Ich schaue mir manchmal Videos von Guy Sclanders an. Er hostet „How to be a great gamemaster“ auf Youtube und vieles von dem, was er sagt, unterschreibe ich einfach. Jetzt bin ich allerdings über ein Video gestolpert, in welchem er darüber spricht, wie man als Mann daran gehen sollte, einen weiblichen Charakter zu spielen. Und dieses (schon etwas ältere) Video finde ich diskussionswürdig. Man muss dazu wissen: vielen Rollenspielern ist sowas unheimlich, weil sie entweder kein Interesse daran haben, sich in die Sichtweise eines anderen Geschlechts zu versetzen, weil es ihnen unnatürlich erscheint, weil es keinen Spaß verspricht, oder weil sie sich unsicher sind, ob sie das glaubwürdig hinkriegen, also ohne vollkommen überzogene Stereotypisierung. Ich selbst spiele übrigens seit vielen Jahren immer wieder weibliche Charaktere, weil mich die Idee des radikalen Perspektiven-Wechsels fasziniert.
Guy stellt dann in diesem Video eine Stereotypen-Taxonomie auf – und wenn ich ehrlich sein soll, schwankt die irgendwo zwischen unnötig und schlecht, weil sie den Umstand aus dem Auge verliert, dass Männer Frauen auch einfach als gleichberechtigte Menschen sehen könnten, so dass die Notwendigkeit des Stereotypisierens entfällt. Mal davon abgesehen: Wer würde denn bitte schön freiwillig eine „Damsel in distress“ spielen wollen? Es fällt mir ehrlich bis heute schwer, das vollkommen überdrehte Spiel von Cate Capshaw in „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ zu ertragen. Und ich weiß nicht, wie oft ich den Streifen schon gesehen habe. Er benannte jedenfalls neben der „DiD“ noch die „Shield Maiden“ (in seinen Augen eine Männerhasserin), einen Mix aus den beiden erstgenannten und die „Mutter“. Dann referiert er noch was über das Mäandern zwischen Stärke und Schwäche. Freunde der Nacht, jemand, der ein so eingeschränktes Frauenbild hat – oder zumindest damals hatte – sollte wirklich niemandem etwas über das Thema erzählen…
Genauso, wie Beziehungen, Liebe und ja, auch Sex im Rollenspiel gelegentlich thematisiert werden – und bei vielen Spielern wie SLs ungute Gefühle hinterlassen, weil die Leute sich mit dem Thema vielleicht schon in der Realität unwohl fühlen – stellt auch das Abweichen des Spielers von seinem eigenen Geschlecht bei der Charaktererschaffung oft eine beinahe unüberwindbare Barriere dar. So schwerwiegend, dass es viele SL gibt, die derlei untersagen. Nun gilt hier Regel N°1: das Spiel muss allen Beteiligten Spaß machen. Wenn einem nun Geschlechtsabweichungen zwischen Char und Spieler, oder die Thematisierung von Liebe und Sex (evtl. inclusive expliziten Beschreibungen) eher Unbehagen oder gar Ärger bereiten, dann gehört es nicht in die Spielrunde. Über sowas sollte man allerdings vorher gesprochen haben. So, wie auch über die anderen wichtigen Konventionen am Spieltisch! Solche Konventionen sind aus meiner Sicht übrigens demokratisch festzulegen.
Ich bin tendenziell bei sowas eher experimentierfreudig und auch bereit, Seiten meiner Persönlichkeit rauszulassen, die im normalen Alltag keinen Platz haben, weil sie stören würden oder schlicht die meisten Menschen nichts angehen. Denn der Rollenspieltisch in meinem Hause ist in aller Regel ein geschützter Raum. Was hier passiert, bleibt hier, außer vielleicht in anonymisierter Form, um hier in meinem Blog Dinge erklären oder reflektieren zu können. Daher nie Klarnamen, Char-Namen oder sonstige Bezüge. Und ja, ich mache, sowohl als SL, wie auch als Spieler Rollenspiel für Erwachsene, wo solche Themen auch mal auf der Tagesordnung stehen. Und ja, ich habe kein Problem damit, wenn Spieler mit Chars anderen Geschlechts spielen, ihre eigenen Grenzen ausloten, bewusst (manchmal auch ironisch überzeichnet) mit Stereotypen experimentieren und alle dabei Spaß haben; genau, weil ich das eben auch tue.
Was mich bei solchen Diskussionen immer wieder irritiert, ist die Bigotterie. „NEIN, an meinem Tisch gibt’s keine Geschlechtsverdreherei, keine Liebelein und keinen Sex. Das ginge zu weit!“. Aber dann wird am laufenden Meter rumgeschlachtet und auch gerne beschrieben, wie weit das Blut wohl spritzt. Erinnert an amerikanisches Kino: Splatter bis zum Abwinken, aber wehe irgendwo ist auch nur ein Nippel in Sicht… Vielleicht wäre es an der Zeit, im Rollenspiel anstatt dauernd über Rassismus und wie man diesen vielleicht aus seinen Publikationen heraus bekommt erst mal über Gleichberechtigung zu reden? Über die Frage, wie viele solcher verdrehter Stereotypen immer noch in den Köpfen von SLs stecken? Denn zweifelsfrei ist Pen’n’Paper – dem Schicksal sei Dank – viel diverser und weiblicher geworden, als es das in meinen Anfänger-Jahren war (zur Info, ich zocke seit 1989). Aber zu echter Gleichberechtigung fehlt immer noch einiges.
Nochmal: man kann als Spieler, wie auch als SL Stereotypen gerne verwenden, wenn man das bewusst tut, es für die Dramaturgie notwendig ist und sich alle am Tisch damit OK fühlen. Es gibt dabei definitiv ein ZUVIEL und das muss jede Runde für sich ausloten. Aber es fühlt sich für mich heutzutage manchmal so an, als wenn die Rassismus-Diskussion auch im Rollenspiel manchmal mit zu viel Dogma und zu wenig Augenmaß von Leuten befeuert wird, die „woke sein“ zu einer Ersatzreligion befördern wollen. Und das killt u.U. das lustvolle Spielen mit Stereotypen, die Grenzüberschreitung durch Char-Persönlichkeiten und damit einen Teil des Spiels der mir wichtig ist. Denn letztlich ist Rollenspiel immer auch das Ausloten der Untiefen des eigenen Selbst. Jeder meiner Chars repräsentiert einen, oder mehrere Teile meines Selbst, die ich im Alltag niemals ausleben könnte, weil es entweder viele Menschen irritieren oder aber justiziable Taten nach sich ziehen würde. Und das möchte ich nicht missen müssen, weil manchen Menschen die Fähigkeit zum Blick über den Tellerrand fehlt. In diesem Sinne – always game on!