Ich hatte dieser Tage ein Gespräch mit meiner älteren Tochter. Eine Person aus ihrem weiteren schulischen Dunstkreis ist derzeit auf dem besten Wege in die ernsthafte Jugend-Delinquenz, und wir kamen in dem Zusammenhang natürlich auf die Frage, was dazu geführt haben könnte; und ob ihr das auch passieren könnte? Einer der Erklärungs-Ansätze bezog sich auf falsche Vorbilder. Lustigerweise wurden wir, während das Gespräch in unserer von mir chauffierten Familien-Droschke stattfand, von zwei Posern mit einer portablen Schwanzverlängerung überholt, welche einen Straßentunnel hier in der Stadt nutzten, um den Ferrari mal ordentlich röhren zu lassen. Auf die Frage, was Tochter Eins denn in diesem Kontext als falsche Vorbilder betrachten würde, kam wie aus der Pistole geschossen „Gangster-Rapper!“ Braves Kind. Wenn Sie in dem Alter schon in der Lage ist, hinter die Bling-Bling-Bumm-Bumm-Ficki-Ficki-Fassade eines nicht unerheblichen Teils dieser sogenannten Musiker zu schauen, muss ich mir zumindest über den Musikgeschmack keine Sorgen machen. Und für alle, die diese Art von Musik mögen: bei halbwegs intelligenten Texten, welche auf chauvinistische Erniedrigung von Frauen, das Dreschen von „Isch-bin-der-Babbo-du-Opfa“-Clichés und anderen machismoiden Quatsch verzichten, hör ich sogar mal rein. Versprochen.
Die zwei Typen in dem Ferrari entsprachen im Übrigen jedem denkbaren Cliché über Poser: jung, südländisch, auf diese spezielle Art gestyled, stets um Coolness bemüht. What was it, that seperated the boys from the men…? Ich denke, ich machte eine abfällige Bemerkung darüber, dass ich es für ziemlich unwahrscheinlich hielte, dass dieser Ferrari, so er sich denn überhaupt im Besitz des Fahrers befände, mit ehrlich erworbenem Geld bezahlt sein könnte. Das ist natürlich ein bösartiges Stereotyp. Vielleicht hat er im Lotto gewonnen, geerbt, arbeitet im spekulativen Finanzwesen, oder ist doch ein Tech-Startup-Genie; die Wahrscheinlichkeiten sind allerdings auf ganzer Linie gegen ihn. Wir bogen dann ab, während die Penisprothese – wie sich das in der Welt des Fahrers anscheinend gehört – unter lautem Getöse in die untergehende Abendsonne entschwand. Und ich fragte meine Tochter die Frage des Abends: „Hast DU denn Vorbilder…?“ Es dauerte einen Moment, und vielleicht lag es daran, dass wir schon fast zu Hause angekommen waren, dass sie mir entgegnete, dass ihr keine einfielen! Ich fragte dann noch, ob es denn Leute geben könnte, welche die Funktion eines Vorbildes einnehmen oder sie zumindest inspirieren könnten? Das wurde allerdings bejaht.
Wir waren auf Vorbilder gekommen, weil die anfangs erwähnte Person über sich selbst gesagt hatte, dass es dem Vater wohl egal wäre, in welchem Ärger sie gerade stecken würde. Und ich tat meine Analyse kund, dass dies ein Teil des Problems sein könnte, wenn es denn wahr wäre. Denn sich für DAS zu interessieren, was das eigene Kind tut oder lässt und Grenzen zu setzen, wenn man dies für angemessen und gerechtfertigt hält (auch, wenn das eigene Kind meistens anderer Meinung sein dürfte) vermittelt dem Kind ein Gefühl für die Konsequenzen des eigenen Tuns – und damit eine Selbstwirksamkeits-erfahrung. Beliebigkeit hingegen führt dazu, dass sich die Bemühungen, Aufmerksamkeit zu erlangen eventuell in eine pathologische Richtung entwickeln => et voilá: Delinquenz. Diese Analyse ist natürlich auf grund mangelhaften Detailswissens über die weiteren Umstände verkürzend und unvollständig. Aber Kurt Lewin, einer der Väter der modernen Sozialpsychologie – und bekannt für eines der ersten Modelle zu Führungsstilen – sagte ja bereits, dass Laissez-Faire die Abwesenheit von Führung sei; und nicht, wie oft fälschlicherweise dargestellt, ein Führungsstil, der den Geführten größtmögliche Freiheiten lässt. Abseits einer objektiv existenten Hierarchie, die ein Machtgefälle beschreibt (und so KANN man eine Eltern-kind-Beziehung auch charakterisieren) stellt sich immer die Frage, worin sich Führung konstituiert. Und da komme ich wieder zu Vorbildern…
Ein Vorbild ist – im positiven Sinne gedacht – ein Role-Model, an dessen Tun und Lassen sich Kinder und Jugendliche, aber auch Auszubildende oder Studenten orientieren können. Imitations-Lernen findet selbstverständlich auch (oder sogar vor allem) im Kontext von Sozialisation statt. Das Problem für eine pubertierende Jugendliche ist, in unserer von (anti)social media durchwirkten Welt herauzufinden, wer oder was tatsächlich als ein solches Role-Model taugt. Würde ich allerdings versuchen, ihr vorzuschreiben, an wem sie sich zu orientieren hätte, würde ich unter Garantie etwas völlig Anderes erreichen. Nur was, das lässt sich eher schwer vorhersagen. Wir Erwachsenen meiner Generation haben diesen Prozess ja alle selbst mal durchlaufen, leider aber offenkundig vergessen, wie schwer das alles ist! Und heute ist das noch viel schwerer als vor 35 Jahren, als es vielleicht 5 oder 6 Fernsehprogramme, kein Internet, keine social media und ansonsten vor allem die eigene Peergroup gab. Verdammte Axt…
Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine große Tochter, wenn sie eine Weile darüber nachgedacht hat, auf die Frage nach Vorbildern doch eine Antwort geben könnte. Vielleicht möchte sie diese Frage aber auch gar nicht beantworten, weil sie vielleicht befürchtet, dass ich ihre Vorbilder nicht gut finden könnte? Oder weil sie manches erst noch für sich selbst rausfinden muss/will? Und vielleicht wechseln diese Vorbilder auch noch dann und wann? Ich konnte meiner Frau die Frage, was in dem Alter meine Vorbilder gewesen wären, auch nicht wirklich beantworten. Vielleicht, weil es eine – in meiner Erinnerung – emotional sehr fluide Zeit war. Mein Fazit aus der Erfahrung ist, dass wir als Eltern vermutlich selbst als Vorbilder nur bedingt taugen und auch keine Ratschläge dazu geben sollten, wer als Vorbild taugen könnte. Vielmehr besteht unserer Aufgabe darin, unseren „Lieben Kleinen“ als Grenze, Brandmauer, sicherer Hafen, aber manchmal auch böser Papa so lange zur Seite zu stehen, bis sie selbst ein informiertes Urteil darüber treffen können, wer denn geeignet sein könnte. Ich sehe Tochter Eins da allerdings auf einem guten Weg. Ich muss mir allerdings mal dringend wieder Gedanken machen, wer meine Vorbilder waren und sind, falls sie mal zurückfragt. Ein Aidoru (Idol) ist sicherlich William Gibson; denn ich wäre auch gerne ein so lesenswerter und erfolgreicher Autor. In diesem Sinne – verdampft nicht. Hoch die Hände – Hitzewende.