Hey Du – mach mich an!

Es ist, wie es ist, die Welt ist im Wandel begriffen. Das „DU“ ist jetzt die Konvention. Sagt zumindest Rezo auf Zeit Online. Und mit Bezug auf Social Media weiß er Bescheid. Allerdings – und das entwertet seine Argumentation für mich ein bisschen – rekurriert er lediglich auf dem Umstand, das Social-Media-Nutzer das Personalpronomen „Sie“ für unhöflich halten, weil es dem Versuch gleichkäme, realweltliche Machtdifferentiale in die Online-Welt mitzunehmen; egal, ob diese nun wirklich wirksam sind, oder nur durch den Nutzer eingebildet.

[Exkurs:] Eine der Domänen der Genderforschung ist die Demaskierung von sprachlich verfassten Machtdifferentialen, die z.B. – aber nicht nur – Frauen in eine Defensiv-Position drängen und patriarchalische Machtansprüche festigen sollen. Inwieweit solche Strategien tatsächlich funktionieren, ist immer noch umstritten. Zweifelsfrei hat Sprache aber die Macht, Macht zu verteilen, oder aber Menschen auszuschließen. Insofern hat Genderforschung sehr wohl eine Daseinsberechtigung. [Exkurs Ende]

Schauen wir uns Rezos Argumentation mal näher an: Jemand, der altmodisch denkt, betritt einen Chatroom, ein Forum, eine Kommentarspalte und siezt seine Gegenüber. Die fühlen sich irritiert, ja sogar unhöflich behandelt, weil das „DU“ dort die Konvention ist. Rezo unterstellt Unhöflichkeit, weil man ja doch wissen können müsste, dass das in der digitalen Welt nun mal so ist. Ich unterstelle ihm – und seinen Kollegen, die vielleicht genauso denken – mangelndes Interesse an Soziologie. Denn um irgendeinen Machtanspruch, egal ob dieser nur subjektiv existiert, oder tatsächlich ein reales Analogon hat, dergestalt in die digitale Welt transponieren zu wollen, müsste ich a) mir bewusst sein, dass „SIE“ dort einen anderen Wert (nämlich keinen) hat und b) von den Leuten dort etwas wollen, dass es lohnt, verbal auf die Kacke zu hauen.

Realistisch betrachtet ist die unterstellte Verkettung von Wissen und Intention zu einer Kausalität möglich; jedoch hoch unwahrscheinlich, weil vielen Leuten a) nicht bewusst ist, dass das „DU“ dort die Norm ist und b) sie Machtfragen nicht interessieren… Sie sprechen so, wie sie es gewohnt sind, weil sie es irgendwann, irgendwo so gelernt haben. Man nennt das Sozialisation – und ehrlich gesagt kann man von jemandem wie Rezo, der doch ansonsten ein ganz cleverer Kerl zu sein scheint, erwarten, dass er solche Dinge in seine Überlegungen einbezieht. Solche „falschen“ Ansprachen passieren mir selbst übrigens auch regelmäßig, weil ich zugegebenermaßen beim Posten in Foren, etc nicht so bewusst darüber nachdenke, wie meine Sprache auf andere wirkt, wie ich das in meinem Blog tue.

Was mir aber viel wichtiger ist: das „SIE“ schafft Distanz im Diskurs, wenn ich diese brauche. Und seien wir mal ehrlich – wenn ich mich mal wieder online mit Faschos kabbele ist es ganz griffig, diese Spacken für ein „DU“ abzustrafen. Denn das verstehen diese Möchtegern-konservativen Rassisten ziemlich gut. Wir haben noch nie ein Bier zusammen getrunken und werden das unter dem Vorzeichen „der Fascho“ vs. „ich Soze“ wahrscheinlich auch nie tun. Aber man soll ja nicht ausschließen, dass der Fascho sich entwickeln kann.

Was mich betrifft: ich halte Rezos Argumentation dieses Mal für Bullshit. Ich verstehe, dass er von Boomern, bzw. älteren Menschen ganz im Allgemeinen enttäuscht ist, weil sie seiner Meinung nach (und die wird von vielen geteilt) unsere Welt in die Scheiße geritten haben. Und zum Teil ist das auch wahr. Dass die Macht, diese Welt durch den Einsatz von Social Media zu Veränderung zu zwingen allerdings auch von diesen alten Menschen geschaffen wurde und erst ganz allmählich reifen konnte, bzw. musste, entgeht ihm in seinem selbstgerechten Furor leider.

