des Umbruches. Wenn die Zwanziger dieses Jahrhunderts in dem Zusammenhang allerdings noch eine Steigerung der eben abgelaufenen Zehner darstellen sollten, na dann Prost Mahlzeit! So einen Standard-Rückblick auf Politisches und Gesellschaftliches werde ich mir übrigens schenken, denn den kann man ja allenthalben schon in den üblichen Postillen und im Fernsehen in zig-facher Ausführung „genießen“: Das’n privates Blog hier, also is auch mein Rückblick privat, verdammich…

Was mich in den Zehnern bewegt hat? Nun zunächst einmal, meine ältere Tochter größer werden und bis in die weiterführende Schule kommen zu sehen. Die Geburt der jüngeren Tochter 2013 und ihr Weg bis in die Grundschule. Das Gefühl, darüber älter zu werden und sich dennoch immer noch jung genug für manchen Quatsch zu fühlen. Die dabei gewonnene Erkenntnis, dass ich mein Leben tatsächlich selbst manage, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wie das gehen soll. Ich denke, eines der wichtigsten Themen und Motive war damit das Wachstum als Familie; und vor allem die damit verbundene Verwunderung darüber, wie sehr ich zu einem Papa geworden bin, ohne mir das je so vorgestellt zu haben. Irgendwie ganz schnuffig.

Ich beklage mich manchmal darüber, dass man beim Leben mit Kindern ganz allmählich vom Individuum zu dieser speziellen Rolle – in meinem Fall „Vater“ – kondensiert wird und darob selbst in manchen Dingen mächtig zurückstecken muss. Ohne Frage ist ja nix so beständig, wie der Wandel, also ist dieses Klagen eigentlich sinnfrei. Ich hab doch keine Ahnung, wie’s mir ohne Kinder ergangen wäre. Schwamm drüber. Denn von der Besten Ehefrau von Allen höre ich manchmal ganz ähnliche Töne. Same, but different. Unserer Beziehung scheint es indes nicht nennenswert geschadet zu haben; auch, wenn wir manchmal recht hart geprüft wurden.

Doch meine Zehner bestanden nicht nur aus Kindern und Kochen – was ich wirklich leidenschaftlich gern tue. Auch beruflich hat sich einiges getan. Ich habe nebenher ein Studium absolviert. Und man muss wirklich nebenher sagen, denn mein vorheriger Arbeitgeber hat mich in dieser Hinsicht Null unterstützt. Dennoch konnte ich einen Abschluss in Bildungswissenschaft erwerben und drauf aufbauend in den Bereich der Ausbildung wechseln. Ich mag’s, für das, was ich tue ein solides Fundament zu haben, also bin ich den langen Weg gegangen; und es hat sich gelohnt. Nebenbei hat dieses Studium mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich selbst immer noch gerne lerne. Also bin ich wieder am Lernen, denn ein Masterabschluss muss auch noch her.

Was nicht gut war an meinen Zehnern war? Die Erkenntnis, dass ich die Veranlagung eines Elternteils zu Depressionen offensichtlich vererbt bekommen habe. 2014 war ein wirklich beschissenes Jahr: Erschöpfungs-Depression bis in die Krankengeldzahlung, mit anschließender Wiedereingliederung und der Erkenntnis, dass ich da, wo ich stand, weg musste. Dann, Anfang Dezember ein Telefonat, dass vieles verändert hat und wenige Tage vor Heiligabend der Abschluss mit der einen und der Beginn einer neuen beruflichen Ära. Alles im Geschwindschritt und mit einem gewissen Leibgrimmen.

Sich aus dem eigenen, fast zwei Jahrzehnte lang gesponnenen Kokon zu befreien, kann sehr heilsam sein. Es ist aber auch furchteinflössend. Wäre es eine radikalere Veränderung gewesen; ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte. So ehrlich muss man schon mit sich sein. Doch retrospektiv darf ich sagen: alles richtig gemacht. Heute bereitet mir mein Original-Job wieder Freude und der neue Job entwickelt sich prächtig. Was kann man von diesem Teil seines Lebens schon mehr verlangen? Geld war nie so wirklich mein Motor. Ich verdiene es, damit meine Familie und ich ein schönes Leben haben können. Und meine Ansprüche an „schön“ sind heutzutage – abseits essentieller Bedürfnisse – eher weniger materieller Natur.

Ich hatte das Privileg, die Zehner hindurch auch die wenigen, wirklich wichtigen Freundschaften pflegen zu können, die meinem Leben schon lange und bis heute Halt und Balance geben. Sehr zu meiner Freude konnte ich auch manch neuen Kontakt knüpfen. Und selbst wenn ich den Menschen, mit denen ich nun schon ein Stück des Weges gegangen bin nicht immer die Aufmerksamkeit schenken konnte und kann, die sie eigentlich verdienen, so bleibt doch das Gefühl, nicht allein sein zu müssen. Und die Hoffnung, auch anderen Menschen dieses Gefühl geschenkt zu haben und immer wieder neu schenken zu dürfen. Natürlich nicht nur meiner Frau, meinen Kindern, meinen Freunden, sondern auch denen, die – auf die eine oder andere Weise – meiner Hilfe bedurft haben.

Ich könnte also wirklich, wirklich lauter klagen, wie ich immer sage. Doch warum? Es geht mir – objektiv betrachtet – besser, als vielen Anderen. Und nach den Tief-Phasen des vergangenen Jahrzehnts bin ich auch subjektiv gut dabei. Also richtet sich der Blick nun nach vorn. Und da kann ich nur Folgendes sagen: Ich wünsche uns allen einen erfolgreichen, gesunden und gesegneten Start in 2020! Mögen es die besseren Roaring Twenties werden…

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Schrei dich frei!

…oder eine kleine Anleitung zum Social-Media-Gebrauch:

Da ja heutzutage jeder einen Ratgeber auf den Weg bringen muss, mache ich das jetzt auch. Kostet nichts und ist super Werbung. Wie diese Listicles bei „Wirtschaftwoche“, „Kununu“ und wie die sonst alle heißen. Die haben zwar keinen Mehrwert, also sind sie im wahrsten Sinne des Wortes umsonst, aber hey… wenigstens kann man einen fetten Kommentar drunter setzen und sich wichtig fühlen. Also los!

