Jeder Mensch macht sich seine eigene Realität! Man könnte diesen Satz einfach so stehen lassen, an Donald Trump und Konsorten mit ihren „alternativen Fakten“ denken und ein Schulterzucken später wieder zum „business as usual“ übergegangen sein; oder man denkt doch noch mal ein bisschen darüber nach, was das EIGENTLICH bedeutet. Ich meine, jede*r von uns (Erwachsenen) nimmt die Welt auf Basis seiner/ihrer zuvor gemachten Erfahrungen wahr. Das bisherige Erleben strukturiert somit das folgende Erleben. Jemand, der zum Beispiel in seinem ganzen Leben immer nur ausgenutzt und beschissen wurde, wird ein x-beliebiges, günstiges Angebot mit großem Misstrauen beäugen und vermutlich ausschlagen, weil hier in seiner Realität doch nur wieder eine weitere Enttäuschung lauert. Eine andere Person mit positiveren Erfahrungen hingegen… man weiß es nicht, aber es klingt plausibel, anzunehmen, dass dieser Mensch anstatt eines Risikos oder eine Falle eher eine Chance zu erkennen vermag. Das ist nur ein Beispiel, wie sich individuelle Faktoren, wie das soziale Umfeld und Kapital, Bindungserfahrungen, Peergroups deren Teil man ist, schulische und außerschulische Lernerfahrungen, etc. auf die Struktur der Wahrnehmung unserer Welt auswirken, die sich im Umkehrschluss in der Struktur der, in der eigenen Psyche rekonstruierten Realität wiederfindet! Hier allerdings Kausalität unterstellen zu wollen (er/sie ist, so, weil das Elternhaus, die Schule, der erste Lebensabschnittspartner so waren) ist aus wissenschaftlicher Sicht großer Kokolores. Bestimmte Erfahrungen steigern Wahrscheinlichkeiten, aber Menschen sind nun mal (oder doch Gottseidank) keine Maschinen, die man per Algorithmus steuern kann.
Ich stolperte heute beim Stöbern in einem Buchladen, für den ich von meinem letzten Geburtstag noch einen Gutschein hatte über eine Publikation von David Chalmers aus 2022: „Realität +. Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie.“ Und das Buch fasziniert mich, weil Chalmers (u. A.) die Hypothese vertritt, dass wir NICHT beweisen können, dass wir nicht in einer Simulation leben. Ein Hoch auf die Matrix könnte man süffisant lächelnd deklamieren. Tatsächlich geht es ihm wohl eher um die Frage, welche Haltung wir, im Angesicht einer sich dramatisch schnell ändernden Welt, die eben auch immer mehr mit Simulation angereichert wird, zur fortschreitenden Vermischung von Realitäten haben wollen? Denn mit Augmented und Virtual Reality als Teil unserer Welt, der sich immer häufiger in der Arbeitswelt, der Bildung, aber eben auch der Freizeit wieder findet brauchen wir Haltungen zu diversen komplexen Fragen: sind VR und AR Illusionen, oder andere Realitäten? Wieviel von unserem Leben ist eine Simulation, wie viel Realität und kann bzw. soll man das überhaupt unterscheiden? Wie kann man in einer simulierten Realität ein gutes, ein richtiges Leben führen (Adorno anybody: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“)? Ich denke, dass wir gut beraten sind, uns dringend mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Insbesondere jetzt, da Artificial Intelligence, oder zumindest ihr Herold in Form von Large Language Models Einzug in verschiedene Lebensbereiche hält.
Ich experimentiere momentan mit verschiedenen AI-Tools für meine kreativen Workflows herum, weil ich denke, dass man nicht alles zu Fuß machen muss, wenn es dafür geeignete Substitute gibt. Ich fahre ja auch nicht mit einem Eselkarren einkaufen oder in Urlaub, beleuchte Abends die Wohnung nicht ausschließlich mit Kerzen; und am RTW findet der Beladeprozess heute mit elektrohydraulischer Unterstütztung statt. In diesem Sinne sind LLMs auch nur ein Werkzeug. Das Bild weiter oben hat Bing Image Creator (unter der Haube steckt da DALL-E 3) auf Basis eines von mir vorgegebenen Prompts erstellt. Je mehr man spezifiziert, desto präziser treffen diese Kreationen die eigene Vorstellung und es bedurfte einiger Versuche für dieses Ergebnis. Insgesamt würde ich die Erfahrungen als befriedigend bis gut einstufen, sie weisen aber auf eine Eigenheit von aktuell frei verfügbaren LLMs hin, mit der man umzugehen lernen muss: diese rudimentären AI-Anwendungen brauchen hoch präzise Angaben, um das Richtige ausspucken zu können. Das bedeutet, dass der kreative Prozess sein Antlitz verändert. Ich selbst beginne eine Skizze (etwa im Bikablo-Stil) und denke mir die Elemente mit dem Stift nach und nach dazu; streiche, korrigiere, redigiere. Und während das passiert, ändert sich meine Wahrnehmung, mein Denken über das, was ich visualisieren möchte. Hier mit DALL-E 3 hingegen brauche ich eine komplett fertige Idee vor meinem geistigen Auge, die ich so treffend wie möglich beschreiben muss, damit das Ergebnis passt. Beide Workflows sind kreativ, intuitiv, spielerisch – aber dennoch grundverschieden.
Letztlich treibt mich nun die Frage um, inwieweit ich gerade die Simulation eines Arbeits-Prozesses erlebe, wenn ich verschiedene Teile einer Arbeit, die ich bislang selbst getan habe an ein LLM auslagere und im Gegenzug die Kontrolle über diesen Prozess durch eine Steigerung gedanklicher und folgend sprachlicher Präzision wiedergewinnen muss? Ich bin mir noch nicht sicher, aber den obigen Überlegungen folgend muss ich wohl oder übel bald eine Haltung dazu einnehmen. Mal sehen, ob mir Chalmers Buch dabei helfen kann.