Tja Junge – dieses Mal hast du’s verkackt. Immer nur auf seine eigene Filterblase rekurrieren können anscheinend auch die jugendlichen Weltverbesserer. Mach’s das nächste Mal einfach besser, Verbesserer. Denk’s erst zu Ende, bevor du’s ins Internet scheißt. Dann ist es mir auch vollkommen egal, ob du mich duzt oder siezt. Und Tschüss.

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Der verwirrte Spielleiter #16 – …und wenn’s nicht klappt?

Von drin, vom Wohnzimmer komm ich her und muss euch sagen, es menschelt sehr. In mehr als einer Hinsicht. Man kommt zum Spielen zusammen. Manchmal kocht man zusammen, öfter isst man zusammen. Natürlich wird nicht nur über spielrelevante Dinge gesprochen. Wir haben beim Pen&Paper also in der Regel ein soziales Event vor uns. Ich nehme wahr, dass es heute nicht unüblich ist, Spielrunden aufzubauen, indem man in sozialen Medien inseriert und dann schaut, ob man zusammen kann – also spielen, meine ich. Was mich betrifft – früher war’s das schulische Umfeld, heutzutage rekrutieren sich meine (Mit)Spieler aus einem über Jahre, sogar Jahrzehnte gewachsenen Umfeld. Manchmal kommt jemand neu dazu. Aber auch diese Leute kenne ich aus dem einen oder anderen Kontext vorher schon eine Weile. Man könnte mich da durchaus als schnäkig bezeichnen.

Das hängt damit zusammen, das Ereignisse am Spieltisch – also Dinge, welche die Charaktere erleben – nicht selten auch auf das Seelenleben ihres Spielers wirken; im Guten, wie im Schlechten. Mies drauf zu sein, weil der Char gerade einen Tiefpunkt hat, ist quasi Teil des Designs. Denn ohne ein gewisses Maß an emotionalem Investment in Charakter und Geschichte kann man auch Hallen-Halma spielen. Also ist es geschickter, sich mit bekannten Gesichtern zu umgeben, dann ist es einfacher, diesen Stress auszuhalten. Und oft bin ich als SL dabei eher ein vermittelnder Pol. Allerdings geht es auch andersherum. Ist mir neulich als Spieler passiert.

Ich muss dazu sagen, dass mir Körpertausch-Geschichten noch nie besonders gut gefallen haben. Was bei Steve Martins „Der Mann mit den zwei Gehirnen“ noch irgendwie lustig anzuschauen ist, stellt für mich als Spieler einen Einschnitt in meine Autonomie bei der Entfaltung meines Charakters dar. Das kann tatsächlich manchmal nötig sein, wenn für die Geschichte ein spezielles Flair – also Fluff – gebraucht wird.

[Exkurs:] Als Fluff bezeichnet man üblicherweise die Teile eines Pen&Paper-Buchs, oder auch eines Charakterblattes, die sich mit Beschreibungen befassen, welche für die Spielmechaniken erst mal nicht von Belang sind. Zum Beispiel ein Flavour Text, der erklärt, woher Tamillos der Barbar kommt, und warum sein Volk Kriegshämmer Äxten vorzieht. Ist ja eher unerheblich, womit er Höllentrollen den Schädel einschlägt, oder? Komplementär dazu wird der Begriff Crunch gebraucht, womit die harten Fakten gemeint sind; also Statistika, Regelmechaniken, etc. [Exkurs Ende]

Nun jedenfalls war es dem Spielleiter wichtig, ein paar Fähigkeiten unserer Charaktere für einen definierten Abschnitt auszublenden, weil die Detektiv-Geschichte, die er sich ausgedacht hatte sonst nicht – oder zumindest nicht so gut – funktioniert hätte. Soweit legitim und auch ganz lustig. Insbesondere auf Grund eines Story-Twists, der so nicht vorhergesehen werden konnte: ich spielte eine Frau, die dann im Körper eines Mannes landete. Bei meiner Gattin war es genau umgekehrt, was für gewisse Erheiterung sorgte. Wir lösten den Plott mit gewissen Umwegen und kamen dahin zurück, wo wir hingehörten. Soweit kein Problem.

