Der verwirrte Spielleiter N°46 # Der staunende Gamer

Kürzlich von mir getroffene Aussagen zum Thema Staunen, Achtsamkeit und Zweifeln sollte man vermutlich ein wenig mit Vorsicht genießen, wenn es an das Zocken geht. Denn Pen’n’Paper lebt von der „willing suspension of disbelief„, also dem Wunsch, an die „secondary world“ zu glauben. Als Spielleiter ist meine kostbarste Ressource also eine in sich kohärente Spielumgebung, in der sich die Spielercharaktere auf bestimmte Dinge verlassen können. Möglicherweise werden die Naturgesetze der realen Welt regelmäßig gebrochen – denkt etwa an Magie, die hält sich üblicherweise NICHT an die Sätze der Thermodynamik. Innerhalb der secondary world jedoch gelten eigene Gesetzmäßigkeiten, die ich auch als Erfinder derselben und SL nicht einfach brechen kann, ohne dass meine Spieler*innen auf die Barrikaden gehen. Wenn ein Breitschwert (z. B. in meinem System) xW6 + Stärkeeffekt W6 Schaden verursacht, gilt das für alle. Das gleiche Schwert verursacht nicht plötzlich in der Hand eines NSCs wesentlich mehr oder weniger Schaden, als unter Beachtung der Regeln plausibel wäre. Gleiches gilt für alle möglichen kritischen Handlungen, aber auch für das Techlevel, das Magielevel, das Sozialgefüge, etc. dieser Welt. Die Dinge mögen anders sein, als hier bei uns – im wesentlichen sind sie aber auch in „Generic Fantasyland“ erst mal so, wie sie sind; und nicht an einem Tag so, und am nächsten aber anders, weil ich gerade Lust darauf habe. Das gilt natürlich für beide Seiten. Ein Spieler kann auch nicht plötzlich die Welt aus den Fugen heben, weil’s ihm halt einfällt.

Diese Verlässlichkeit lässt aber natürlich mit der Zeit in den Spieler*innen neben einer Vertrautheit mit der secondary world auch gewisse Abstumpfungseffekte entstehen. Die Reizschwelle steigt, weil sich irgendwann so ein „Hab-ich-doch-alles-schon-mal-gesehen“-Gefühl entwickelt. Nicht unbedingt schnell und auch nicht bei allen gleich; aber bei erfahrenen Spieler*innen ist es nach einer gewissen Zeit zu beobachten. Sie fangen dann an, sich nebenher mit Anderem zu beschäftigen, weil das halbe Ohr der üblichen (allzu konventionellen) Geschichte ja so oder so folgen kann. Gefährlich wird’s, wenn der SL bei dem Spiel mitmacht, weil er ja schon so viel Erfahrung hat, dass das nicht schiefgehen kann. Ist mir auch schon passiert. Geht übrigens meistens, auf die eine oder andere Art, schief! Letztlich ist derlei die Folge eines Übersättigungseffektes. In Hollywood-Blockbustern, insbesondere im Marvel-Franchise kann man Ähnliches durch die vollkommene CGI-Überfrachtung der Bilder sehen. Die Kinematographie orientiert sich allzu häufig nicht mehr an den wichtigen Charakteren (das wäre klassisches Center-Framing, wie man’s z.B. in „Mad Max: Fury Road“ sieht) sondern am maximal möglichen Szenen-Bombast. Daraus wurde irgendwann ein Wettlauf um die meisten Effekte und hastigsten Schnitte in einer Film-Sequenz. Wenn ICH Kopfschmerzen haben möchte, trinke ich lieber Glühwein, anstatt mir handwerklich schlecht gemacht Action anzuschauen.

