Als mich ein paar andere Nerds, die das gut zu verstecken wussten 1989 dazu einluden, an ihrer DSA-Runde teilzunehmen und ich relativ kurze Zeit später noch dazu aufgefordert wurde, mal zu spielleiten, war’s auch schon passiert. Geschichtenerzählen war einfach schon immer ein Teil von mir; und wird es wohl auch immer bleiben. Was mich damals sofort faszinierte waren mehr die unterschiedlichen Welten anstatt der Regelwerke. Und doch…, so viele Ideen, wie man die (halbwegs) reale Welt in einem Erzählraum abbilden konnte, so dass alle Protagonisten und Antagonisten einen Common Ground haben, der die Fairness in den Konflikten sicherstellt, hatten ihre Faszination. Warum ich hier zuerst von Konflikten rede, will ich weiter unten erklären. Anfangs war da noch diese Idee in der Community, dass man tatsächlich für jede Welt ein eigenes Regelwerk haben musste, bzw, dass die Verzahnung zwischen Regelwerk und Kampagnenwelt nicht aufzulösen sei. In meinen jungen Jahren habe ich daher einige ausprobiert: DSA, DnD 1st Ed., ADnD, MERS, Traveller, Star Wars D6, Palladium, Rifts, Robotech, Battletech, Rolemaster, Earthdawn, World of Darkness, Shadowrun, usw. Manche nur ganz kurz, andere haben mich jahrzehntelang begleitet. Doch schon relativ früh bemerkte ich zwei Dinge: keines der Regelwerke befriedigte meine Idee davon, wie Dinge darzustellen wären so gut, dass ich lange ohne Hausregeln und Customization Work auskam. Und nicht selten mochte ich nur die Kampagnenwelt, aber das komplette Regelwerk ging mir meilenweit am Allerwertesten vorbei. Was dazu führte, dass ich „system agnostic“ wurde und schon in den späten 90ern anfing, an einem eigenen Regelwerk zu basteln, dass mittlerweile wohl auch die dritte oder vierte Edition erreicht hat… Wobei System-agnostisch gelogen ist – andere Systeme wurden mir zunehmend egaler, weil ich meines in einigen Aspekten einfach für besser hielt.
Matt Colville sprach die Tage, anlässlich von Wizards of the Coasts Ankündigung einer überarbeiteten Edition von DnD 5E für 2024, über die sogenannten „Edition Wars“; also die immer wiederkehrenden Hass-Diskussionen (heutzutage speziell online) darüber, welche die beste Edition von DnD sei, dass doch sowieso alles nur Geldschneiderei sei und das andere Games sowieso viel besser/schlechter/sonstwas seien. [Er spricht auch viel über die Geschichte des Hobbies, und das Konzerne wie Hasbro nur die Marke interessiert, nicht jedoch das eigentliche Spiel, welches uns Gamern so am Herzen liegt. Das Video geht fast eine Stunde, ist aber unterhaltsam und informativ] Fakt ist, dass mir selbst – durch meine eigene System-agnostische Haltung – ein großer Teil dieser Diskussionen nie bewusst geworden ist. Mein jüngeres, wesentlich dogmatischeres Arschloch-Ich hätte sich sicherlich mit Freude an so einem Mist beteiligt, obwohl das ebenso riesengroße Bullenscheiße ist, wie etwa die ewige Playstation-vs.-XBox-Diskussion, das Canon-vs.-Nikon-Dilemma, der Streit um die beste Automarke, den besten Fußballclub, laberabarberschwätz… Die Sinnlosigkeit eines Streits über Vorlieben, die sich zumeist nur auf irgendeiner Form von unbewusster und daher unreflektierter emotionaler Verbundenheit mit dieser oder jener Marke gründen, kann einem klar werden, wenn man sich mal mit Priming und Werbepsychologie befasst. Fazit: wir werden unser Leben lang verarscht! Bei den Edition Wars war stets einer der Hauptgründe für die Ablehung neuer Regelwerke, dass man sich an die alten gewöhnt hatte und kein Interesse daran bestand, sich mit etwas Neuem auseinandersetzen zu müssen. „Das haben wir schon immer so gemacht!“ „Ja, aber es war schon immer Sch***e!“ „Nein, es war schon immer so, und deswegen war es schon immer gut!“ Tautologie meets Dogma. Kenn ich irgendwie auch aus meinem Arbeitsumfeld…