Doch der nächste Plott-Abschnitt war ein „edge of tomorrow“-Szenario, in welchem uns unsere Fähigkeiten, die ja für einen Charakter konstituierend wirken, schon wieder genommen wurden. Ich bin wahrscheinlich selbst Schuld, weil ich echt etwas anderes erwartet hatte, aber meine Reaktion war nicht gut – was den SL, der ein guter Freund ist, verständlicherweise verstimmt hat; insbesondere, weil er sich große Mühe gegeben hatte, ein wirklich buntes Spektakel vor uns auszubreiten. Man sollte dazu sagen, dass er zwar schon sehr lange spielt, aber noch nicht so lange spielleitet.

Ich habe das früher auch des Öfteren gemacht: die Chars mancher Fähigkeiten beraubt und ihnen gewisse Wege aufoktroyiert. Das Problem hier ist die Dosis. Man ist da ganz schnell beim Railroading – und dagegen sträubt sich in mir heutzutage, sowohl als Spieler, wie auch als SL alles. Ich will als Spieler keine vorgegebenen Lösungswege abarbeiten, sondern meinen eigenen Weg finden dürfen. Und wenn der SL den nicht vorhergesehen hat, muss er trotzdem klappen können, wenn das denn halbwegs plausibel wäre. Als SL lasse ich sie meistens machen. Natürlich gibt’s gewisse Grenzen, aber innerhalb dieser Grenzen können sie mehr oder weniger tun und lassen, was sie wollen. Manchmal zahlt man für sein Handeln oder Unterlassen einen Preis, aber das ist Teil von Leben. Im Spiel genauso, wie in der Realität.

Nun ist es so, dass er mir böse war. Ich habe meine Beweggründe erklärt und denke, dass er sie verstanden hat. Was nix daran ändern konnte, dass er mir erst mal sauer war. Aber ist das schlimm? Ich finde nicht, denn man kann a) nicht erwarten, dass es immer so läuft, wie geplant. Weder als Spieler, noch als SL. Und b) haben natürlich beide Seiten das Recht, einander mitzuteilen, wenn sie nicht gut fanden, was gelaufen ist. Ich bin muffelig vom Spieltisch aufgestanden, in die Küche gegangen und habe die Geschirrspülmaschine eingeräumt. Nicht nett, aber für mich hilfreich, um kurz von meinem Ärger zu entkoppeln. Wichtig ist, später miteinander zu reden. Ich werde hier jetzt keinen Exkurs über Deeskalation einfügen. Nur so viel: manchmal ist es gut, ein paar Tage zu warten, bevor man irgendwas klärt.

Wenn ich mir einen Char mache, will ich den Char spielen. Mit allen Vor- und Nachteilen. Natürlich kann ich Min-Maxen, insbesondere in den Systemen, in denen ich als Spieler und SL groß geworden bin. Und natürlich optimiere ich meine Chars auf die eine oder andere Weise. Und trotzdem sind sie (zumindest heutzutage – als Rotzlöffel war ich da schlimmer) keine annähernd omnipotenten Killermaschinen. Als SL muss man mühsam lernen, die Anforderungslevel Situations-Adäquat und Charakter-Adäquat fließend anzupassen. Das erfordert viel Übung. Und wenn einem erfahrene Spieler ein Szenario mit scheinbar lässiger Leichtigkeit auseinander nehmen – dann ist das so. Wenn sie dabei trotzdem ihren Spaß haben, ist alles gut!

Ich weise nochmal darauf hin, dass der SL Fan seiner Spieler sein sollte und nicht ihr Gegner. Wir spielen stets mit-, nicht gegeneinander. Auch sollte der SL Fan seiner Spieler und nicht seiner Geschichte sein. Denn die Geschichte erzählen die Spieler; der SL liefert lediglich den Rahmen für das Bild, das nun gemalt werden wird. In diesem Sinne – always game on!

