Was Pen’n’Paper so ganz grundsätzlich ist, darüber konnten wir vermutlich in den letzten Jahren Einigkeit erzielen. Immer mal wieder geisterte dabei der Begriff „Spielstile“ durch meine Ergüsse. Eventuell ist es an der Zeit, hierzu noch mal einiges klarzustellen. Denn eigentlich beschreibt das einfache Wort „Spielstil“, wie die Rollen am Tisch tatsächlich ausgefüllt werden. Und ich möchte eine Aussage voran stellen, die mir wirklich wichtig ist: ich respektiere alle Arten, im Pen’n’Paper eine Rolle auszufüllen als gleichwertig, so lange die anderen am Tisch dadurch nicht benachteiligt werden. Ich selbst mag eine spezielle Art des Spielens haben und leben, aber das ist MEINE ART und ich mache niemandem bezüglich seiner Art Vorschriften. Was allerdings im Umkehrschluss bedeutet, dass es unterschiedliche Arten gibt, an die Dinge heran zu gehen, nicht wahr? Man kann Spielstile nach meiner Erfahrung entlang zweier Dimensionen einordnen (ohne daraus jetzt ein Schaubild basteln zu wollen): Motivationstiefe und Interaktionstiefe. Wir beginnen mit dem einfacheren der beiden, der Interaktionstiefe:
- 0-dimensionale Interaktionstiefe: Solche Charaktere sind nicht viel mehr als ein oder zwei dominante Charakterzüge (schroff, bösartig, verspielt, offenherzig, lüstern, Loot-geil, zurückhaltend, etc.) und ein paar markante Einzeiler. Hast du eine Szene mit ihnen gesehen, hast du jede Szene gesehen; Heath Ledgers Joker aus „The Dark Knight“ ist so ein Charakter. Er ist definiert durch seinen brutal egozentrischen Nihilismus, spielt gerne mit seinen Gegnern und „würzt“ seine Auftritte durch seine unverwechselbaren Sprüche. 0-dimensional bedeutet nicht, dass ein Char zwangsläufig schlecht, böse oder dumm ist. Oder das man damit nicht auch im Pen’n’Paper Spaß haben könnte. Er hat nur nicht so viel emotionale Tiefe. Den Joker auf der Therapeuten-Couch hätte allerdings auch niemand sehen wollen. Solche Charaktere interagieren nicht wirklich mit anderen Chars/Spielern am Tisch, sie simulieren lediglich Interaktion und ihre Spieler sind ansonsten eher an der Action interessiert, weniger am Drama. Hier versetzt sich der Spieler nicht in den Char und er erlebt das Abenteuer auch nicht im herkömmlichen Sinne, sondern bleibt in der Third-Person-Perspective; oder gar in der isometrischen Draufsicht. Zumeist reflektieren diese Chars einen oder mehrere Aspekte der Persönlichkeit des Spielers ziemlich deutlich.
- 1-dimensionale Interaktionstiefe: Dieser Char hat schon ein paar mehr Ecken und Kanten, und ist in der Lage „in character“ mehrere zusammenhängende, sinnvolle Sätze mit NSCs und anderen Chars auszutauschen. Allerdings ist diese Interaktion stets funktional, denn auch hier ist das Hauptinteresse die Action, nicht das Drama. Auch die Tiefe der Immersion ist zumeist begrenzt und variiert je nach Lust und Laune des Spielers und dem Thema der laufenden Szene. Han Solo ist so eine Figur. Man sieht über alle Filme hinweg eher wenig charakterliches Wachstum, und die emotionale Tiefe seines Handelns ist selbst hinsichtlich der Lovestory mit Prinzessin Leia begrenzt. Man kann ab und zu im Tun solcher Chars bestimmte Motivationen erkennen, diese bleiben jedoch zumeist recht oberflächlich und gehen selten über die Ziele des jeweiligen Abenteuers hinaus. Viele Pen’n’Paper-Chars fallen in diese Kategorie. Die Spieler schlüpfen auf diesem Level dann und wann tatsächlich in die Haut ihres Charakters, bleiben aber bei ihrer Sicht der Dinge. Sie abstrahieren oft nicht, dass ein Char, der anders aufgewachsen ist als sie, eventuell einer anderen Spezies angehört, auch anders auf bestimmte Stimuli reagieren könnte, sondern sind zumeist bei sich. Evtl. werden trotzdem einzelne dominante Aspekte der anderen Persönlichkeit erlebt.
- 3-dimensionale Interaktionstiefe: Man kann in der Interaktion und dem sonstigen Handeln solcher Charaktere übergeordnete Motive und emotionale Tiefe erkennen. Solche Chars denken und handeln eigenständig von normalen Handlungsmustern des Spielers und können eine komplett andere Persönlichkeit haben, als der Spieler (müssen sie aber nicht), wobei der Spieler versucht, durch die Augen dieser Figur zu sehen und mit dem Kopf dieser Figur zu denken. Das Level der Immersion ist hier sehr hoch, Brüche in der Kontinuität der Spielwelt werden wesentlich intensiver und störender wahrgenommen, als auf den zwei vorbeschriebenen Leveln von Interaktionstiefe. Auch Spieler solcher Charaktere mögen die Action, doch für sie spielt das Drama eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Bruce Banner, der „Hulk“ ist so ein Charakter. Sein innerer Kampf wird immer wieder gut sichtbar und seine übergeordneten Motive, seine Moral, wenn man so will ist, ein Movens seiner Handlungen; und zwar unabhängig von der aktuellen Aufgabe.