  1. FOMO (Fear of missing out) ist doch keine Krankheit, sondern unbedingte Voraussetzung für das Überleben des Digital Native im neuen Jahrzehnt. Immerhin sind die „New Roaring Twenties“ gerade im Anbruch begriffen. Nicht nur ein neues Jahr, nein gleich ein ganzes verschissenes neues Jahrzehnt beginnt morgen Nacht. Heidewitzka! Also lasst eure Smartphones 24/7 an und reagiert auf das kleinste Piepen. Insbesondere Nachts. Nachts sind schließlich schon viele wahnsinnig wichtige Dinge passiert. Pissen nach übermäßigem Bierkonsum zum Beispiel…
  2. Postet natürlich auch einfach alles, was euch in den Sinn kommt: volle Teller, leere Teller, eure Shopping-Beute, euer neues Auto, Boot, Haus, Schmuck (damit der Einbrecher den auch auf jeden Fall findet und ihr hinterher über den Einbruch eine super Insta-Story machen könnt!). Eure Follower mögen schließlich Action!
  3. Und überhaupt: generiert Follower. Ihr seid heutzutage nur wichtig, wenn euch irgendwer irgendwohin folgt. Und wenn’s nur der Stalker von Gegenüber ist, in dessen gekacheltem Keller ihr dann vielleicht zu seiner super Insta-Story werdet. Lasst euch von niemandem einreden, dass das Leben eigentlich in der realen Welt stattfindet. Die haben alle keine Follower…ähm Ahnung…
  4. Meinung bildet man sich nicht – Meinung hat man. Und zwar soviel davon, wie nur möglich zu überhaupt allem und am besten sofort! Dieses sagenumwobene „Recherchieren“ und „Nachdenken“ kostet viel zu viel Zeit. Kommt auf den Punkt, sonst postet ein anderer womöglich vor euch. [Das waren die grundlegenden Regeln, jetzt kommt die Politik!]
  5. Satire auf keinen Fall als solche erkennen. Selbst wenn’s ganz einfach wäre, wie etwa beim „Oma ist ne alte Umweltsau“-Song. Satire darf dann alles, wenn man Linke und Grüne durch den Kakao ziehen kann. Und Politiker; die haben ja eh nix besseres verdient. Aber wehe, so eine linksgrünversiffte Sau bohrt da, wo’s ein bisschen weh tut. Etwa beim eigenen Verhalten! Das darf nicht ungesühnt bleiben. Die Greta ist immer als Zumutung zu empfinden! Da könnte ja jeder kommen und mir verbieten wollen, nicht mehr die Ressourcen mit vollen Händen zu verschwenden und dabei unsere Welt immer unbewohnbarer zu machen. Wir haben doch noch eine Zweite in Reserve! Es ist also in jedem Fall wichtig, alles negativ zu kommentieren, was irgendwie nach Umweltschutz klingt.
  6. Überhaupt, der Ton macht die Musik! Mal richtig einen raushauen ist erste Bürgerpflicht. Man sollte vor allem Fremde Menschen duzen, als wenn man sie schon mal vor dem Wirtshaus eigenhändig verprügelt hätte. Deftige Wortwahl hilft immer! Wichtig ist nur, dass man eventuell justiziable Kommentare ganz schnell löschen kann. Also gilt wieder Regel Nr. 1: immer online bleiben. Dann verwischst du die linksgrünen Säue auch besser.
  7. Auch, wenn man so schnell Freunde findet, die genauso denken: Manchmal stolpert man doch über so einen Simpel, der tatsächlich mit dem Anwalt droht. Da hilft nur ignorieren, blockieren und vor allem alle Posts löschen, die vielleicht zu verwerflich waren. Es ist MEINE Blase und ich will in MEINER Blase nur mit MEINEN Leuten zu tun haben! Sonst könnte ich mich ja mit Informationen infizieren…
  8. Nur lesen, was auch passt! Wie schnell landet man sonst in Teufels Küche. Im Netz kursieren so viele Fakten, da wird man ganz schnell wirr im Kopf von. Fakten, insbesondere, wenn sie von den Systemmedien als solche ausgezeichnet sind, muss man in jedem Fall umgehen. UND AUF KEINEN FALL LESEN ODER – NOCH SCHLIMMER – DRÜBER NACHDENKEN! Meine Leute haben schon die Wahrheit gepachtet, da brauche ich keine Fakten!

…so, alle schon am Schnappatmen? Ja wunderbar. So funktioniert Erregung in den sozialen Medien. Vielleicht finde ich das eine oder andere meiner absolut satirisch gemeinten Anleitung zum Social-Media-Gebrauch irgendwann auf einschlägigen Seiten wieder. Drauf geschissen. Ich würde mich entsetzlich freuen, wenn wir die, tatsächlich anbrechenden Neuen Zwanziger zum Anlass nähmen, wieder unseren Verstand zu benutzen und nicht jedem Rattenfänger hinterher zu laufen. Und dabei ist es mir, auch wenn ich ein alter Soze bin, vollkommen Wumpe, ob das Grüne, Schwarze, Blaue, Braune, Rote, Gelbe oder irgendwie karierte Rattenfänger sind. Alle bieten doch heutzutage Opinion To Go an, als wenn man sich für informierte Entscheidungen nur am Grabbeltisch des Vorgekauten bedienen müsste.

Eine informierte Entscheidung treffen zu können – und die ist das Kennzeichen der Mündigkeit, von welcher Kant so gerne sprach – bedingt, zuvor Informationen gewonnen zu haben. Und wie das bei allen kostbaren Ressourcen so ist: sie zu erlangen, kostet Anstrengungen. Worauf viele Menschen heutzutage keinen Bock mehr haben. Und bevor jetzt gleich wieder einer losjodelt: das betrifft alle Altersgruppen. Darum hier meine wichtigste Bitte für 2020: da auch ich nicht von social media lassen kann, weil es für mich, neben der Funktion als Beobachtungsort für Idioten in ihrem natürlichen Habitat, auch noch für andere Dinge gut ist: DENKT BEVOR IHR POSTET! UND WENN IHR AUCH NUR DEN FUNKEN EINES ZWEIFELS HABT – NICHT POSTEN, SONDERN WEITERDENKEN! Danke… Peace…

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Zuviel

Widersinn haut manchmal hin. Zumindest, wenn er eigentlich gar nicht so widersinnig daher kommt, sondern eher als kleiner Bastardbruder der Avantgarde. Man kann jetzt (noch) darüber streiten, ob FFF schon Mainstream oder noch Avantgarde ist, wenn so viele Menschen hingehen und tatsächlich anfangen, ihren Konsum zu überdenken. Ich nehme mich dabei übrigens nicht aus. Obschon mir manche Dinge schwerer fallen. Das mag an meinem Alter, meiner Sozialisierung, oder sonstwas liegen; ist auch egal. Im Ergebnis bedeutet es allerdings, dass ich nicht so konsequent handle, wie ich mir das gerne einrede. Und ich rede mir recht viel ein, wenn der Tag lang ist, auch mein Selbstbewusstsein ist schließlich nicht aus Eisen…