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Postmoderne Gedanken N°5 – Sprache de-konstruiert?

Sich „einen Begriff“ von etwas machen, etwas „begreifen können“; das ist eine grundlegende Komponente des Lernens an sich. Natürlich – und das kann jeder ganz intuitiv verstehen – bedeutet es, sich Dinge durch eigene sinnliche Erfahrung aneignen zu können. Was ich anfassen, fühlen, riechen, sehen kann, dass kann ich im wahrsten Wortsinn be-greifen. Ein Begriff ist damit der Ausdruck des Verständnisses von einem Sachverhalt oder einem Gegenstand. Doch schon, wenn wir den Radius der Aneignung nur ein Wenig ausweiten und zum Beispiel eine Idee zu begreifen versuchen wollen, stehen wir bereits vor einem Problem. Denn nicht einmal den Prozess des Begreifens selbst können wir nun mit der Metapher von der Berührung beschreiben.

Schon in unserem ureigensten Kulturraum besteht also ein immanentes Problem darin, sich anderen wirklich verständlich machen zu können. Ein Bild, das in meinem Kopf wohnt, bleibt darinnen und wird nur schwerlich durch bloßes Beschreiben ein wahrhaft kongruentes Abbild im Kopf eines Anderen finden können. Natürlich gibt es sowas wie gemeinsame kognitive Landkarten; sozusagen Pläne, durch die wir Wissen, Konzepte, Ideen und vieles mehr miteinander zu teilen vermögen. Unsere Sprache selbst ist eine solche Landkarte. Kognitive Landkarten entstehen durch den sozialen Umgang, das gemeinsame Lernen und Begreifen und brauchen für ihre Reifung vor allem zwei Dinge: Zeit und Training.

Teilen Menschen eine Sprache, wird das funktionieren. Doch wir Menschen sprechen nicht alle dieselbe Sprache. Und so wie das soziale Lernen einerseits und das sinnliche Begreifen andererseits unser Denken formen, so tut dies auch unsere Sprache, indem sie Begriffe für Konzepte bereitstellt – oder auch nicht. Die Kognitionspsychologin Lera Boroditsky forscht schon seit einiger Zeit an der Frage, wie stark unsere jeweilige Sprache unsere Wahrnehmung und damit unser Denken beeinflusst. Wer’s genauer wissen will, liest den verlinkten Artikel, aber ganz kurz gesagt: um eine Vorstellung von manchen Dingen haben zu können, brauche ich dafür ein Wort. Und manche Sprachen haben Worte für Dinge, die wir nicht verstehen; dafür sind zum Beispiel zum eigenen Standpunkt relationale Zeit- oder Ortsangaben manchmal nicht vorhanden. Da kann’s schon schwierig werden, sich um 13:30 am Paradeplatz zu verabreden….

Wenn Sprache aber auf so profunde Weise unser Denken beeinflusst, dann kann man sie auch als Waffe benutzen. Und das geschieht bereits an jeden Tag, da man Faschos erlaubt, den Diskurs im öffentlichen Raum zu brutalisieren. Gegen die Meinungsfreiheit, den Rechtsstaat, das Solidarische Prinzip, die Soziale Marktwirtschaft und eine offene, pluralistische Gesellschaft, kurz, gegen alle Errungenschaften unseres demokratischen Staatswesens wird gehetzt und polemisiert. Unsere wunderbare Sprache verroht, wird der Nuanciertheit und Tiefe beraubt und von Nazisprech unterwandert. Und was tut unser Ministerpräsident Kretschmann: findet, das Rechtschreib-Unterricht nicht mehr so wichtig ist, weil intelligente Geräte uns ja korrigieren. Diese nachgerade dämliche Aussage bedarf einer klaren Antwort: NEIN!

