Wer mir hier schon länger folgt, weiß ziemlich genau, dass ich mit den jeweils gerade gängigen Labeln nicht allzu viel anfangen kann. Menschen neigen ja oft dazu, NICHT so sein zu wollen, wie alle anderen; und suchen deshalb, mal bewusst, mal unbewusst nach Merkmalen an sich selbst, die zur Distinktion vom „Mainstream“ taugen. Ganz so, als wenn in einer Mehrheitsgesellschaft integriert zu sein, etwas Schlimmes wäre. Streben nicht, solchen Moden zum Trotze, all jene Marginalisierten, wie PoC, LGBTIQ+-People, etc. danach, den Status der Integration zu erreichen? Oder besser gesagt danach, in ihrem Andersein voll akzeptiert dazugehören zu dürfen? Wie kann es dann aber sein, dass Menschen, die vermeintlich schon dazu gehören, nach Möglichkeiten suchen, sich von eben dieser Zugehörigkeit abzugrenzen?
Ich habe schon häufiger in letzter Zeit etwas über den Begriff „Hochsensibilität“ gelesen. Kurz gesprochen geht es darum, dass es angeblich Menschen gibt, deren soziale und kognitive Wahrnehmung intensiver ist, als bei den meisten Anderen, was bei den Betroffenen im Umkehrschluss einen kognitiven und sozialen Overflow erzeugt; oder vereinfacht gesprochen: sie kommen mit zu vielen Reizen einfach nicht klar! Ich sage „angeblich“, weil das Thema in der Psychologie hoch umstritten ist, und die „Diagnostik“ vollkommen auf, wissenschaftlich unzureichend getesteten, Selbstbefragungen fusst. Um es an dieser Stelle ganz klar zu sagen: ich halte das Ganze für Humbug! Bzw. für einen falschen diagnostischen Ansatz. Leider ist es in den letzten Jahren quasi zu einer Mode degeneriert, sich selbst als „hochsensibel“ zu bezeichnen, und damit ein Label zu erzeugen, welches man wie eine Monstranz vor sich hertragen kann, damit alle Anderen ja brav Rücksicht nehmen. Dass damit möglicherweise vollkommen anders gelagerte – und zum Teil vermutlich dringend behandlungsbedürftige Psychopathologien – verschleiert werden, ist nur ein bedauerlicher Nebeneffekt .
Ein anderer ist, dass das sowieso schon hohe Potential zur Stigmatisierung psychisch Kranker in unserer Gesellschaft noch mal gesteigert wird. Denn selbstverständlich fordern die Menschen, die sich selbst diese Zuschreibung geben Verständnis, Rücksichtnahme, u.U. sogar Behandlung – ohne wirklich erklären zu können, was das Problem ist. Das ist einem besseren Verständnis für die realen Leiden psychisch Erkrankter nicht zuträglich, weil es für die Nichtrkrankten wieder mal aussieht, wie eine Befindlichkeitsstörung, für die sie oft nur ein „Komm halt klar, Diggah!“ übrig haben. Als langjährig Depressionserkrankter weiß ich, wovon ich spreche. Psychisch Kranke bluten nicht, die Extremitäten sind nicht krumm, sie haben keine Schmerzen, gegen welche die üblichen Mittelchen helfen. Und was man nicht sehen oder anfassen kann, das existiert für viele Menschen nicht. Und da passen die „Hochsensiblen“ halt voll ins Feindbild: „Mensch, der sich auf meine Kosten ausruht, indem er/sie krankfeiert!“ Zudem belasten sie damit das sowieso schon überlastete System zur Behandlung psychisch Erkrankter in unserem Land.
Warum mich das so triggert, hat der letzte Absatz zum Teil erklärt. Aber da ist, zumindest für mich selbst noch etwas anderes. Natürlich habe ich, als ich zum ersten Mal von dieser Modeselbstdiagnose hörte, mal geschaut, was es damit auf sich hat, und ob das auch auf mich zutreffen könnte. In dunklen Stunden sucht man gelegentlich Trost in seltsamen Dingen. Und natürlich trafen verschiedene Aspekte der Fragebögen auf mich zu. Einfach, weil sie auf ziemlich viele Menschen zutreffen. Das ist Verarsche auf hohem Niveau. Mal davon abgesehen, dass nach meiner Erfahrung Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr häufig ein ziemlich feines Näschen für die anderen Menschen um sich herum haben. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, dass als Vorteil zu sehen und entsprechend zu nutzen. Aber gewiss öffnen sich hier auch Türen in die dunkleren Zimmer des Selbst. Ich würde mir einfach wünschen, dass man nicht einfach einen Selbsttest machen und sich dann auf eigenes Betreiben pathologisieren kann, wenn vielleicht die einzige Motivation ist, anders als die anderen Kinder sein zu wollen!
So kam denn in den Kommentarsektionen unterhalb solcher Artikel auch häufiger der Begriff „Snowflake“ vor. Und selbstverständlich wurde der hier mit negativer Konnotation gebraucht. So nach dem Motto „diese Pussies sollen sich mal nicht so haben“. Die oben begonnene Beweisführung ist damit für mich abgeschlossen. Allerdings kann ich nicht umhin, zumindest ein gewisses Maß an Zustimmung zu empfinden. Denn manche Artikel klangen wirklich wie Werthers Weltschmerz, und nicht wie die Erzählung über eine ernsthafte Erkrankung. Da wurden mehr so typische Erste-Welt-Luxusproblemchen mit Überforderung durch eine durchbeschleunigt-fordernde Welt beschrieben. Die habe ich auch! Dauernd! Ich kann meine Sensibilität trotzdem moderieren. Und das mit einer diagnostizierten und behandelten psychischen Erkrankung. Und da muss ich dann halt auch sagen: „Kommt klar ihr Mimosen! Andere haben wirkliche Probleme!“. Für heute ist die Sensibilität bei mir ausverkauft. Schönen Tag noch.