Der Storyschreiner N°1 – Neues aus Kannitvastan

Geschichtenerzählen ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst; bei deren Alter sind wir uns zwar auch noch nicht so recht sicher, man kann aber sagen, das über viele Jahrtausende die einzige Möglichkeit, Geschichten für die Nachkommen zu konservieren darin bestand, sie von Generation zu Generation, von Barde zu Barde, Herold zu Herold weiterzuerzählen. Eine notwendige Gedächtnisleistung, die dazu führt, dass einem Manches an den überlieferten Liedern, Epen, Gedichten, Märchen, Fabeln, Dramen, Tragödien, Komödien, etc. heute formelhaft vorkommen mag. Weil diese großen Mengen an Content ja memoriert und aus dem Gedächtnis rezitiert werden mussten, war eine der wichtigsten Techniken, sich dabei vieler standardisierter Redewendungen zu bedienen, die zudem in das übliche Versmaß passen mussten. Die griechischen Tragödien zum Beispiel haben diese besondere Form, in welcher sie – über die jahrzehnte sehr zur Pein so manches Schölers – heute in den Reclamheftchen stehen, weil die Übersetzer versuchten, jene Versform ins Deutsche zu transponieren, in welcher sie zu ihrer Zeit in Altgriechisch dargeboten wurden. Die Verschriftlichung vieler Dichtungen fand ja erst lange nach dem Tod des jeweiligen Dichters statt.

Die Darbietung der derart memorierten Geschichten, also orales Storytelling war ein kollaborativer Akt, da zu jener Zeit durch die äußere Form der großen Geschichten das Denken sowohl der Erzähler, wie auch der Zuhörer strukturiert wurde. Wenn ich Gedanken nicht schriftlich niederlegen kann, sondern alles im Gedächtnis behalten muss und die Äußerung stets nur als flüchtige Momentaufnahme erfolgen kann (es gibt ja ohne Schrift auch keine Tonaufzeichnung), dann folgt jede Argumentationsstruktur notwendigerweise der inneren Logik der großen Erzählungen und bekommt so u. U. eine für unsere heutigen Begriffe eine eher rigide, teils redundante und/oder schablonenhafte Darreichungsform. Für jene, welche diese Geschichten in ihrer ursprünglichen Form erlebt haben, waren diese u. U. die Basis für ihr Verständnis der eigenen Kultur. Der Ausspruch, dass das Sein das Bewußtsein bestimme, bekommt in diesem Kontext eine ganz neue Bedeutung. Daraus folgt, dass eine neue Argumentation sich des vorhandenen Erzählungs-Kanons bedienen musste. Denn schließlich wurden nicht nur Geschichten erzählt, sondern auch kodifiziertes Gesetz, Erbfolgen, politische Entscheidungen; einfach alles, wofür wir heute mal eben eine Notiz machen, oder ein Dokument auf einem Computer erstellen, musste im Gedächtnis getragen und per Mund zu Ohr von Mensch zu Mensch übertragen (und hoffentlich auch verstanden) werden! [Wer sich mit dieser Betrachtung etwas näher vertraut machen möchte, dem empfehle ich Walter Ongs „Oralität und Literalität“, siehe unten]

Mir geht es vor allem um folgende Überlegung: ich betrieb Storytelling über Jahrzehnte nur im Hobbykontext als kollaboratives Medium, bei welchem ich die Story-Primer erzählte und verschiedene Plotpoints, Locations, Antagonisten, Sidekicks, etc. entwickelte, um diese nach und nach mit in die entstehende Geschichte einzuführen. Jedoch wurde erst durch die Teilnahme ALLER Beteiligten EINER der aus diesen Ingredenzien ermöglichten Verläufe der Geschichte im Prozess der Interaktion festgeschrieben – Pen’n’Paper-Rollenspiel in a nutshell. Heute jedoch interessiert mich auch noch eine andere Möglichkeit der Verwendung, nämlich als Einzel- oder Komplementär-Methode in verschiedenen Bildungsformaten und -kontexten. Ich habe allerdings mittlerweile auf Grund eines erweiterten Quellenstudiums und eigener Beobachtungen den Eindruck gewonnen, dass die Macht des gesprochenen Wortes, bzw. die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit eines Lehrsaalpublikums mittels einer Erzählung auf bestimmte Punkte und Inhalte zu lenken, einerseits hoch abhängig von der Übung des Anwenders im Geschichtenerzählen ist, und andererseits einer möglichst ablenkungsarm gestalteten Umgebung bedarf. Da wir jedoch nicht mehr bei Sonnen- und Fackelschein ohne Medieneinsatz unterrichten, kommt man da recht schnell an seine Grenzen.