Was folgt nun daraus für den staunenden Pen’n’Paper-Gamer? In aller Kürze: erstmal mehr Konzentration auf die Spieler-Charaktere. Sozusagen mentales Center-Framing. Wenn wir die mentale Kamera beim Rollenspiel nahe beim Char halten wollen, ist das Erste, was zu tun ist, das Spotlight halbwegs gleichmäßig zu verteilen (ohne jedoch jene Spieler*innen zu sehr zu überfordern, die nicht solche Rampensäue sind, wie ich). Das Zweite wäre, die Spieler*innen an ihrer kreativen Ehre zu packen, und sie – zumindest ein bisschen – dazu zu bringen, WIRKLICH zu beschreiben, was ihre Chars tun. Das nötigt sie gleichsam dazu, die Szenerie zu visualisieren und sich damit mehr zu involvieren, als abgelenkt durch ein Smartphone oder irgendwelche Handarbeiten möglich wäre. Denn was ich mir nicht aktiv vorstelle, das KANN mich nicht faszinieren. Drittens müssen wir uns trauen, das allzu Bekannte neu abzumischen. Man kann konventionelle Sequenzen, wie etwa Kämpfe neu re-mixen, indem ich als SL das Terrain nutze, nicht immer die gleichen Gegner bringe (z. B. welche, die in keinem Handbuch kodifiziert sind; großer Vorteil meiner Welt: es gibt KEIN Monster Manual), und mich immer wieder daran erinnere, dass auch die Bösen gerne gewinnen. Aber auch Non-Combat-Encounter gewinnen an semantischer Tiefe und damit imaginativer Kraft, wenn ich nicht immerzu die gleichen abgedroschenen NSC-Sterotype nutze. Das Ungewöhnliche ist ein starker salienter Reiz. Diesen Umstand kognitiver Verarbeitung sollte man nutzen.

Ob man auch nach über 33 Jahren Pen’n’Paper noch staunen kann? Allerdings! Ich habe neulich an mir festgestellt, dass z.B. ich auch Serien und Bücher gut finden kann, bei denen die klassischen Franchise-Fanboys und -Girls in wütendem Chor zu einem „Das-ist-NICHT-Kanon“-Geheule anheben. Scheiß Dogmatiker. Anstatt ein Work of Art einfach in seinem eigenen Kontext sehen und bewerten zu können, sucht man immerzu nach einem Haar in der Suppe; und verbaut sich damit die Chance auf eine eigene Erfahrung. Klassisches psychologisches Framing bei der Arbeit – es kann nicht sein, was nicht sein darf! Nur so am Rande: das ist übrigens auch ein typisches Nazi-Narrativ… In der secondary world bedeutet Staunen, fast noch mehr als in der realen Welt, sich auf etwas einzulassen, dass sich als ganz und gar bekloppt herausstellen kann. Das weiß man aber erst hinterher. Und ich würde eine neue Erfahrung nur in ganz wenigen Fällen als verschwendete Lebenszeit betrachten. Eine dieser Ausnahmen ist „Sin City“. Ich finde diesen Film kinematographisch interessant; aber seine Erzählweise ist ein Storytelling-Desaster erster Güte. Folglich hasse ich diesen Film, den so viele Menschen gefeiert haben, weil Frank Miller seine Graphic Novel eins zu eins auf Zelluloid übertragen wollte; und dabei den „Space between the Frames“ ausgelöscht hat. Er hätte mal besser Scott McClouds „Understanding Comics“ gelesen.

Mit den Augen eines Anfängers zu sehen, ist eigentlich nicht schwer. Ich muss mich dazu „nur“ von dieser zeitgenössischen Erwartungshaltung des größer, weiter, höher, mehr frei machen. Ich persönlich mag kleine aber feine Geschichten mit begrenzter Umgebung und halbwegs klaren Zielen viel lieber, als diese Weltenretter-Scheiße, die man mittlerweile viel zu oft serviert bekommt. Kleiner geht’s nicht? Dann schaut euch noch mal „Mad Max: Fury Road“ an. Einstweilen wünsche ich einen schönen Sonntag. Always game on!

Auch als Podcast…

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