Zeitgeist

Manche Begriffe, die unsere Sprache im Lauf der Zeit hevorgebracht hat, führen oft ein schillerndes Nischendasein und werden nur dann rausgeholt, wenn es gilt gelehrsam zu klingen; ganz so wie Tante Gerda „das gute Geschirr“ nur auf den Tisch stellt, wenn die buckelige Verwandtschaft zum Geburtstagsessen eingeladen ist. Zeitgeist ist so ein Wort, dass gerne verwendet wird, um auf etwas zu verweisen, dass man selbst nicht ganz zu verstehen vermag, weil der „Geist der Zeiten“ eine wankelmütige Geliebte ist. Immer wieder hört man – zumindest in Kreisen, die sich mit Fragen der Organisationspsychologie und Wirtschaftswissenschaft befassen – die Behauptung, wir leben in einer „VUKA-WeltVolatil, Unsicher, Komplex, Ambivalent; übersetzt für Normalos heißt das, unübersichtlich und daher hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen schlecht einschätzbar. Und wenn man sich den Zustand unserer Welt heute anschaut, und kurz über das letzte Jahr nachdenkt, ist diese Einschätzung ja auch nicht falsch. Sie begrenzt sich aus Sicht ihrer Schöpfer aber vor allem auf das Agieren von Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht, die auf Grund der VUKAZITÄT der Welt jetzt größere Probleme mit dem guten alten Kohleschaffeln haben…

Blumen sind nicht zeitgeistig!

Ich bin jetzt definitiv NICHT gegen das Geldverdienen als solches. Auch auf dem Tisch meiner Familie sollte sich Essen finden, in unseren Schränken was zum Anziehen, das eine oder andere Buch zum Lesen und vielleicht auch ein paar Ausrüstungsgegenstände für die weitere Freizeitgestaltung. Aber die Beschränkung auf den Homo Öconomicus, also den Mensch der (so gut wie) alles Tun und Lassen wirtschaftlichen Prinzipien unterordnet, war mir schon immer zu plump. Ich kann auch mit Frugalismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen nichts anfangen, denn der Mensch lebt im Hier und Jetzt und alles Planen für eine imaginierte Zukunft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass KEINER von uns an der unüberwindbaren Barriere der nächsten Sekunde vorbeikommt. Wirklich KEINER! Vor diesem Hintergrund ist der Begriff Zeitgeist für mich umso interpretationsbedürftiger, wenn er doch vor allem von Zeitungsmenschen benutzt wird, um synonym für „das Denken der Menschen in unserer Zeit“ zu stehen. Denn diese Annahme ist schlicht falsch. Goethe sagt über den Zeitgeist in „Faust. Der Tragödie erster Teil.“

Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Und er führt an anderer Stelle weiter aus:

„Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, daß die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im stillen verbergen muß, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.“

Hier wird darauf verwiesen, dass aus Goethes Sicht jene, welche die Macht in Händen halten, auch den Zeitgeist diktieren. Unsere kontemporäre Feuilletonaille (Menschoide, die heutzutage den Feuilleton der Zeitungen gestalten, sofern es eine solche Institution in einem gegebenen Medium überhaupt noch gibt) neigt jedoch dazu, Zeitgeist fälschlicherweise als Synonym für Mode, Trend, Mainstream zu benutzen. Schon Herder, dem die Schöpfung des Begriffes zugeschrieben wird, wies jedoch auf die Begrenztheit der Wahrnehmung der eigenen zeitgenössischen Kultur(Praktiken) hin. Darin schwingt – im mittleren 18. Jahrhundert – das Verständnis dafür mit, dass Kultur und ihre Produkte nichts statisches sind, sondern im Gegenteil ein voranschreitender Prozess, der immer schon den Samen der eigenen Veränderung hin zu etwas Anderem in sich trägt. Bei Herder wird das jedoch nicht positiv gesehen, weil er den Zeitgeist nur dort sieht, wo die Abwendung von der Religion stattfände. Der Begriff war also Anfang durchaus negativ konnotiert. DAS hat sich gewandelt. Der zuvor beschrieene Geist der Zeiten wurde in den Revolutionen des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts als Geist der Befreiung vom Joch der Monarchie gesehen und hat sich in der Folge bis heute zu einem ambivalenten Blick auf die immer neugestaltige Entwicklung des Zeitgeschehens gewandelt… um dann allzu billig als bloßes Synonym benutzt zu werden. Übrigens auch im englischsprachigen Raum, wo Zeitgeist als Lehnwort mit nahezu identischem Bedeutungsgehalt benutzt wird und auch ein passendes Adjektiv bekommen hat: zeitgeisty…

Gibt es das überhaupt: DEN ZEITGEIST…? Ich bin mir nicht sicher, wurde er doch häufig als Umschreibung für ein bestimmtes Lebensgefühl genutzt, dann wieder als Diagnose für den Wandel und schließlich als Schimpfwort für gesellschaftliche Veränderungen (Stichwort: „woke“). Je nachdem, wer den Begriff nutzt, schwingen darin sehr unterschiedliche Gefühle mit: Enthusisasmus, Neugier, Hoffnung, aber auch Sorge, Verachtung, Lächerlichkeit. Zeitgeist als Begriff ist in meiner Lesart zuallererst eine Projektionsfläche für meine (oder jedes anderen Menschen) individuellen Erwartungen an die nächsten Entwicklungen, die man glaubt, an der Analyse der eben abgelaufenen Entwicklungen ableiten zu können – um wieder und wieder an der Mauer der nächsten Sekunde zu zerschellen. Damit ist Zeitgeist für mich ein Mahnmal für die Illusion, in die Zukunft sehen zu können und dabei das Leben im Hier und Jetzt zu vergessen. Mein Zeitgeist soll sein, das Hier und Jetzt zu feiern, wann und wie es möglich ist und die Dinge zu verändern, die ich verändern kann. Und wenn das bedeutet, den Zeitgeist so vieler Anderer durch meine Worte und Taten (zer)stören zu müssen, weil dieser immer noch beinhaltet, ein dummes, arrogantes, verschwenderisches, konsumabhängiges, blind den Versprechen der Rechten oder der Neoliberalen folgendes, ganz und gar unreflektiertes und auf die Zukunft unserer Kinder scheißendes Arschloch zu sein, dann ist das halt so. Damit müssen jene, die sich angesprochen fühlen sollten dann halt leben. In diesem Sinne, genießt lächelnd die viel zu hohen Temperaturen – wir hören uns.

Auch als Podcast…

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