Randnotizen eines Erschöpften #09 – Popanz und Populismus

Menschen – und ich zähle, wenn auch wiederwillig, immer noch dazu – neigen zur Simplifizierung. Große Komplexität macht uns Angst, weil die allermeisten von uns NICHT in der Lage sind, große Zusammenhänge sinnbringend zu durchschauen. Also versuchen wir es erst mal mit einem kleineren Bild… und in der Folge auch mit dem kleineren Lösungsansatz. Insbesondere, wenn sich das wahre Problem in einem großen Wirrwarr von gegenseitigen Abhängigkeiten verbirgt.

Nun ist reziproke Dependenz leider eines der Hauptmerkmale unserer modernen Gesellschaften. Wir sind so viele, mit so vielen Interessen und Problemen. Und selbst, wenn diese Sorgen und Probleme und Interessen gebündelt werden, indem wir dafür Interessenvertretungen bemühen – z. B. Parteien, Gewerkschaften, etc. – bleibt immer noch der Prozess, innerhalb einer solchen Interessenvertretung Konsens über das gemeinsame Ziel herstellen zu müssen.

Die Partikularisierung der Gesellschaft, vorangetrieben durch deren fortwährende soziale und kulturelle Entwicklung, hat jedoch dieses Erzielen von Konsens immer schwieriger gemacht und tut dies noch. Und trotzdem erwarten die Menschen noch einfachere Antworten auf immer komplexere Fragen. Es braucht wenig Phantasie, um zu erahnen, wo das hinführt; nämlich bis zu einer weitreichenden Lähmung unserer demokratischen Institutionen, da deren Mitarbeiter in genau dem gleichen Fehlschluss gefangen sind, wie die Bürger, deren Interessen zu vertreten sie eigentlich aufgerufen sein sollten. Doch auch unsere Volksvertreter sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Das allein könnte man vielleicht noch irgendwie kompensieren. Doch in eben dem Maße, in dem diese Komplexität uns behindert, ist sie jenen hilfreich, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn haben. Und auch, wenn es Ausnahmen geben mag, sind diese doch nur dazu gut, die Regel zu bestätigen: jene die sowieso schon haben nutzen jede Deckung, welche unser Gesellschaftssystem bietet, um noch mehr in Besitz nehmen zu können, vernichten dabei nicht nur Existenzen sondern auch unsere Umwelt und zeigen stets mit dem Finger auf die anderen, um sie an ihre Eigenverantwortung zu erinnern.

Dabei ist Eigenverantwortung mittlerweile eine Illusion. Selbst wenn ich hart arbeiten gehe, stets pünktlich meine Rechnungen zahle, versuche, meinen CO2-Abdruck zu verkleinern, meine Kinder zu vernünftigen Menschen zu erziehen, Nazis, Rassisten und Chauvinisten entschieden entgegentrete, mich in meiner Gemeinde engagiere; also durch und durch ein verantwortungsbewusstes Individuum bin – habe ich keinerlei Einfluss auf unsere Politik. Den nehmen nämlich nur jene, die sich durch geschickten Einsatz ihrer vielfältigen Ressourcen stets an der richtigen Stelle Gehör verschaffen können.

Sie verstecken sich dabei hinter dem wohlfeilen, jedoch überkommenen Bild einer wünschenswerten Mittelstands-Gesellschaft. Die kann es aber – in deren Narrativ – nur geben, wenn jeder schön für sich tut, was ihm gesagt wird. Und dann kommt ein Kevin Kühnert daher und faselt von demokratischem Sozialismus. Und weil die Beißreflexe der selbsternannten Leistungsträger durch 70 Jahre ordoliberaler Indoktrination so schön konditioniert sind, fangen gleich alle an, die DDR-Keule zu schwingen. Armselige Narren, allesamt… Kevin K. wurde zum Popanz aufgebläht, obwohl er lediglich etwas angemerkt hat, was in der Bevölkerung schon lange als real erlebt wird: steigende soziale Ungleichheit. Und das diese nicht etwa entsteht, weil die Menschen sich nicht genug anstrengen würden.

Was mir dabei aufgefallen ist: alle schreien immer gleich „Populismus!“, wenn irgendein AfD-Fuzzi was Dummes oder Rassistisches absondert (was ja zumeist nur eine Frage der Zeit ist); wenn jedoch ein Politiker (OK, ein JUSO…) ein Thema aufrollt, das durchaus von relevantem gesellschaftlichen Interesse ist, jedoch nicht von Interesse der Habenden und andere ihn dann verbal platt zubügeln versuchen, redet so gut niemand von Populismus, weil die Lobbyisten der Habenden die Politik offensichtlich gut im Griff haben. Wen soll man denn da wählen, am 26.05.? Ich werde hier kein Votum abgeben, aber die schwarzen, die Gelben und die Blauen bekommen meine Stimme gewiss nicht. Schönen Sonntag noch.

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