Ein wirklich guter Zeitpunkt, um die Inkonsistenz und Inkonsequenz des eigenen Tuns besonders intensiv zu erleben, sind natürlich die Feiertage. „Ich bin kein Kostverächter!“ war früher eine halbwegs elegante Umschreibung für „Ich fresse gerne bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie ein Scheunendrescher!“. Und dafür ist Weihnachten halt prädestiniert. Es gibt immer von allem zuviel. Zuviel Essen, zuviel Alkohol, zuviel sonstiger Konsum, zuviel Rührseligkeit; und manchmal auch zuviel Streit. Gegen zuviel Rührseligkeit ist echt kein Kraut gewachsen. Zuviel Streit können wir selbst verhindern. Bei zuviel Konsum jedoch wird es haarig. Und ausgerechnet der muss doch auf den Prüfstand, nicht wahr…?

Sieht ja noch ganz OK aus. So’n bisschen Bio-Suppengrün halt…

Wäre ich Pinocchio und würde jetzt behaupten, dass unsere Verköstigung zu Weihnachten bisher ökologisch bewusst und sinnvoll war, hätte meine Nase jetzt gerade den Bildschirm meines Convertibles durchstoßen und ich hätte mich schon wieder in überflüssigem Konsum ergehen dürfen. Wobei… es ist eigentlich ja vor allem ein Arbeitsgerät. Wie dem auch sei; wir haben – wie wir das jedes Jahr tun – sowohl am heiligen Abend zu Hause, mit unseren Kindern, als auch am ersten Feiertag im Kreise weiterer Familie alles andere als sparsam getafelt. Totes Tier war auch dabei. Und schon geht sie los, unsere Öko-Terror-Polonaise…

…welches allerdings nur zur Verfeinerung einer Lammkeule gedient hat. Ist jetzt Teil der Soße.

Worauf ich hinaus will? Nun… die Menschen, die sich bestimmt darüber echauffieren, dass der Mensch, der nach eigener Aussage ökologisch angehauchter Sozialdemokrat ist, dann SO unverantwortlich mit dem Planeten umgeht. Meat-Shaming! Tierkinder-Mörder! CO2-Fußabdruck! Überfluss! Was ist mit denen, die nicht so viel haben? Sagen wir mal so: ich habe mir darüber durchaus Gedanken gemacht. Und tue es mit diesem Text immer noch. Weil es doch das eine oder andere zu bereden gibt, wenn wir über unser Handeln zum höchsten Christenfest nachdenken wollen.

Zum einen möchte ich dem möglichen Vorwurf bezüglich Bigotterie meines eigenen Handelns folgendermaßen begegnen: ich brauche, wie neulich gesagt, Traditionen. Das allein mag als Entschuldigung nicht genügen; ich wage jedoch zu sagen, das bestimmte Teile unseres kulturell bestimmten Handelns länger zum Wandel brauchen werden, als andere. Der Verzicht auf das dauerhafte, mobile verheizen fossiler Brennstoffe ebenso wie die Einschränkung des heimischen Energieverbrauchs und des eigenen Konsums gehen bei uns dafür ja voran. Ich sehe wohl, dass die Zeit drängt, die Zukunft für meine Kinder und die aller anderen Eltern zu erhalten. Was jedoch mitnichten bedeuteten sollte, dass wir unsere gegenwärtige Kultur einfach abschaffen müssen. Modifizieren wäre die passendere Herangehensweise.

…mit Herz ginge vieles besser…

Die Radikalität, mit der bestimmte Veränderungen eingefordert werden, überfordert den größten Teil der Menschen. Würde man sich stattdessen der Methoden des Change-Managements bedienen, wären die Erfolge weit schneller erzielbar. Das wahre Problem sind denn auch nicht die Menschen in der Masse, sondern jene, die Macht und Ressourcen haben und diese um jeden Preis behalten wollen. JEDEN PREIS! Die würden nicht absaufen, wenn die Kölner Bucht dereinst den Namen verdient. Sie hätten alle Möglichkeiten, da zu überleben, wo’s auch dann noch ganz nett ist und würden mit Wonne auf den Rest der Menschheit scheißen. So lange wir Gier-gesteuerten Manchester-Kapitalisten allen Einfluss auf die Politik lassen und uns als braves Wahl-Volk verhalten, wird sich daran auch nichts ändern.

Also zurück zum Festtagsbraten. Natürlich ist es ein Zuviel. Ein heilsames Zuviel für die Seele. Dadurch wird’s nicht gerechter oder ökologisch sinnvoller. Aber wir als Spezies haben da noch einen sehr langen Lernprozess vor uns. Auch wenn das FFF und die Leute bei Extinction Rebellion nicht wahrhaben wollen, wird es nicht schnell gehen. Deren Einzel-Aktionen erzeugen zwar nach und nach Öffentlichkeit und damit Verständnis für die Anliegen, solange der (höchst individuell zu sehende) Bogen dabei nicht überspannt wird. Doch eine Änderung der Welt als Ganzes werden Sie damit weder schnell noch nachhaltig hinbekommen. Doch, wenn auch nur einer deswegen sein Handeln ändert, hin zu mehr ökologischem Bewusstsein, sind wir auf dem richtigen Weg.

Man darf mich hier nicht falsch verstehen: ich finde, dass FFF und XR einen hohen Wert haben. Doch ich kenne den Mensch und die Gesellschaft gut genug, um zu wissen, dass man sich nicht einfach irgendwo hinstellen und schreien kann, damit alles gut wird. Und das wissen die Aktivisten in ihrem Herzen auch. Weihnachten sollte eigentlich eine Zeit des Friedens sein. Wir können das Private zum Teil auch politisch werden lassen; ein Stück weit war es das schon immer. Aber wir können niemanden dazu zwingen, das genauso schnell zu tun, wie FFF und XR das fordern. Weshalb ich meiner Familie an einem Tag im Jahr die Illusion schenke, dass Frieden herrscht und irgendwie alles gut wird. Es ist das beste Geschenk, dass ich machen kann. Und wenn’s das nächste Mal eine Lammkeule aus ökologischer Landwirtschaft wird, nicht eine, dass ich hastig besorgen musste (so, wie mein ganzes Leben derzeit subjektiv im Modus der Hast läuft), dann ist mein eigenes Gewissen auch besänftigt. Friede euch allen! Nach den Festtagen können wir wieder streiten…

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Der verwirrte Spielleiter #15 – Team up!

