Ja, ich habe auch so ein Bild gepostet, hat doch in der Woche jeder gemacht, was in der ersten Betroffenheit irgendwie auch erklärbar ist. Inzwischen ist man mit etwas Abstand wieder zum Tagesgeschäft übergegangen, in manchen Periodika sind noch Artikel über einzelne Betroffene zu lesen und immer mal wieder irrlichtert eine Meldung durch die Eilnachrichten-Ticker, das irgendwo in Frankreich oder Benelux abermals Terrorverdächtige inhaftiert worden seien. Vielleicht nicht ganz Business as usual, aber doch relativ nah dran. Denn seien wir doch mal ehrlich – tief im Herzen wissen wir alle, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis in Europa wieder Anschläge stattfinden würden. London und Madrid mögen hierzulande im Nebel des schlechten Gedächtnisses verschwunden sein, andernorts sind die Bilder immer noch präsent. Und das wir in Deutschland bislang von Attentaten solchen Ausmaßes verschont geblieben sind, ist mehr der Nachlässigkeit potentieller Dschihadisten zu verdanken, als den „Glanzleistungen“ unserer Sicherheitsbehörden. Vielleicht ist man ja nicht nur auf dem rechten Auge ein wenig sehbehindert…?
Ich werde gewiss nichts relativieren, die Morde in Paris waren schrecklich, sowohl aus menschlicher Perspektive, als auch hinsichtlich des Umstandes, dass mit dem Angriff auf eine Zeitungsredaktion sehr direkt auf ein Herzstück unseres demokratischen Selbstverständnisses gezielt wurde: nämlich unsere Meinungsfreiheit. Dass sich die Pegidisten dazu verstiegen haben, ausgerechnet der von ihnen so geschähten Lügenpresse zu kondolieren, bleibt eine zugegeben ekelerregend bigotte, aber dennoch im Gesamtzusammenhang eher unwichtige Randnotiz. Und auch wenn ich zunächst Deutscher, dann mit dem Herz Europäer und ebenso irgendwie auch Weltbürger bin, so liegen mir natürlich jene Ereignisse, die sich in relativer räumlicher Nähe zu meinem Zuhause abspielen gedanklich und emotional näher, als jene, die sehr weit weg passieren; von hier nach Paris sind es etwas mehr als 500 KM.
Was sich allerdings an Nigerias Grenze zu Kamerun, Niger und dem Tschad abspielt, jenes grausige Spektakel mit Namen Boko Haram, das sprengt die Dimensionen dessen, was wir in Europa als Terror erfahren mussten um ein Vielfaches und bleibt dennoch genauso eine Randnotiz, wie Pegida es eigentlich sein sollte. Möglicherweise Tausende getötet, schwer bewaffnete Milizen rücken auf Maiduguri vor, fordern die offensichtlich vollkommen überforderten Sicherheitskräfte Nigerias einmal mehr auf eigenem Grund heraus… und von alledem bekommen wir nur ab und zu ein Schnipsel präsentiert, obwohl sich dort eine politische und humanitäre Katastrophe zeitigt, deren Wurzeln der westliche Kolonialismus mit zu verantworten hat.
Nicht dass mich jemand falsch versteht: die Mitglieder von Boko Haram nennen sich vielleicht Dschihadisten, sind aber einfach nur Raubmilizionäre, wie so viele vor ihnen, ihre Einigkeit ist aus niedersten Beweggründen geboren und den Glauben nutzen sie lediglich als wohlfeiles Deckmäntelchen für ihr Menschenverachtendes Geschäft; wie im Übrigen auch Joseph Konys „Lord’s Resistance Army“, die im Namen „unseres“ Gottes seit Jahrzehnten Terror in Uganda und seinen Nachbarstaaten verbreitet. Doch den Boden solch schwacher Staatsgebilde, die es überdies leider allzu oft an echter demokratischer Legitimation vermissen lassen, haben die einstigen Kolonialmächte bereitet, indem sie erst vorhandene Strukturen zerstört, sich dann ungehindert bereichert und sich, als die Rechnung nicht mehr funktionieren wollte rasch zurückgezogen haben; und die derart destabilisierten Ex-Kolonien einfach sich selbst überließen. In den so künstlich geschaffenen Machtvakua brachen alte Konflikte entlang ethnischer und religiöser Grenzen, welche von den Kolonialmächten einfach mit Gewalt befriedet worden waren, mit Macht wieder auf.
Bedauerlicherweise konnte so mancher Staat in Afrika sich bis heute nicht von den Dämonen der Vergangenheit frei machen, was mannigfaltige Konsequenzen nach sich zieht. Zum einen bittere Armut, die zu bekämpfen sich heute ironischerweise Entwicklungshelfer aus eben jenen Länden aufmachen, deren Kolonialpolitik in der Geschichte viel dazu beigetragen hat, den furchtbaren Status Quo aufzubauen. Die daraus notwendiger Weise resultierenden sozialen Verwerfungen, denn wer glaubt bitte, dass jenes Geld, welches von der Weltbank oder anderen Gönnern auf die Konten autokratischer Regimes überwiesen wird, auch wirklich in Entwicklung oder soziale Projekte fließt…? Und schließlich die, bereits erwähnten, ethnischen und religiösen Unterschiede. Für viele Afrikaner ist der Klan oder Stamm kulturelle Heimat, nicht die Nation auf deren Boden sie leben, wurden die Grenzen doch oft willkürlich von den Kolonialmächten gezogen.
Ja, Terror in Europa ist wirklich schlimm! Aber Terror anderswo, zum Beispiel in Afrika ist ebenso schlimm und verdammungswürdig! Insbesondere, wenn man die Verantwortung der ehemaligen europäischen Kolonialmächte für den gegenwärtig instabilen Zustand vieler afrikanischer Staaten mit in Betracht zieht. Und genau deshalb ist Charlie Hebdoe für mich kein Thema mehr. Die Menschen, die davon direkt betroffen sind, haben mein Mitgefühl und meine Trauer. Aber ich war und bin nach wie vor entsetzt, wie wenig die gewaltigen Sicherheitsapparate, die zu unterhalten wir in den entwickelten Industrienationen der ersten Welt uns leisten, an der Terrorgefahr wirklich ändern können. Und ich bin ebenso entsetzt, wie in diesem typischen, reaktionär-konservativen Reflex des nutzlosen Glaubens an Überwachung wieder einmal nach einer Aufweichung unserer Bürgerrechte gerufen wird. Wie die üblichen Verdächtigen uns noch transparenter machen wollen, anstatt an der eigenen Transparenz zu arbeiten und sich endlich zu den wahren Werten unserer Demokratie zu bekennen. Wie hieß noch gleich das Motto der Franzosen: Liberté, Egalité, Fraternité: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Klingt gut, nicht wahr? Ich bin mir ziemlich sicher, wären das tatsächlich die Werte, die auch von der Politik gelebt würden, gäbe es nicht so viele junge Menschen, die sich radikalisieren lassen und im Namen falsch verstandener Religiosität Verbrechen begehen.