Was soll denn nun ein Regelwerk im Pen’n’Paper-Rollenspiel überhaupt? Es soll durch die Bereitstellung von Mechaniken unterstützen, dass jene Konflikte, welche im Spiel durch den narrativen Aufbau von Dramatik entstehen (egal, ob dies der Spielleiter tut, oder die Spieler*innen selbst) einerseits sinnvoll und fair aufgelöst werden können (durch irgendwie ermittelte Werte und Charakteristika sowie Wahrscheinlichkeiten, die üblicherweise durch Würfel symbolisiert werden), auf der anderen Seite aber auch die Spieler*innen dazu animieren, dass Ihre Charaktere eine bestimmte Art von Verhalten zeigen, indem es solches Verhalten belohnt. Nämlich jene Art von Verhalten, welche der vom System vorgegebene Style of Play erfordert! Spielen wir etwa einen Survival-Horror-Dungeon-Crawler [Style of Play] wie DnD 1st Ed. [Regelwerk], dann geht es um Umsicht, Cleverness, Ressourcen-Management [erwünschtes Verhalten] in einer klaustrophobischen Spielumgebung, die den Spielern nur einen Weg lässt – vorwärts. Denn nur weiter unten im Dungeon finde ich die Items, die dafür sorgen, dass ich etwas besser überleben kann, um noch weiter unten im Dungeon noch bessere Ausrüstung finden zu können, um… Diablo-Style: Kill-Loot-Upgrade-Repeat. Die Regeln emulieren dann harte, dreckige Kämpfe, bei denen der Tod oft schnell und unerwartet kommt, Leben also billig ist und man nicht unbedingt erwartet, einen Charakter lange zu spielen [dramatische Prämisse]. All das findet in Generic Fantasy Land statt, einer soft-gerenderten Simulation unserer allzuoft nicht sehr realitätsgetreuen Vorstellung des spätmittelalterlichen bzw. Frührennaissance-Europas, welches üblicherweise (dank reicher Mythologie) als frühe Blaupause für Fantasy-RPGs gedient hat; zuzüglich der Monster [Setting].
Man kann sich das jetzt auch denken für ein Space Opera Setting in der Welt von Star Wars (Style of Play: Heroische Science-Fantasy / Regelwerk: Fantasy Flight Games Narrative Dice (analog zu Warhammer Fantasy 3rd Ed.) / Erwünschtes Verhalten: Heldentaten, Altruismus, Over-the-Top-Stunts / Dramatische Prämisse: der alte Konflikt Gut gegen Böse, oder Chaos gegen Ordnung / Setting: vor langer Zeit, in einer weit, weit entfernten Galaxis); oder irgendetwas anderes. Wichtig ist, dass ein Setting ein Thema hat, dass einen speziellen Style of Play einfordert, der den Spielern gleichsam eine Idee davon vermittelt, welches Spielerverhalten vom System belohnt wird – und welches eher nicht… Ebenso wichtig ist natürlich, dass man als Spielleiter auf einen Thema-konformen Aufbau der Dramatik achtet. Dass funktioniert im Horror (Jump-Scares, life is Cheap, mindless monsters) anders als bei Heroic-Fantasy (Shining Heroes, glamouröse Kämpfe, schurkige Schurken) oder Cyber-Punk (Intrigen im Schatten, Hightech vs. Lowlife, soziale Fragen), oder Hard Science-Fiction (gritty realism, Naturgesetze funktionieren hier). Wichtig ist, dass die beschriebene/bespielte Welt jederzeit in sich glaubwürdig und konsistent bleibt. Wenn ich Hard Science-Fiction angesagt habe, kann ich nicht plötzlich Jedi-Ritter aus dem Hut zaubern; genausowenig, wie ich bei High Fantasy plötzlich mit gritty realism und der sozialen Frage der Weber anfangen kann. Wenn ich alles mit allem mische und jeden Konflikt in ein moralisches Dilemma verwandele, hat daran niemand mehr Spaß – denn in jedem Setting muss es eine, eindeutig BÖSE Fraktion geben, bei der absolut niemand mit der Wimper zuckt, wenn Chars anfangen, deren Mitglieder zu killen. Sonst kann ich doch noch anfangen, mir Game of Thrones anzuschauen (und ganz ehrlich, der Sch*** hat mich bis heute keine einzige Sekunde interessiert!)