Ich bin kein Verschwörungs-Theoretiker, der über die Möglichkeit nachdenkt, durch Algorithmen dann den Wortschatz zu steuern und so alle ins Dunkel des Faschismus zu ziehen. Obwohl das – rein theoretisch – durchaus möglich wäre. Allerdings dient der Unterricht in Rechtschreibung ja auch dazu, das Sprachgefühl und den Wortschatz der Schüler wachsen zu lassen. Und wenn ich die nicht mehr – auch und gerade – mit der Notwendigkeit des Übens konfrontiere, lassen sie’s natürlich sein. Es ist zwar nicht so, dass der Gebrauch von sozialen Medien bislang nennenswerte Erosionsspuren in unserer Sprache hinterlassen hätte. Sprache als Kulturtechnik unterliegt allerdings immer einem gewissen Wandel, der auch jetzt zu beobachten ist. Doch bevor man dort schreibend und rezipierend tätig wird, sollte man die Fähigkeit zum schriftlichen Ausdruck gefestigt haben. Und dazu braucht es nun mal Rechtschreib-Unterricht, werter Herr Kretschmann.

Der Zusammenhang zwischen dem möglichen Begreifen unserer Welt und dem Erlernen von Sprache ist Manchem offenkundig nicht klar. Ich will es ein wenig vereinfachend ausdrücken, wenn ich Folgendes sage: verarmt die Sprache, so verarmt automatisch meine Fähigkeit, mir die Welt verstehend zu eigen machen zu können. Eine solche Begrenztheit des Horizonts würde manchen Menschen, deren Pläne ein gewisses Maß an blindem Gehorsam bei ihren Anhängern voraussetzen, gut in den Kram passen. Den Neurechten Denkern zum Beispiel. Für die meint „Dekonstruktion“ eine Absage an das zwanghafte „Interpretieren-Müssen“ von Texten. Nehme ich Worte aber einfach für wahr, ohne Sprecher, Kontext, Intention mit einzubeziehen, ist es viel wahrscheinlicher, dass ich dem Rattenfänger mit seiner Flöte hinterher renne.

Für mich bedeutet Dekonstruktion eher eine Veränderung der Art des Interpretierens; dabei spielen eben gerade Sprecher, Kontext und Intention eine wesentliche Rolle. Denn genau die Intention interessiert mich, weil diese zu verstehen das Mittel schafft, die Methoden zu demaskieren, mit denen die Faschos unsere Sprache unterwandern. Wahrscheinlich denke ich für viele zu kompliziert. Ich möchte aber, das meine Rezipienten da draußen eines mitnehmen: der Verrohung unserer Sprache und dem Verlust an Differenziertheit im Diskurs müssen wir entgegenstehen. Immer und Überall! Bonsoir…

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Übergänge im Nebel…

Irgendwann am Sylvester-Abend, den unsere Kinder zum allerersten Mal bis zum bitteren Ende – oder ist es vielleicht doch ein Anfang – mitmachen durften, stellte ich meiner älteren Tochter die Frage, ob sie denn denken würde, dass am nächsten Tag alles anders wäre, nur weil Sylvester sei. Wir waren darauf gekommen, weil sie diese unbändige, kindliche Freude auf das Neue auslebte und ich Depp mir dachte, eine kleine Dosis Realität wäre nicht das Schlechteste. Sie dachte jedenfalls einige Augenblicke nach und antwortete dann sinngemäß, dass es wohl darauf ankäme, was ich gerade meinen würde. Kluges Kind!

Jedes Jahr wieder feiern wir unsere hergebrachten Rituale. Ich hatte bereits neulich darüber gesprochen, wie sehr ich solche kleinen Zeichen brauche; Zeichen, die mir klar machen, dass in all den Wirren, all der Unsicherheit, all den Wagnissen ein Ort wartet, der Frieden und Ruhe schenkt. Selbst, wenn dieser Ort nicht unbedingt räumlich zu beschreiben ist, weil er sich erst im Tun wahrhaft realisiert. Ob das in unserem Wohnzimmer zu Weihnachten stattfindet, oder auf einem sonnenumfluteten Weingut im toskanischen Sommer, ist dabei einerlei.

Doch zurück zum Jahreswechsel. Er verlief erwartbar und ohne größere Pannen – will heißen, es gab zweierlei Fondue, Familienspiele, ein paar wenige bunte Lichter am Himmel (ja, ja, steinigt mich, wenn ihr wollt) und ’ne Buddel Sekt. Soweit, so normal. Auch das Zusammenkommen mit den Kollegen zum Neujahrsfeuer auf der Wache, bei dem meine Kinder die Gelegenheit bekamen, meinen Arbeitsplatz zu erkunden und alle anderen davon zu überzeugen, dass sie nicht von mir sein können, weil sie so wild sind, verlief harmonisch und stressfrei.

