Empathie-Oxidation

Man kann einfach nur für sich leben. Ja, das geht! Man eignet sich einfach diese Arschloch-Attitüde an, dass die ganze verdammte Welt ein dauerhaft geöffneter Selbstbedienungsladen ohne Kasse ist. In altmodisch nennt man solches Verhalten egoistisch oder schlicht asozial. Auf neudeutsch nennt man sowas schick. Denn offensichtlich haben immer mehr Menschen Ansprüche an die Gesellschaft um sie herum, die jedoch durch keinerlei Leistung für die Gesellschaft um sie herum begründbar wären. Ob das nun diese Spasten sind, die wegen eines Bekannten mit Männerschnupfen Mittwochs Morgens um halb drei einen Noztarztwagen verlangen, diese hektischen, zappeligen Drängler, denen es bei keiner noch so unwichtigen Verrichtung schnell genug gehen kann, oder dieses Pack, dass sich gegenüber Amtspersonen alles erlauben zu können glaubt; all überall sieht man, zumindest gefühlt, nur noch dumme, dreiste Menschen!

Natürlich trügt diese Empfindung ein Stück weit, weil Menschen auf negative Erlebnisse erwiesenermaßen schneller und heftiger reagieren und diese auch besser erinnern können. Dem liegt ein uralter Schutzinstinkt zu Grunde, der dem Mammutjagenden Höhlenmenschen behilflich sein sollte, brenzlige Situationen so früh erkennen zu können, dass eine Flucht noch möglich gewesen wäre. Vor einer Gesellschaft, die zumindest in Teilen hohlzudrehen scheint weglaufen zu wollen, ist allerdings ziemlich vermessen, wenn man nicht bei den Yanomami um Asyl anfragen möchte. Und so bleiben am Ende des Tages oft nur die, leider allzu langsam verblassenden Erinnerungen an dumme, dreiste Menschen! Ich meine, mich dunkel erinnern zu können, dass mein Menschenbild beim Verlassen der Schule deutlich positiver war, als dies heute der Fall ist. Zwei Jahrzehnte berufliche Tätigkeit im Gesundheitswesen haben mir die Lust auf soziale Interaktion abseits selbst gewählter Kontakte deutlich abkühlen lassen. Nichtsdestotrotz kann ich immer noch eine sehr gefällige Bedienoberfläche präsentieren, wenn die Situation es verlangt. Und das tut sie in meinem Job nicht eben selten.

Nun gibt es aber einen eklatanten Unterschied zwischen dem, was die Menschen von mir zu sehen und zu hören bekommen und dem, was ich mir wirklich denke. Nicht selten ertappe ich mich im Rahmen irgendwelcher notwendiger Kommunikationsakte dabei, dass ich die verbalen Auswürfe des Gegenübers zwar irgendwie wahrnehme und sogar darauf reagiere, während ich in meinem Hinterkopf das wunderbar entspannende Geräusch einer sich entladenden automatischen Waffe höre. Und kann dann sogar lächeln… Nicht das jetzt irgendjemand Angst bekommt – ich selbst besitze keine Waffen und habe auch keine wirklichen Mordambitionen, aber manche Menschen texten einen so unnötig redundant zu, dass man sich ein bisschen in kleinbürgerlichen Großmachtphantasien ergehen muss, um der Situation die Schärfe nehmen zu können.

Man könnte jetzt also einfach subsummieren, dass meine Empathie wohl oxidiert ist. Überbeanspruchung scheint sie rosten zu lassen. Zum Teil ist das auch richtig. Ich schrieb mal, zumindest sinngemäß, in einem Buch, dass man nicht unbegrenzt oft Mitgefühl haben und geben kann, weil man sich sonst selbst verliert. Nach dieser Maxime mit Gefühlen zu haushalten, klingt vielleicht auf den ersten Blick kalt, wenn man aber jedes fremde Leid ungefiltert auf sich wirken lässt und das in einem Job, der sich hauptsächlich mit menschlichem Leid befasst, geht man daran kaputt und zwar relativ schnell und sehr sicher! Also fahre ich mit meiner Strategie, Emotionen nur sehr bewusst an mich zu lassen und selbst nur sparsam welche auszusenden aus psychologischer Sicht voll auf Sicherheit. Ich habe ja auch noch ein paar Jahre in der Arbeitswelt vor mir. Das wahre Problem sind nicht Menschen, die ihre Empathie bewusst nutzen, oder es eben auch mal bleiben lassen, sondern jene Menschen, die offensichtlich keine besitzen, weil ihnen niemals jemand beigebracht hat, wie sich Mitgefühl und Solidarität, die aber nur aus Mitgefühl erwachsen kann anfühlen. Und von solchen Individuen gibt es leider immer mehr.

Ohne jetzt in Weltschmerzgejammer verfallen zu wollen, lässt sich eine Empathie-Oxidation konstatieren, die einige bedauerliche Folgen mit sich bringt. Zum einen ist es natürlich insgesamt für die Hilfsbereitschaft, ja ganz grundsätzlich für die Solidarität als menschlichen Grundwert ziemlich beschissen, wenn einer Vielzahl von Menschen die Fähigkeit zur Empathie verloren geht, denn die ist der Kleber, welcher das soziale Gefüge einer Gesellschaft als Ganzes zusammen hält. Ohne jetzt auf irgendwelchen soziologischen Theorien herumreiten zu müssen, lässt sich ganz platt sagen, dass mit dem Verlust des Mitfühlens auch der Verlust der Sozialität, des sinnvollen Miteinanders abhandenkommt. In einer Zeit, in der drängende soziale wirtschaftliche und politische Fragen und Probleme die Menschen umtreiben, ist ein Mangel an Empathie – vielleicht als Folge des auf sich selbst Zurückziehens zum Schutz der eigenen Existenz – die erste Stufe eines Versagens von Gesellschaft als Konzept.

Gewiss liegt hier ein wenig Schwarzseherei meinerseits in der Luft, doch ganz krass, jedoch stringent zu Ende gedacht, bedeutet der Rückzug ins Private gleichsam ein Negieren des Sozialen als Bedeutungszusammenhang. Wenn mich meines Nächsten – oder auch Übernächsten – Leid, Unglück, Elend, oder sonst was (auch positiv) nicht mehr schert, werden mir irgendwann alle anderen Menschen, außer mir selbst und vielleicht ganz wenigen Außerwählten, gleichgültig werden. Wenn das jeder so hält… nun, man kann sich ausmalen, wie so eine Welt aussähe. Wer fiktionale Dystopien mag, sollte mal wieder William Gibson lesen.

Man muss jedoch nicht unbedingt mal sehr nahe an andere Menschen heran kommen, um die eigene Solidarität in die Waagschale werfen zu können. Kleine Dinge des Alltags genügen; nicht wegschauen, nachfragen, kommunizieren. Man muss kein Engel und kein frommer, mildtätiger Samariter sein, es genügt oft schon, bei manchen Handlungen zweimal nachzudenken – und schwupps herrscht ein kleines bisschen weniger Empathie-Oxidation. Könnte man doch mal selber versuchen, oder…?

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