„… und dann zog die Abenteurergruppe gemütlich in den Sonnenuntergang.“ Wer glaubt denn sowas? So lange ich nun schon Pen&Paper betreibe; aus 3-5 special Snowflakes ein Team zu generieren, dass seine Aufgaben tatsächlich gemeinsam angeht und auch erledigt, hat bisher nur selten problemlos funktioniert. Meistens macht jeder dieser kostbaren Solitäre sein eigenes Ding und wenn das funktioniert liegt es a) daran, dass die anderen Solitäre aus Versehen halbwegs komplementäre Fähigkeiten haben, b) diese aus purer Gnade ab und an auch mal für Andere einsetzen oder c) der SL häufig alle Augen (incl. der Hühneraugen) zudrückt.

Ich bin kein großer Freund des klassischen Fantasy-Gruppen-Konzepts, dass man auch aus MMORPGs kennt (Tank, Damage-Dealer, Rogue, Mage, Cleric). Und das sich im Übrigen auch auf andere Genres übertragen lässt (Tank, Damage-Dealer, Rogue, Techie, Pilot, Medic). Denn wenn ich eine Gruppe zwangsweise nach dieser Struktur aufzubauen versuche, wird zwangsläufig irgendjemandes Charakter-Wunsch hinten runter fallen. Stattdessen arbeite ich damit, das Setting einzuführen, etwas über die Welt zu erzählen, etwas über die Konflikte und Prämissen zu erzählen (sofern ich diese schon enthüllen kann/möchte) und mich mit den Spielern über ihre Wünsche zu unterhalten. Spielt man mit den gleichen Leuten öfter, sind die Wünsche oft gleichartig, aber man wird ab und an auch mal überrascht.

Allerdings stelle ich, wenn ich mir manche Gruppenbeschreibung im Netz so durchlese, einen Trend zu dysfunktionalen, von ihren Dämonen gejagten Charakteren fest, die oft sehr individuelle Zielabsprachen mit dem Schicksal getroffen haben. Was nicht selten zu Konflikten zwischen den Charakteren führt. Das kann reizvoll sein; es kann aber auch bei der erstbesten Gelegenheit die Gruppe sprengen. In jedem Fall sollte man das bei besonders extremen Problemen vor Spielbeginn mit allen bereden. Dabei ist es ja nicht notwendig, öffentlich auf Details einzugehen, die als Plothook für den jeweiligen Charakter dienen, aber es muss Konsens darüber herrschen, ob das Charakterkonzept schon irgendwie in die Gruppe passen wird, oder eben gar nicht.

Aus dem beschriebenen Vorgehen entstehen nun zumeist aber natürlich Charaktere, deren Fertigkeiten NICHT zwangsläufig aufeinander abgestimmt sind. Das führt zu Dopplungen, aber auch mal zum Fehlen von Wissensressourcen. Was ich nicht schlimm finde, denn es kann ja auch eine Herausforderung für sich sein, eine fehlende Ressource zu beschaffen, um ein bestimmtes Problem lösen zu können. In jedem Fall wird das Investment des Spielers vom Start weg größer sein, als wenn ich ihm einen generischen Damage-Dealer hinknalle und sage „SPIEL UND STIRB!“. Ich persönlich stelle den Spieler lieber Fragen über Herkunft, Motivation, No-Gos, Ziele, etc. Und ich versuche vom ersten Augenblick an, die Spieler zu mehr, als nur zum Würfeln zu nötigen. Die ersten zwei Charaktere meiner immer noch laufenden Cyberpunk-Runde wurden während der Startphase der ersten Sitzung in einen Terroranschlag verwickelt. Bei einem Charakter wurde der Beschützer-Instinkt wach, beim anderen der Kampf-Instinkt – und keine fünf Minuten In-Game-Zeit später waren sie in eine wilde Verfolgungsjagd verwickelt und mussten ihre Ressourcen poolen, um zu überleben.

Natürlich ist es nicht nett, die Charaktere gleich zu Beginn in eine Überforderung zu verwickeln. Aber je nach Charakterkonzept, Setting und Metaplot kann es die richtige Lösung sein. Denn eher selten kommen alle Chars, wie in einer der Runden, in denen ich spiele, aus dem gleichen Dorf und kennen sich von Kindesbeinen an. Wichtig ist, durch gezielten Einsatz der Mäeutik die Spieler dazu anzuregen, selbst die richtigen Fragen zu stellen; dem SL, den NSCs, zuerst und vor allem aber den anderen Charakteren. Denn je mehr sie übereinander lernen, desto mehr werden sie verstehen, wie die anderen als Person funktionieren und wie man gegenseitig das Beste auseinander herauskitzeln kann. Das führt zu Team-Building. Aber es braucht Zeit. Und es klappt nicht immer gleich gut.

Eine interessante Frage ist immer, ob es so jemanden wie den Teamleader gibt; jemand, der am Ende des Tages Entscheidungen trifft und eine Richtung festlegt, der die anderen auch zu folgen bereit sind. Und hier sind wir tatsächlich von den Persönlichkeiten der jeweiligen Spieler abhängig. Es gibt Leute, die eine Gruppe führen, obwohl ihr Charakter eigentlich nicht dem typische Anführer-Stereotyp entspricht. In der einen Spielrunde bin ich die Bardin und die anderen – inclusive des Ritters – haben mich vorgeschubst, als es um die von einem NSC direkt gestellte Frage ging, wer das Team führt. Könnte an der Rampensau tief in meinem Inneren liegen. Ich versuche echt, die Rolle verantwortungsbewusst auszufüllen, was allerdings häufiger zu Reibereien führt. Bislang fühlte sich aber noch keiner bemüssigt, die Rolle des Teamleaders für sich zu reklamieren. Öfter aber erlebe ich, sowohl als Spieler, wie auch als SL, heutzutage eine Art Demokratie in der Gruppe; kritische Entscheidungen werden meist gemeinsam getroffen. Was in der Folge interessante Auswirkungen haben kann.