Doch was immer ich tat, oder auch unterließ – mit jedem Morgen, da die Arbeit näher rückte, wurde ich unruhiger, weil die Vielzahl der einzelnen Tasks, die mit meiner neuen Aufgabe einher gehen würden auf mich zunächst beinahe beängstigend wirkte. Da kam – subjektiv – ein Bulldozer auf mich zugerauscht, an dessen Steuer ein durchgeknallter Koffein-Junkie auf einem 42-Stunden-Trip saß. Ich behaupte ja immer, dass ich dem Prinzip „SATAN“ = Sicheres Auftreten Trotz Absoluten Nichtwissens huldige. Tatsächlich weiß ich meistens theoretisch ziemlich genau, was zu tun ist. Nur, wenn so viel auf einmal daher kommt…

Ich darf verraten, dass es dann doch nicht so schlimm geworden ist. Geschäftige Tage? OH JA! Heillose Panik? OH NO! Stress? OH DOCH! Womit wir irgendwie bei Louis de Funés angelangt wären, klingt ja schließlich schon etwas nach „NEIN – DOCH – OH!“. In vielerlei Hinsicht war es für mich ein Übergang im Nebel. Fahren auf Sicht. Die Dinge auf sich zukommen lassen. Denn wer lang genug in diesem Geschäft namens Leben unterwegs ist, weiß nur zu gut, das Pläne selten eins zu eins umgesetzt werden können, oder von vornherein falsch formuliert waren; Murphys erstes Gesetz und so.

Mittlerweile lichtet sich der Nebel etwas. Was nicht heißt, dass plötzlich eitel Sonnenschein herrschen würde. Andererseits geht’s mir gut. Ich muss lediglich meine Emotionen davon überzeugen, zu erkennen, was meine Ratio schon weiß. Womit ich ganz sicher nicht alleine bin. Also machen wir doch einfach alle zusammen unseren Frieden mit den schönen neuen Roaring Twenties und schauen einfach mal, was es wird. Wie sehen uns…

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Erwachsen bilden #12 – Auch noch erziehen…?

Oh weh! Immer wieder begegne ich der Frage, was der Praxisanleiter auf der Wache denn mit seinen Zöglingen anstellen soll? Was er tolerieren darf und was er korrigieren soll? Wie sich die aktuelle Tiefe und Komplexität des Ausbildungsstandes mit dem eigenen Tun und Lassen auf der Wache versöhnen lässt? Denn eines ist bei der NotSan-Ausbildung sicher: Theorie und Realität liegen oft um Welten auseinander. Und dabei rede ich noch nicht einmal von dem Disput um die Frage, welche (Be)Handlungs-Kompetenzen man Notsan zugestehen möchte, oder auch nicht. In dieses Dilemma werden die jungen Leute schon noch früh genug hineingezogen. Nein – mir geht es um die Frage, was den Azubis auf der Wache vorgelebt wird; und inwieweit das mit dem Unterricht zusammenpasst?

Den jungen Leuten wird am Anfang ihrer Ausbildung erklärt, was ein Spiralcurriculum ist und was das mit ihrer Ausbildung zu tun hat. Sodann beginnt man verschiedene Grundlagen aufzubauen und entlässt sie nach den ersten 8 – 10 Wochen Unterricht auf die Rettungswache, wo sie dann oft zum ersten Mal erleben, wie Kollegen den Job machen, welche die Erlaubnis zum Töten schon erworben haben. [OK, viele, die in die NotSan-Ausbildung kommen, haben vorher schon als RS gearbeitet. Aber eigentlich war das so nie gedacht. Und es bringt Probleme mit sich, über die ich an anderer Stelle reden möchte] Und das Drama nimmt seinen Lauf…