Diese Charakterisierungen suggerieren eine gewisse Trennschärfe. Die ist aber gar nicht immer gegeben. Einerseits entwickeln sich Spieler, aber auch ihre Charaktere weiter. Aus dem anfangs noch unerfahrenen, oft eher actionrientierten Zocker, wird manchmal mit der Zeit ein Charakterplayer. Andererseits wird aus dem frischen Char, auf den man sich erst noch eingrooven muss mit der Zeit eine echte Persönlichkeit. Solcherlei „Evolutionen“ konnte ich schon des Öfteren beobachten. Allerdings ist das kein Automatismus, und manchmal bleibt alles bei 0-dimensional. Noch mal zum Verständnis: das ist keine Wertung. Auch eine Truppe von lauter 0-dimensional interagierenden Chars kann verdammt viel Spaß machen. Probleme entstehen immer erst dann, wenn unterschiedliche Interaktions- und Immersionstiefen zu Konflikten am Spieltisch führen. Als SL stehst du dann manchmal daneben und denkst dir „Ach Kacke“, kannst aber nur wenig tun, außer darüber reden. Einer der Hauptgründe für eine richtige Session 0, die ich noch so gut wie nie wirklich zelebriert habe ist, Erwartungen und Prämissen abzugleichen, um so was zu verhindern. Klappt voll gut… Also weiter zur Motivationstiefe:
- geringe Motivationstiefe: der Spieler will zocken, also will der Charakter ins Abenteuer. It’s as simple as that. Backstory? Passiert anderen. Moralischer Kompass? Denk ich wann anders drüber nach. Was ich will? Loot, Loot, Chars wollen Loot, den kräftig Looten macht den Abend gut! [Sorry, Subway to Sally] Wenn sie ihn denn entdecken, und er halbwegs fette Beute oder wenigstens Erfahrungspunkte verspricht, springen sie schnell und gerne auf den Plotbus nach Cottbus. Ansonsten wird es eher schwierig. [kurzer Exkurs: Hier fällt’s mir wirklich schwer, nicht zu werten, denn das Spiel heißt ROLLENspiel. Wenn ich aber eine Rolle spielen möchte, muss ich wenigstens irgendeine Idee davon haben, was diese Figur vom Leben (an sich, bzw. als Abenteurer) erwartet. Andernfalls kommt der SL recht schnell an seine Grenzen, wenn’s darum geht, solche Chars ins Abenteuer zu bringen!] Wichtiger Hinweis: es erscheint zwar möglicherweise seltsam, aber man kann eine geringe Motivationstiefe tatsächlich mit 3-dimensionaler Interaktionstiefe kombinieren. Es geht nur nicht allzu lange gut… Moralische Dilemmata können solche Chars nämlich nicht lösen!
- mittlere Motivationstiefe: dieser Spieler hat mehr als nur vage Vorstellungen von den moralischen, politischen, religösen, kulturellen, etc. Meinungen und Überzeugungen seines Chars, und lässt dies auch (je nach Interaktionstiefe) in sein Spiel einfließen. Die sichere Differenzierung zwischen Meinung, Überzeugung und Dogma gelingt allerdings nicht immer, und bestimmte Aspekte wurden (evtl. bewusst) ausgespart, um sich mehr Flexibiltät beim Spiel gönnen zu können. Eine gewisse Vorgeschichte bietet dem SL Plothooks, an die man anknüpfen kann (nicht muss), und für den Spieler ist relativ klar, wie sein Char auf die meisten Stimuli reagieren würde. Moralische Dilemmata stellen allerdings eine große Herausforderung dar, die oft nur ungern angenommen wird, weil man sich seine Chars im Rollenspiel gerne vor allem moralisch flexibel hält. Ein Luxus, den es in der realen Welt für die allermeisten Menschen nicht gibt.
- große Motivationstiefe: Dieser Spieler und sein Charakter wissen recht genau, wo sie schlussendlich hinwollen, warum sie dort hinwollen, und wie sie dort hingelangen wollen. Dieser Char zeigt, wenn er sich darauf einlässt, durch seine, vom Spieler eigenständige Normen- und Werte-Taxonomie definierte Interaktionen mit der Spielwelt, bei denen diese Normen und Werte auch sicht- und fühlbar werden. Das bedeutet allerdings mehr Vorarbeit auf Seiten des Spielers, denn um solche Definitionen für seinen Char treffen zu können, muss man sich üblicherweise mit vielen verschiedenen Aspekten der Spielwelt befasst haben. Die Motivation hierzu ist in Spielern unterschiedlich stark ausgprägt.
Legt man sich die beiden Dimensionen doch mal als Schaubild zueinander, wird klar, dass Immersion und emotionales Investment erheblich skalieren. Wie bereits vorhin gesagt sind die Unterschiede bei den Spielstilen (unabhängig davon, ob Leute sich Wort für Wort an die Regeln halten wollen und diese daher auswendig kennen, oder aber die Dinge lieber etwas freier gestalten möchten, um absurden Scheiß anstellen zu können) einer der häufigsten Auslöser für Konflikte an Spieltisch, die nichts mit den NSC-Gegnern zu tun haben. Nachdem nun meine Sichtweise auf ein paar Aspekte geklärt ist, können wir in der nächsten Episode über Erwartungen und Konflikte, Doing the Voice und Metagaming sprechen. Bis dahin – always game on!
Eine Antwort auf „Der verwirrte Spielleiter N°42 – Rollen spielen?“