Pläne schmieden scheint ja sowas wie ein Fetisch für Rollenspiel-Runden zu sein, gleich welchen Genres. Sie diskutieren die Situation, die Probleme und die möglichen Herangehensweisen Stunde um Stunde, ohne zu einer Entscheidung zu kommen, ohne dabei die richtigen Fragen zu stellen, ohne einen echten Plan B in der Tasche zu haben; und vor allem, ohne sich je darüber im Klaren zu sein, wie die Fähigkeiten ihrer Chars zusammenpassen (und ich nehme mich hier nicht aus; auch wenn ich in letzter Zeit, zum Leidwesen meiner Mitspieler, angefangen habe, auf die Macht des „Plan X“ zu vertrauen). Beim Diskutieren denkt fast jeder meistens zunächst, wie er das Ding alleine durchziehen würde. Es gibt Systeme, die von vornherein darauf ausgelegt sind, die Spieler auf verschiedene Arten zur Zusammenarbeit zu nötigen. D&D 5th Edition z.B. bietet unfassbar viele Möglichkeiten, den eigenen Charakter zu gestalten, verlangt aber mit dem hoch Taktiklastigen Kampfsystem auch nach Spezialfertigkeiten und den richtigen Kombos dieser, um bestimmte Gegner bezwingen zu können. Für manche Leute hat das seinen Reiz; mir ist das schon zu Regellastig. Auch in diesem Kontext gilt, den Spielern durch gezieltes Nachfragen (ja manchmal schon fast Bohren) auf die Sprünge zu helfen.

Ist es tatsächlich erstrebenswert, dass die Gruppe als Team agiert, oder reicht es nicht vielleicht doch völlig, wenn die Chaoten… ähm sorry, Charaktere irgendwie in ungefähr die gleiche Richtung torkeln? Das ist eine Frage, die jede Runde für sich selbst beantworten muss. Ich benutze keine Systeme, die mir diesbezüglich zuviel taktische Erwägungen aufzwingen. Und manchmal – z. B. bei meiner neuen Urban Fantasy Runde – frage ich mich insgeheim, ob das so klappen kann. Ich lies den Spielern vollkommen freie Hand und die dabei entstandenen Charakterkonzepte sind famos. Ob sie auch zusammenpassen, werden wir in nächster Zeit herausfinden. Aus meiner Sicht ist ein perfekt aufeinander abgestimmt agierendes Team im Pen&Paper eine Illusion. Wenn ich sie aber dahin bekomme, dass sie dennoch füreinander einstehen und sich tatsächlich gemeinsam den Aufgaben stellen, ist die Entstehung von Epen garantiert. In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß beim Team-Building. Always game on!

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Ein Witz über Weihnachten?

Ich habe das schon bei mancher Gelegenheit getan: nämlich, mich über das Pogo-Hüpfen im Minenfeld zu beömmeln, dass die Festtage für viele Menschen darstellen. Das hohe Christfest im Kreise der Familie wird von manchem Autor eher als garstiges Gemetzel rings um den Gänsebraten beschrieben. Aber auch, wenn derlei Possen natürlich einen gewissen Unterhaltungsfaktor haben mögen – irgendwann ist genug davon. Doch nicht, weil mir Weihnachten auf einmal wieder heilig geworden wäre.

Römer haben vor 2020 +/- ein paar Jahren einen Juden ans Kreuz genagelt, der neue Ideen unters Volk gebracht hatte. Man darf getrost davon ausgehen, dass an der Geschichte, die alljährlich auf’s Neue erzählt wird, ein wenig historische Substanz dran ist, die eher mit Aufstand gegen ein repressives Regime zu tun hatte, denn mit der Geburt von Gottes Sohn auf Erden. Wir Menschen waren ja schon immer ganz gut darin, die „gute alte Zeit“ ex post zu verklären…

Nein, das mit reichlich heidnischem Brauchtum (geschmückte Bäume, etc.) verbrämte, mittlerweile zum hastigen Konsumspektakel regredierte Abfeiern im Abglanz fromm zitierter christlicher Glaubensgrundsätze, die dann doch weit häufiger ein bloßes Lippenbekenntnis bleiben, macht mich nicht zu einem gläubigeren Menschen, als ich das sonst auch bin. Womit nicht gesagt ist, dass ich ungläubig oder unspirituell wäre. Ich brauche dafür nur meistens keine Rituale. Und doch – an diesem einen Datum lasse ich diesen Ritualen Raum, denn sie haben tatsächlich einen erdende Funktion in meinem Leben.

Jedes Ende ist auch ein Anfang und zweifelsohne gibt es keinen besseren Zeitpunkt für einen selbstläuternden Rite de Passage, als zum kalendarischen Jahresende; Weihnachten fällt nicht zufällig in diese Zeit, hat Kaiser Konstantin es doch geschafft, die Bischöfe beim 1. Konzil von Nicäa davon zu überzeugen, den 25. Dezember als höchsten Feiertag des Sol Invictus-Kultes im römischen Reich in die damals noch junge christliche Liturgie mit zu übernehmen. Also feiern wir am 1. Weihnachtsfeiertag auch das, im heidnischen Glauben natürlich verehrte, Wiedererstarken der Sonne nach der Wintersonnwende, die üblicherweise auf den 21. oder 22. Dezember fällt.

Meine Selbstläuterung beinhaltet ein bewusstes Innehalten, ein Reflektieren, eine Introspektion, bei der das peinliche Einhalten gewisser tradierter Handlungsabläufe hilfreich ist. Auch, wenn mir das erst im Laufe der Jahre bewusst geworden ist: die Rituale und Traditionen, die sich im Laufe der Zeit rings um bestimmte Feiertage herausgebildet haben sind es, die den besonderen Wert solcher Zeiten für uns Menschen ausmachen. Weil diese Rituale uns zwingen, vom Alltag wenigstens kurz Abstand zu nehmen. Das klappt natürlich oft nicht so gut, wie man sich das erträumt, weil solche besonderen Zeiten in unserer schnelllebigen Welt leider nur zu gerne mit der Erwartung auf Perfektion aufgeladen werden, die – zu Weihnachten genauso, wie sonst den Rest des lieben langen Jahres – stets eine Illusion bleiben wird. Et voilá: garstiges Gemetzel, rings um die Gans…

Das ist bei mir daheim manchmal nicht anders. Aber das ist kein Grund zum Ärger mehr. Ich las heute einen Artikel auf Zeit Online (wo auch sonst), in dem sich die Autorin damit befasst, dem Nazi-Onkel auch am Festtisch entschieden entgegen zu treten. Was letztes Jahr, vorletztes Jahr und die fünf Jahre davor nix gebracht hat – egal, ob zu Weihnachten, Ostern, oder dem Geburtstag von Tante Hildentrude – wird auch dieses Jahr nichts bringen, außer Ärger und Verdruss. Mal davon abgesehen, dass die Lady sich dem naturalistischen Fehlschluss hingibt. Ich muss gar nix, nur weil ich „dem Guten“ dienen soll – was auch immer das sein mag. Nazis werden geboren, leben und sterben wieder und die in meiner Verwandtschaft betrachte ich als biologisch selbst lösendes Problem.