Ich probiere auch heute noch gelegentlich Anderes / Neues aus und sammle ein bisschen jene Regelwerke, die mich faszinieren. Oft genug wegen der beschriebenen Settings, manchmal aber auch, weil ich immer wieder darüber nachdenke, wie man mein Rulesset, dass jetzt durchaus ein wenig crunchy ist (da wird schon mal ganz ordentlich gewürfelt) doch noch ein bisschen sleeker und einfacher gestalten könnte. Ist wahrscheinlich eine Zeitgeist-Frage, hört man doch überall in der Szene davon, dass man das „Shoeleather“ aus seinen Sitzungen entfernen sollte. „Shoeleather“ meint beim fiktionalen Schreiben, alles, was theoretisch auch in der Welt der Erzählung da ist, dessen Erwähnung aber den Plot nicht vorantreibt und für den Aufbau der Dramatik nicht zwingend notwendig ist. Denkt dabei an Telefonate in Filmen: „Hey Joe, wir treffen uns in 10 Minuten! – Alles klar, ich bringe Betty mit!“ Woher weiß dass Gegenüber, WO es in 10 Minuten sein muss? Weil der Plot sagt, dass er es eben weiß. Dafür haben wir eine schöne Spannungsfrage: wer oder was zum Henker ist „Betty“? Das ganze Geplänkel, die Höflichkeitsfloskeln, die Erwähnung, dass man sich zu lange nicht gemeldet hat – alles unwichtig, denn in 10 Minuten geht’s los und Betty ist dabei. Muss ich mehr wissen, um gespannt zu sein, was als nächstes passiert? NÖ, MUSS ICH NICHT? Um das zu erzeugen, brauche ich allerdings KEIN spezielles Regelwerk, sondern ein Verständnis für’s Erzählen, für Dramatik und Pacing – und ein paar gute Plot Points, von denen aus meine Spieler*innen in die Geschichte einsteigen können; aber eher selten braucht man dafür eine Würfelorgie. Ich selbst bin diesbezüglich übrigens schuldig im Sinne der Anklage! Aber warum müssen dann Konflikte entstehen? Weil ohne hohe Einsätze, Herausforderungen, Bedrohungen, Gefahren und mögliche Belohnungen kein Drama entsteht – keine Spannung, die sich durch Handlungen der Charaktere auflösen lässt. Und diese Lösung ist im Pen’n’Paper eben recht oft eine irgendwie geartete Auseinandersetzung.
Jetzt sind wir einmal im Schweinsgelopp durch das Thema, was Regeln beim Pen’n’Paper sind hindurchgeprescht. Aber was sind Regeln dann nicht? Ganz einfach: sie sind KEIN Instrument, um die Fantasie und Kreativität der Spieler*innen (oder der Spielleiter*innen) zu bremsen / einzufrieden. Und sie sind NIEMALS in Stein gemeißelt, wenn sie genau das eben beschriebene doch einmal tun sollten. Denn DAS killt den Spaß. Und der Spaß am Spiel durch das bewusste Eintauchen (die Immersion) in eine andere Welt ist das einzige, was dieses Spiel und seine Spieler*innen als Leim zusammenhält. Gemeinsam Fantasien erforschen, gestalten, ausleben, ohne dabei tatsächlich weit weg reisen zu müssen. Oder wie Matt Colville mal gesagt hat: „It’s the most fun, you can have with your brain!“ In diesem Sinne – always game on!
- Friedmann, J. (2019): Storytelling. Einführung in Theorie und Praxis narrativer Gestaltung. München UVK Verlag.
- Mackay, D. (2001): The fantasy role-playing Game: a new performing art. Jefferson (NC USA), London: McFarland & Company, Inc.
- Merkel, J. (2021): Sieh, damit wir sehen! Eine Geschichte des Geschichtenerzählens. Berlin: Der Erzählverlag.