Mysticle!

Kennt man, diese Jahresendbetrachtungstaxonomien. „Meine 10 besten […]“, „Meine 10 schlimmsten […]“, Diese 10 […] muss man unbedingt […] haben!“ Da fällt mir ein Songtext von Großstadtgeflüster ein: „Ich muss gar nix außer schlafen, trinken, atmen und f***en. Und nach meinen selbstgeschriebenen Regeln ticken“ Denn irgendwie ticken solche Listicles immer irgendwo zwischen banal-brutaler Suggestion und Peergroup-Pressure. Ich könnte jetzt hier natürlich eine Liste mit meinen 10 meistgehassten Listicles des Jahres 2022 machen, um jeden einzelnen noch mal ein bisschen öffentlich zu haten; aber dann würde ich diese gequirlte Scheiße zur Redaktionspraktikanten-Beschäftigung ja auch noch kostenlos promoten. Ihr könnt mich mal…

Mediale Komplikationen…

Die geradezu barbarische Anziehungskraft solcher telemedialer Nutzlosigkeiten – denn es muss irgendein Verwandtschafts-Grad mit der naiv-gierig-schuldigen Verführung durch die Abbildungen schwertschwingender Lendenschurz-Träger*innen bestehen, anders kann man das Klicken-Müssen nicht erklären – lässt mich immer wieder bamboozeled zurück. Es bleibt mir auch heute noch, allen sozialpsychologischen Erklärungsversuchen zum Trotze, ein Mysterium ersten Grades, warum wir angeblich vernunftbegabten Wesen uns zu solchen sinnentleerten Wortabsonderungen hingezogen fühlen, wie die Fliegen zum Scheißhaufen, oder die Motten zum Licht. Und ich werde jetzt hier sicher nicht behaupten, dass ich solcherlei Anfechtungen nicht auch regelmäßig erliege. Ich bin ja auch nur so ein Typ, der versucht es auf die Reihe zu kriegen. Und hier ist nicht der einzige Ort, „dessen größte kulturelle Errungenschaft darin besteht, dass man bei Rotlicht links abbiegen darf.“ [Danke Woody Allen, Zitat aus „Der Stadtneurotiker“]. Nur dass das Rotlicht hier eher das kaltweiße Licht eines Monitors ist; und die Verlockung bestenfalls indirekt sexueller Natur.

Mysticles nerven unfassber, weil man sich einerseits dem Sirenenruf nicht entziehen kann, andererseits aber meist schon nach den ersten drei Einträgen denkt: „Hat der Prakti jetzt wieder Badewasser gesoffen? Der/Die/Das gehört doch auf einen anderen Listenplatz – oder in ein anderes Listicle!“ Einen besonderen Platz in meinem Herzen genießen Artikel, die einen sogenannten Kanon beschören – „Diese 10 Klassiker der Weltliteratur…“. Weil unter solcherlei Äußerungs-Überschrift meist nur Büchern alter weißer Männer auftauchen, was jetzt den Terminus „Weltliteratur“, der ja sinngemäß Bücher aus allen Zeiten, allen Kulturen, allen Ethnien und Religionen, allen sozialen Milieus und von allen Geschlechtern einschließen würde irgendwie ein wenig ad absurdum führt. Könnte sein, dass das an der sogenannten Deutungshoheit alter weißer Männer und gelegentlich auch Frauen liegt; die Heidenreich ist ja auch so’n Vogel, den man besser schon lange in eine andere Voliére verlegt hätte.

Mancher Leser wird sich bis hierher denken „Menschenskind, was hat er denn nun wieder, soll er halt den Scheiß nicht lesen, ist besser für den Blutdruck!“. Wie ich eben wortreich darlegte, ist es aber für Menschen verflucht schwierig, sich diesen naturgemäß interessant aufgemachten Tiefkühlpizzen des Publikationsbetriebes zu entziehen. Die Probleme, welche aus meiner Sicht dabei entstehen sind folgende: a) Der Mist nimmt einem Zeit weg, bevor man gerafft hat, dass man gerade mal wieder in die Clickbaitfalle getappt ist! b) Nicht selten promoten die Autoren u. U. fragwürdige Meinungen, die von den allzu Unreflektierten (und von denen gibt es da draußen so viele, dass die AfD derzeit immer noch stabil 14% und die FDP 7% bekämen) einfach mal übernommen werden. c) Erzeugt die immer weiter wild wachsende Publikationsflut selbst für halbwegs kluge und informierte Menschen eine mediale Überforderungssituation. Um die Frage weiter oben also – frei nach Malmsheimer – zu beantworten „RECHT HAT ER VERDAMMTNOCHEINS! WEG MIT DIESEM MEINUNGSFÄZES!“ Deutungshoheit…? Dass ich nicht lache. Die allermeisten, die derlei, z.B. auch in Listicles für sich reklamieren, legen vor dem Schreiben des Artikels bestenfalls das Tarot, und können es noch nicht mal richtig interpretieren. Was der Narr im Tarot bedeutet, könnt ihr selbst googeln… Ich wünsche jedenfalls noch einen nicen Run auf Heiligabend. Aber am Besten ohne Mysticles. Und Tschüss.

Auch als Podcast…

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