Was vom Feste dann übrig bleibt, sind zumeist überschüssige Kalorien auf der Hüfte, mancher Tand, den man nicht unbedingt gebraucht hätte, Erinnerungen aller Art und das Gefühl, dass es doch irgendwie ganz OK gelaufen ist. Ich schätze vor allem die Kalorien und die Zeit, die ich in den letzten Jahren – allem Trubel zum Trotze – für mich selbst freimachen konnte. Entschleunigung. So wie im Sommerurlaub, nur ohne Pool, Sonne und eine endlos lange Autofahrt. Denn der Teil meiner Familie, mit dem ich feiere, wohnt im Nahbereich. Auch dieses Jahr wird es wieder OK sein. Und falls nicht – habe ich genug Schnaps gebunkert. Cheerio und gesegnete Festtage!

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Ist Musik Geschmackssache?

Capital Bra ist ein Einhorn. Also nicht so ein flauschiges, niedliches, Regenbogen-farbiges, knuddeliges; sondern eher so ein abgerissenes, schmuddeliges, nicht ganz so hübsches. Was seinem Erfolg gegenwärtig wenig Abbruch tut. Meine Tochter (11) regt das total auf, denn sie kann den Typ und seine Musik nicht ab, manche ihrer Klassenkameraden (ebenfalls 11!) aber schon! Beim Sportlehrer bin ich mir nicht sicher, wie’s kommt, aber bei den Kids hat es was mit „Coolness“ zu tun. Oder besser – dem, was hier als „Coolness“ verkauft wird. Ich fange hier jetzt nicht mit einer hermeneutischen Analyse seiner Texte an, das wäre über’s Ziel hinaus geschossen. Aber sagen wir mal so: düsteres Capital, ähm Kapitel, dieser Wortschatz…

Sein Erfolg ist das Produkt geschickten Social-Media-Einsatzes und unfassbar hoher Präsenz. An der Qualität seiner Musik liegt es nicht unbedingt, die ist deutscher Rap-Durchschnitt; durchaus professionelle Produktion, jedoch nur bedingt akzeptable Schöpfungshöhe. Ich will – obschon in der Überschrift etwas davon steht – hier lieber nicht mit Geschmack anfangen, denn der ist nur angeblich individuell. Wo ich selbst diesbezüglich stehe, kann jeder wissen, der schon mal ein paar Blog-Posts von mir gelesen hat. Mich fasziniert denn auch eher das Medien-Phänomen „Capital Bra“, denn als Musiker nehme ich ihn definitiv NICHT ernst.

Wenn ich von der angeblichen Individualität des Geschmacks rede, denke ich als erstes nicht an Bourdieu, obschon das, was wir als unseren eigenen Geschmack wahrnehmen natürlich durch unser soziales und kulturelles Kapital (nicht Capital) vorgeformt wird. Heutzutage genießen soziale Medien jedoch ein Maß an Einfluss auf die Ausbildung eines individuellen Geschmacks, wie Bourdieu das zur Zeit seiner Untersuchungen (die 60er des letzten Jahrhunderts) unmöglich voraussehen konnte. Und vor genau diesem Hintergrund ist Musik eben nicht (nur) Geschmackssache, sondern auch Produkt sozialer Prozesse: „meine Kumpel mögen alle Capital Bra, also mag ich den auch, sonst gehöre ich nicht mehr dazu“, also Gruppenzwang ist da nur eine, wenig subtile Spielart.

Wenngleich Peer Pressure eine wohlfeile Erklärung ist, müssen wir wohl doch ein bisschen tiefer in der soziologischen Mottenkiste graben, um das Phänomen des Erfolges dieses jungen Mannes besser erklären zu können. Das Spiel mit den Rollen, aus deren Gleichgewicht sich später unsere Persönlichkeit zusammensetzt (Vater, Freund, Feind, Kollege, Untergebener, Vorgesetzter, Kunde, Dienstleister, Lehrer, Schüler, etc.) beginnt von Kindesbeinen an. Und der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule ist einer der wichtigsten Übergänge. Die Kids suchen sich Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, die in dem Durcheinander ihres Lebens, das noch kein so rechtes Ziel, keinen wahren Sinn ergibt, Orientierung geben können.

Das Internet hat die Auswahl an solchen Vorbildern demokratisiert. Jeder, der nur bekannt genug ist, kann zum Idol werden. Und auch, wenn mich das gruselt: Capital Bra ist für viele ein Idol, denn er hat Erfolg mit dem, was er tut. Früher wollten die Kids Feuerwehrmann werden, Polizist oder Astronaut. Heute Youtuber, Influencer oder eben Rapper. Weil, da hat man schnell Erfolg! Das für den Erfolg auch bei Capital Bra harte Arbeit notwendig ist und seine Welt gewiss nicht nur aus eitel Sonnenschein besteht, wird dabei übersehen. Denn dieses Maß an Reflexion müssen die Kids ja erst noch lernen (weswegen mich der Sportlehrer meiner Tochter immer noch gehirnfickt, der, obwohl er ja ein Studium überstanden haben muss, diesen doch sehr durchschaubaren Herrn immer noch gut findet. Sei’s drum…).

Nein, Musik ist nicht (nur) Geschmackssache. Sie ist auch Beeinflussung auf der Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Jede Form von Kunst oder Unterhaltung kann heute Einfluss auf unsere Lebensgestaltung haben. Je jünger der Rezipient, desto stärker. Genau aus dem Grund finde ich es problematisch, wenn 11-jährige unmoderiert Spotify u. Ä. nutzen dürfen und dann gesagt bekommen, wie (angeblich) das Leben auf der Straße läuft… Das Frauenbild, die Lebensgestaltung, wie man Respekt bekommt, etc.; alles, was die neugierig machende Kunstwelt in den Videos postuliert ist – mit Verlaub – gequirlte Scheiße, allerdings unterlegt mit einschlägigen Beats. Et voilá: Erfolg.