Ich hatte ja bereits neulich erzählt, dass man beim Umherspazieren im Lehrsaal bei den SuS durchaus auf Tätigkeiten stößt, die mit dem aktuellen Unterrichtsgeschehen oder der gestellten Aufgabe eher wenig zu tun haben. Und wenngleich ich das zugegebenermaßen als Respektlosigkeit empfinde, ist mir bewusst, dass sich die Modalitäten der Medien-Nutzung in den letzten Jahrzehnten nochmals erheblich geändert haben. Was zu meiner Schulzeit üblich war, existiert heute heute oft genug höchstens noch als Legende. Die Ausgangslage für eine möglichst ablenkungsarme Umgebung muss damit als deutlich erschwert betrachtet werden. Bleibt also noch die Erzählkunst des Lehrers – der hier gegen Medien anerzählen muss, deren bunte Bildchen die jungen Erwachsenen im Lehrsaaal mit traumwandlerischer Leichtigkeit in andere Welten zu entführen vermögen. Man könnte sich jetzt darauf zurückziehen, dass Storytelling als Methode bei unseren übermediatisierten Generation-Z-Kindern nicht funktionieren könne. Wenn da nicht der Umstand wäre, dass ich mich neulich mit einer wirklichen Kennerin des Fachs austauschen durfte und ihre Erfahrungen eine andere Sprache sprechen! Es sei durchaus möglich, auch ein jüngeres Publikum mit einer mündlichen Erzählung abzuholen. Es käme auf die lebensweltliche Relevanz der Themen und die Zugänglichkeit der Sprache an – was mitnichten auf die Verwendung von Jugend-Sprech verweist, sondern die tradierten Topoi, welcher sich das mündliche Erzählen bedient; und welche die jungen Leute immer noch in der Schule kennenlernen. Die Klassiker können uns als Vorbild dienen. Danke, Reclam.

Ich befinde mich noch auf einer Reise durch Kannitvastan, da ich bestimmte Aspekte an oral storytelling, oder mündlichem Erzählen noch nicht soweit durchdrungen habe, dass ich mein Ziel einer Theoriebildung zur Verwendung als pädagogische Methode verfolgen könnte. Aber ich bin mir fast sicher, es immer besser zu durchdringen. Tatsächlich bekam ich von einem anderen ausgewiesenen Fachmann im Thema des Geschichtenerzählens den Ratschlag, mich auch ausdrücklich an meinen Erfahrungen im Pen’n’Paper-Rollenspiel zu bedienen. Ist vermutlich das erste Mal in meinem Leben, dass jemand von außerhalb meiner Rollenspiel-Bubble meinem diesbezüglichen Wissenschatz irgendwelchen Wert zuerkannt hat. Eine interessante Erfahrung. Wer übrigens Kannitvastan noch nicht auf der Karte gefunden haben mag: es ist jener magische Ort der Neugierde und Enttäuschung, der jenseits unseres Horizonts des bereits Gekannten liegt; manche nennen ihn auch „Kann nicht verstehen…“. Ich wünsche einen guten Start in die neue Woche.

Auch als Podcast…
  • Ong, W. J. (2016): Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. 2. Auflage mit einem Vorwort von Leif Kramp und Andreas Hepp. Wiebaden: Springer Fachmedien GmbH
  • Ryan, M.-L. (Hrsg. 2004): Narrative across media. The Languages of Storytelling. Lincoln and London: University of Nebraska Press.

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