Beginnen wir einmal mit der Frage, ob ein 18-, 19-jähriger Mensch schon charakterlich reif ist? Nehmen wir Erik Erikson, lautet die Antwort: es hängt davon ab… Manche werden früher, andere später reif im herkömmlichen gesellschaftlichen Sinne. Was für uns als Ausbilder bedeutet, dass wir uns mitnichten auf die Position zurückziehen können, dass das Elternhaus es schon gerichtet haben wird und wir ihnen nur Skills eintrichtern müssen. Ein Ausbilder ist – in vielerlei Hinsicht – ein Role-Model. Eine Figur, an der sich Auszubildende orientieren. Auch jene, die schon eine gewisse Erfahrung oder ein höheres Lebensalter mitbringen. Denn auch für einen 23-jährigen RS gilt, dass er sozial erwartbares Verhalten produzieren wird, um mit den Wölfen heulen zu dürfen. Der Wunsch und Wille eines jeden Azubis ist nämlich zuvorderst, im Team ankommen zu dürfen.

Der Auszubildende muss also diese neue Rolle erst erlernen; ebenso, wie er die Rolle des verantwortlichen Teamführers im Laufe seiner Ausbildung erst erlernen muss. Manchen fällt das leichter, andere kämpfen während der gesamten Ausbildung damit. Die ständige Notwendigkeit, das Rollen-Gleichgewicht neu zu finden lässt in vielen Menschen eine Überforderungs-Situation entstehen. Das ist in der Berufsbildung umso wahrer, als hier auch noch Leistungsdruck hinzutritt. Beidem entgegen zu wirken, ist eine der wichtigsten und vornehmsten Aufgaben des Praxisanleiters und Fachschullehrers gleichermaßen.

Doch was erlebe ich in dieser Hinsicht? Manche Praxisanleiter scheinen echt der irrigen Meinung zu sein, dass die Persönlichkeitsbildung abgeschlossen zu sein hat, wenn das „Rohmaterial“ in ihre kundigen Hände gelegt wird; und sie bestenfalls noch die Grate schleifen müssen, um den Diamant zu Funkeln zu bringen. So ein Käse! Zuallererst muss ich als Ausbilder an meiner eigenen Einstellung arbeiten, denn sie wirkt auf meine Azubis; im Guten, wie im Schlechten! Und ich nehme mich selbst da nicht aus. Auch an mir erlebe ich dann und wann, dass ich ungeduldig reagiere, mir nicht genug Zeit nehme, die Sorgen meiner Azubis ignoriere, sie stehen lasse, etc. Nicht schön, aber wahr. Denn mir ist bewusst, dass sie mir nur folgen, wenn sie mir vertrauen. Und Vertrauen baut man nicht auf, indem man sie einfach machen lässt.

Natürlich müssen sie manche Fehler selber machen, um zu wissen, wie man diese in Zukunft vermeidet. Aber ich lasse sie doch nicht sehenden Auges in die Jauchegrube stürzen. Mache ich mit meinen Kindern ja auch nicht. Und selbst, wenn das Bild natürlich nicht ganz passt, denn weder sind sie noch Kinder, noch sind sie MEINE Kinder – die Verantwortung, die ich für sie übernehme, ist jener als Elternteil ziemlich ähnlich. Ein Umstand, dessen Kenntnis manche meiner Kollegen oft vermissen lassen. Ebenso, wie die gelegentlich nötige Distanz. „Tue, was ich sage, nicht was ich tue!“ ist in diesem Kontext ein bescheuertes Credo. Ausbilden Können hat was mit Leadership Ability zu tun. Und geführt wird von vorne!

Ich stehe an dem Punkt, da ich auf manche dieser Dinge bald etwas mehr Einfluss nehmen kann und ganz gewiss wird die Fortbildung von Praxisanleitern einer der Punkte auf meiner Agenda sein, dem ich besonderes Augenmerk widmen möchte. Denn ich kann – und das ist eine wichtige Message – vielen Praxisanleitern gar keinen Vorwurf machen, da sie es selbst nicht besser gelehrt bekommen haben! Hier liegt noch viel Arbeit vor der Community und ich will gerne meinen Beitrag dazu leisten, dem notwendigen Erziehungsaspekt der beruflichen Bildung die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihm gebührt. Bis die Tage.

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