Capital Bra ist deshalb ein Einhorn, weil er es durch seine Medienpräsenz geschafft hat, den Rap mit anderen Genres, anderen „Künstlern“ zu verbinden, die natürlich auch nur ein Interesse am Klingeln der Kasse haben. Manche Leute, wie etwa Dieter Bohlen, tun für ein bisschen mehr Kohle einfach alles – keinen Dank dafür. Ich kann den Typ übrigens auch nicht ab. Ich gönne ihm seinen Erfolg dennoch. Ich glaube ja, ER wird wieder in der Versenkung verschwunden sein, lange bevor ICH aufhöre zu bloggen. Schönen Tag noch.

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Postmoderne Gedanken N°4 – Navi kaputt…?

Es ist ebenso einfach, wie banal vereinfachend, die Moderne anhand ihrer technischen und politischen Errungenschaften zu beschreiben. Und doch machen die Menschen in ihren Köpfen Zeitalter insgesamt an solchen Ankerpunkten fest, die sie in Büchern, im Geschichtsunterricht, auf Discovery Channel, oder irgendeinem sonstigen, als bildungsförderlich verschrieenen Medium erfahren haben. Da werden mehr oder weniger plakative Ereignisse, von denen Historiker annehmen, dass sie einen Einfluss auf „die Geschichte“ gehabt hätten irgendwie beschrieben. In der Schule musste man sich sodann Namen, Zahlen und Fakten merken, um sie zum Zeitpunkt der Klausur regurgitieren zu können. Natürlich lernt der Mensch so nicht wirklich etwas. Und doch ist das eine oder andere Datum hängengeblieben.

Sowas nennt man gerne Allgemeinbildung und mokiert sich immer mal wieder darüber, dass diese langsam aber sicher flöten geht. Doch ist es relevant, wann und wo Karl der Große zum Kaiser gekrönt wurde, wer wann zu wem nach Canossa ging, wann die Vereinigten Staaten gegründet wurden, wann Napoleon von Elba entfleuchte oder an welchem präzisen Tag die Weimarer Republik ausgerufen wurde? Oder sind nicht vielmehr die Mechanismen dahinter, die zu weitreichenden Änderungen für eine Menge Menschen geführt haben, viel interessanter; und vor allem relevanter? Ohne Zweifel sollte man über einige der vorgenannten Ereignisse irgendwas wissen. Denn manches davon wirkt bis in unsere heutige Zeit nach. Doch die Vermittlung erzeugte nicht allzu selten hier nur enzyklopädisches Wissen ohne jeglichen Bezug zu unserer eigenen Lebensrealität. Und solche „Allgemeinbildung“ ist höchstens auf Stehparties relevant, wenn man sich im Lichte seiner Gelehrsamkeit sonnen möchte…

Heutzutage gibt es Apps, die einen zum Speed-Reader werden lassen sollen; meine Erfahrungen und Erkenntnisse über das Lernen lassen mich jedoch erheblich daran zweifeln, dass solche Techniken auch zu einem tiefgründigen Textverständnis helfen, wie man es z. B. für wissenschaftliche Texte benötigt. Abgesehen von dem Maß an Kontemplation, welches Lesen bei „Normalgeschwindigkeit“ in mir auszulösen vermag. Aber was weiß ich schon… Es ist ein Gefühl, dass ich jetzt natürlich mit Studien zu unterfüttern versuchen könnte; aber für mein privates Blog soll genügen, dass ich das krankhafte Effizienz-Steigern für extrem schadhaft für den Lernprozess und die Seele halte. Auch, wenn ich keine Achtsamkeits-Seminare verkaufen muss.

Da haben wir nun also jede Menge Menschen, die nutzloses – weil nicht vernetztes und mit lebensweltlicher, praktischer Relevanz aufgeladenes – Wissen anhäufen und dies mit echter Erkenntnis verwechseln. Ein weiterführender Beweis, warum es überhaupt möglich ist, einen Begriff wie „alternative Fakten“ zu lancieren, ist damit unnötig. Ich muss allerdings gestehen, dass jene, welche die Notwendigkeit dieser Erkenntnis beträfe, hier wahrscheinlich nicht mitlesen. Sei’s drum. In jedem Fall sind wir damit dem Postmodernen von einer anderen Seite näher gekommen. Denn so, wie die „Erfinder“ des Begriffes die Fehler der Moderne als Versprechen entlarven und dekonstruieren wollten, re-konstruieren sich wenig demokratische Kräfte nun eine neue Erzählung der Moderne, obwohl ihre Methoden diese hinter sich lassen.

Denn, obschon die Neu-Rechten, die Identitären, die AfD und die Faschisten ohne Sammelbezeichnung alles daran setzen, ein Bild von der „guten alten Zeit“ herauf zu beschwören, ist ihr Weg einer in eine neo-kapitalistische, neo-faschistische, neo-korporatistische und ganz und gar technokratische Zukunft. Die haben kein Interesse am „kleinen Mann auf der Straße“. Die wollen Macht akkumulieren, um ihre verqueren Vorstellung einer „guten neuen Zeit“ unter dem Deckmäntelchen der Tradition auf allen Ebenen durchzusetzen. Und wenn denen das gelingt… hängen Typen wie ich, die vor ihnen warnen und mahnen, am nächsten Laternenmast.

Unser soziales und politisches Navi scheint kaputt zu sein. Die Moderne ist vom Beginn an damit beschäftigt gewesen, das Ende ihrer eigenen Geschichte zu schreiben, weil der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zwangsläufig auch die weniger charmanten Seiten des ungebändigten Homo Sapiens in die Freiheit entlässt. Ich will mit dieser Feststellung keineswegs Bestrebungen das Wort reden, dem Menschen seine Freiheit wieder zu nehmen, wie „konservative“ Politiker dies gerne tun. Man muss sich nur der Konsequenz bewusst sein: nämlich, dass die Moderne mit all ihren Errungenschaften irgendwann von ihrem Schöpfer wieder abgerissen wird.

Was wir als nächstes bekommen werden, weiß ich genauso wenig, wie irgendjemand anders auf dem Erdenrund. Wenn wir uns aber eine Chance auf die Bewahrung der bewahrenswerten Errungenschaften der Moderne erhalten wollen – Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialversicherung, etc. – dann müssen wir auf dem öffentlichen Markt der Meinungen als freiheitlich denkende Menschen nicht nur die besseren Argumente haben, sondern diese auch vehement vertreten. Sonst werden die Kräfte, die behaupten, unsere Lebensform – was auch immer das meinen mag – zu bewahren, aber doch nur Macht besitzen wollen, alles, was mir als Demokrat lieb und teuer geworden ist, verschlingen und als braunes Depositum wieder auf diese Erde scheißen. Das werde ich nicht erleben. Schönes Wochenende.

