Nichts geschieht ohne Grund. Sagt man zumindest öfter mal so dahin, aber es gibt Kontexte, in denen das zumindest dem Anschein nach stimmt. Wenn man ein Buch liest und eine Person auftaucht, die mit mehr als nur einem Nebensatz gewürdigt wird, dann darf man sich eigentlich recht sicher sein, dass diese Person im weiteren Verlauf der Geschichte noch irgendeine Rolle zu spielen haben wird. Schließlich hat der Autor sich ja was dabei gedacht, als er diese Figur hat auftauchen lassen; immerhin kennt der Schreiber ja schon vor dem Leser das komplette Storyboard. Zwar gibt es solche Nebenfiguren, die nicht notwendigerweise eine wichtige Rolle spielen, die einfach mal auftauchen, um den Plot etwas zu verzwicken, den Leser auf falsche Fährten zu locken oder eine auflockernde, vielleicht auch humoreske Einlage liefern zu dürfen, aber irgendwie fügen sie sich in das Universum der Geschichte ein und erfüllen einen Zweck.
Im Leben ist das nicht so. Wir treffen Menschen in all ihren Darreichungsformen und oft genug hat das Schicksal damit vielleicht im Sinn uns zu verärgern, zu demütigen, zum sich sorgen zu bringen oder sonst was; positive Dinge geschehen natürlich auch, aber wir alle wissen, dass man sich an die negativen Dinge besser erinnert, als an die positiven. Jedenfalls wirken die meisten Begegnungen im wahren Leben, in der prallen Realität zufällig, unarrangiert, chaotisch und gelegentlich in der Breite des Spektrums schlicht überfordernd, so dass man nie genau weiß was man kriegt – Forrest Gumps Pralinenschachtel lässt grüßen. Den Zweck mancher Begegnung im Leben zu entschlüsseln ist kompliziert und bei manchen ist es auch unmöglich, weil dieses chaotische Gebilde des sozialen Miteinanders zwar Strukturen hat, wir diese jedoch nur selten zu erkennen vermögen, selbst wenn man darauf trainiert ist. Zwar sagt man auch hier dann und wann, dass Nichts ohne einen Grund geschähe; was aber damit gemeint ist, nämlich dass wir einander stets auf der Basis von Chance und Wahrscheinlichkeit begegnen und vielleicht Freundschaft, Feindschaft, Liebe, Nutzen und noch vieles mehr in einer einzelnen Begegnung liegen kann, dass realisieren wir immer erst hinterher. Weswegen es auch so verdammt schwierig sein kann, den richtigen Partner zu finden…
Im Rollenspiel verhält es sich auf den ersten Blick eher wie in einem Buch. Wenn der Charakter eines Spielers zum ersten Mal denen der anderen Mitspieler begegnet, weiß jeder, dass dieses Tänzchen darüber entscheidet, ob eine Gruppe funktionieren wird, oder eher nicht. Dieses Wissen darum, dass diese virtuelle Person auch eine wichtige Rolle in der Geschichte spielen kann bzw. spielen will beeinflusst natürlich den Ablauf der einzelnen Spielerhandlungen in dieser Phase. Schließlich ist Rollenspiel ein Gruppenerlebnis, dass auf Miteinander ausgelegt ist. Für die Antagonisten ist doch der Spielleiter zuständig, oder? Sagen wir mal so: auch zwischen Spielercharakteren wurden schon legendäre Feindschaften geschmiedet. Ebenso natürlich werden viele Dinge zwischen den Charakteren (zumindest in den Gruppen, in denen ich spiele oder spielleite) erst später ausgehandelt; und vor allem immer wieder neu ausgehandelt, denn auch diese virtuellen Figuren sind einer Entwicklung entworfen, die sich nicht nur in den Statistika auf dem Charakterblatt widerspiegelt. Insofern ist eher der Vergleich mit dem realen Leben angebracht, denn was aus der so genannten Gruppendynamik entsteht, kann kein Spielleiter vorher sehen. Muss er auch nicht, wenn er zumindest halbwegs passabel zu improvisieren versteht.
Nun führt der Spielleiter ALLE Nichtspielercharaktere ein und stets sind die Ohren der Spieler gespitzt, denn das, was sie als Erstes herauszufinden versuchen ist stets, ob es sich dabei um eine wichtige oder eine Nebenfigur, um einen Protagonisten oder ein Antagonisten handelt. Und ab diesem Punkt wird es lustig; zumindest für den Spielleiter! Natürlich nehmen Spieler gerne an, dass sie in der Lage sind, die Zeichen, welche eine virtuelle Person wie ein NSC aussendet auch korrekt deuten zu können. Oder vielleicht an Hand von Aussehen, Habitus, Herkunft sagen zu können, ob und wie bei dem was zu holen ist, ob er einen Auftrag hat, Informationen besitzen könnte, einem in die Suppe spucken will, oder einfach nur schmückendes Beiwerk ist. Wenn man es seinen Spielern einfach und langweilig machen will, nutzt man die aus den Unterhaltungsmedien der Populärkultur allseits bekannten Stereotypen in erwarteter Weise. Mag man es allerdings ein wenig bunter, scheißt man auf Stereotypen und bedient sich am überaus reichhaltigen Arsenal der Absurditäten, welches die Realität bereit hält, zuzüglich eines nicht zu knapp bemessenen Schusses kaputter Phantasie; und schon können die Spieler ihre NSC-Taxonomie nehmen und in der Tonne ablegen. Und genau darauf basiert pointenreiches, spannendes und witziges Spiel. Man muss dies ja nicht immer tun, wenn man seine Spieler nicht vollkommen zur Verzweiflung treiben möchte, weil wirklich nichts so ist, wie es scheint. Auch das wird auf Dauer irgendwann langweilig. Aber das gelegentliche auf den Kopf stellen solcher ungeschriebener Konventionen wie „der Auftraggeber bei Shadowrun ist ein aalglatter Anzugträger namens Mr. Johnson“ erzeugt Irritationen, die den Spielfluss erheblich beleben können. Schließlich will auch der Spielleiter seinen Spaß haben!
Aber auch die Spieler können mittels der Ausgestaltung der Persönlichkeiten ihrer jeweiligen Charaktere dazu beitragen, dass das Spiel interessanter wird. Ein Zwergenkrieger muss nicht gleich ein Zwergenkrieger oder ein Zwergenkrieger sein, so mit Bart und Axt und Lederklamotte und Kettenhemd und dem alten Lied „Gold, Gold, Gold, Gold, Gold!“ auf den Lippen; kann man machen, muss man aber nicht! Wie ich schon einmal sagte, findet sich in jedem Charakter, den man spielt, immer auch ein Stück der eigenen Persönlichkeit wieder, dagegen kann kaum einer an. Aber man muss diesen Teil eines Chars ja nicht dominant werden lassen. Außer man selbst und alle anderen haben ihren Spaß damit, dann ist es einfach OK. Aber eigentlich geht es beim Rollenspiel ja darum, mal jemand anders sein zu können, die Sau auf eine Art rauslassen zu dürfen, wie z.B. ich, aber auch so gut wie jeder Andere dies in Realitas nie könnte. Darum heißt es ROLLENspiel, nicht wahr? Also, auch weiterhin viel Spaß mit überraschenden Begegnungen – and always game on!