Auch zum Hören…

Erwachsen bilden #11 – Kommunikation ist eine Kunst…?

Ich finde es irgendwie lustig, wenn manche 3-jährig Auszubildenden, aber auch Kollegen, welche sich gerade durch die Weiterbildung zum Notfallsanitäter leiden müssen, zusammenzucken, wenn das Thema „Kommunikation“ auftaucht. Man hat ja als Mensch diese naive Vorstellung, dass man sich schon mit Anderen austauschen könne und damit „die Beer g’schält wär“, wie man hier in der Gegend manchmal so sagt; an dieser Stelle Obacht: diese Redewendung ist älter. Jedenfalls zieht es sich wie ein roter Faden durch die Unterrichte, in welchen ich zu den mannigfaltigen Aspekten dieses Themenkomplexes referiert habe, dass die Leute fast körperliche Schmerzen zu bekommen scheinen, wenn ich das Wort nur in den Mund nehme.

Dabei ist Kommunikation, gleich auf welchem Kanal sie stattfinden mag, ein ubiquitärer Bestandteil unseres Daseins. Ich verweise – allerdings nicht ohne Schmunzeln – an dieser Stelle noch mal auf das erste Axiom nach Watzlawick: „Man kann nicht NICHT kommunizieren!“. Ist ein Allgemeinplatz, der jedem halbwegs intelligenten Lebewesen sofort einleuchtet und daher im Grunde keiner weiteren Erörterung würdig. Außer vielleicht, dass jeder von uns gut daran tut, sich Freiräume von Kommunikation zu schaffen. Denn wir haben, realistisch betrachtet, viel zu viele Kanäle, denen wir Beachtung schenken zu müssen glauben!

Ich habe mich selbst die Tage dabei beobachtet, wie ich innerhalb von etwa einer Stunde Telefon, E-Mail, Whatsapp©, Telegramm©, Threema© benutzt habe, wozu dann täglich noch Facebook©, seltener Instagram© und gelegentlich noch Skype© und GoTo©, sowie seit allerneuestem Slack© kommen. Und worauf lese ich meine Zeitung? Richtig, auf einem portablen digitalen Endgerät, dass all diese Kanäle in gebündelter Form zur Verfügung stellt. Es liegt jetzt übrigens auch auf dem Schreibtisch neben der Tastatur, mit der ich diese Worte schreibe. Ist das zu fassen?

Wenn jetzt irgendeiner die Schlagworte „Digital Detox“ und „Achtsamkeit“ im Kopf hat – davon rede ich gerade nicht. Natürlich hat es was mit Selbstsorge und Erhalt der eigenen Humanität zu tun, wenn man versucht, etwas weniger Zeit in soziale Medien und dafür mehr in das reale Leben zu investieren. Doch mich treibt natürlich die Frage um, ob man dem überhaupt entkommen kann? Und – falls die Antwort darauf JA lautet – wann und wie man das tun sollte?

Mit Blick auf die Auszubildenden muss ich als Pädagoge die Wirksamkeit digitaler Medien (seien das Cloudspaces für Materialien, Aufgaben und Lerntagebücher, Whatsapp-Gruppen zur Terminabstimmung, o.Ä.) kritisch hinterfragen. Gewiss bezeichnen wir unsere aktuellen Auszubildenden-Kohorten gerne als „Generation Z“ und unterstellen allen, dass sie „Digital Natives“ wären. Was sich – bei näherer Betrachtung – nicht selten als töricht herausstellt. Natürlich ist bei diesen jüngeren Menschen, die Telefonhäuschen, drei Programm im Fernsehen und 300-Baud-Modems nur als historische Relikte eines lange untergegangenen Zeitalters kennen, der Umgang mit neuen Medien oft sehr intuitiv. D. h. aber mitnichten, dass man sie da einfach schon mal rumwursteln lassen kann, weil sie das ja eh alles besser raffen als ich…

Die Pluralität der Kanäle und die Flut der zu verarbeitenden Informationen hat mitnichten innerhalb einer Generation eine evolutionäre Veränderung des Gehirns herbeigeführt. Wir haben immer noch nur ein Sensorisches Register, ein Arbeitsgedächtnis und ein Langzeitgedächtnis zur Verfügung, die während eines Tages in den Weiten des Netzes Höchstleistungen zu vollführen haben. Denn Medienkonsum muss moderiert werden, damit er nicht a) ins Leere läuft, oder zumindest die falsche Richtung und b) auch relevante Informationen zu Tage fördert, um Lernprozesse anzuregen. An dieser Stelle scheitern die meisten Lernplattformen kläglich. Einfach nur kuratierten Content auf eine Webseite zu klatschen, kriege ich auch in ein paar Minuten hin. Den Content für den Schüler mit Sinn anzureichern und so Lernen auszulösen ist die Kunst. Ich empfehle hier folgenden Buchtitel: „E-moder@ting“ von Gilly Salmon. Man muss sich vor dem Englisch nicht fürchten…

Wenn ich irgendein Projekt zu managen habe, das im Laufe der Zeit wächst und irgendwann auch mehr Mitarbeiter haben wird, komme ich nicht umhin, Daten, Deadlines, Strukturen, Meilensteine, etc. mit jenen zu teilen, die an dem Projekt teilhaben, oder es auf höherer Ebene verantworten. Und das gute alte Vier- oder Sechs-Augen-Gespräch ist natürlich eine wohltuend persönliche und zielorientierte Angelegenheit. Nichtsdestotrotz müssen viele Dinge im Laufe des Tages auf unterschiedlichen Wegen abgestimmt werden. Wenn ich dabei jedes Mal ein persönliches Gespräch führen möchte, werde ich irgendwann wahnsinnig. Entweder wahnsinnig viele Kilometer verfahren, wahnsinnig viel Zeit verschwenden, oder eben einfach nur wahnsinnig.

Moderation von Blended-Learning und Koordination von Projekten sind gute Beispiele für die Komplexität von Kommunikationserfordernissen. Und dabei habe ich noch kein Wort darüber verloren, worin die ganzen Hindernisse bestehen. Darüber reden wir gerne ein anderes Mal. Für heute möchte ich es dabei belassen, jeden dazu aufzurufen, mehr über Kommunikation zu lernen. Denn wenn wir bewusster, gezielter und achtsamer miteinander umgehen, machen wir unsere Welt besser. Guten Abend.

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