Der staunende Zweifler

Der Huzz und Buzz des alltäglichen Wahnsinns hat uns schon ganz schön heftig in seinen Klauen. Wie schön wäre es, wenn man sich tatsächlich an den „kleinen Dingen“ erfreuen und vom Trott des Hamsterrades ablenken könnte, ohne dafür etwa nach Kambodscha fliegen und Angkor Wat besichtigen zu müssen. Abseits der aberwitzigen Kosten, der zeitgenössischen Flugscham und der notwendigen Impfungen wäre das auch ein recht zeitintensives Unterfangen, um mal eben runterzukommen. Und wir wollen ja sogar unsere Achtsamkeit jetzt gleich – und zudem am besten schön Instagrammable oder Tiktokerisierbar. Ja – Social-Media-Konsum und Achtsamkeit wiedersprechen sich in vielerlei Hinsicht. Ärgerlich, oder? Nimmt man sich die ca. 30 Sekunden, die bis hierhin zum Lesen dieses Posts verbraucht wurden – KOSTBARE 30 SEKUNDEN, in denen man der Welt NICHT zeigen konnte, was für eine coole Sau man ist – einfach als Moment, in dem man evtl. zum Denken angeregt wurde, erscheint das anachronistische Element des Begriffes Achtsamkeit plötzlich sichtbar.

A better day…?

Achtsamkeit bedeutet im Kern doch erst mal nichts weiter, als seine Aufmerksamkeit gezielt lenken, und dabei Dinge, die vom derzeit individuell Wesentlichen ablenken ausblenden zu können; wenigstens zeitweise. Und hier haben wir das Hauptproblem: nämlich überhaupt erst mal zu wissen, was individuell wesentlich ist. Denn solange ich dauernd online, dauernd verfügbar bin, sind Ablenkung, Prokrastination und DAS MITTEL gegen Fear Of Missing Out immer nur einen Griff in die Tasche weit entfernt. Vielleicht wäre es ganz gut, sich zu erinnern, was „verfügbar sein“ wirklich bedeutet: nämlich das ich Anderen Gewalt über meine Zeit und damit zumindest Teile meines Lebens gebe – Verfügungsgewalt eben. Bei einem Diensthandy bekommt man dafür Bereitschaftzszeiten bezahlt. In der Social Cloud ist die Währung, in der ich bezahlt werde die Aufmerksamkeit, welche mir zuteil wird. Doch wenn ich dauernd zuerst nach der Aufmerksamkeit giere, vergesse ich möglicherweise, auf mich selbst, meine Bedürfnisse zu achten – und vernachlässe in der Folge meine Achtsamkeit.

Ich sprach zuvor von den „kleinen Dingen“. Manchen Menschen kommen dabei Begriffe wie, „die Welt mit den Augen eines Kindes sehen können“ in den Kopf; ganz so, als würde das Staunen des Kindes durch einen anderen Blick auf die Welt entstehen; eine noch nicht von Erfahrung, Verstehen und Verantwortung verbaute Sicht der Dinge. Quasi unschuldig. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Augen eines Kindes in der üblichen Auslieferungsform auch einen Mund haben, der in der Folge sehr seltsame Fragen stellen und uns ganz schnell aus der Fassung bringen kann. Mal davon ab, dass wir ja oft genug selbst unsere Kinder auf – für uns bemerkenswerte – Dinge hinweisen; womit das Kind irgendwann lernt, für bemerkenswert zu halten, was auch schon seine Eltern für bemerkenswert hielten. Das nennt man Imitationslernen. Und es ist noch dazu, wenn vermutlich im Normalfall auch ohne böse Absicht, eine durchaus manipulative Variante von Pädagogik. (Ein paar der Gedanken habe ich übrigens aus diesem Artikel auf Zeit-Online entlehnt, ist hinter der Paywall) Dennoch ist das STAUNEN KÖNNEN etwas, wonach sich viele Erwachsene anscheinend stark sehnen. Und manche zahlen dafür anscheinen sogar Geld. Ich würde das anders angehen. (Verdammt, ich begebe mich jetzt vielleicht gerade auf die Ratgeberschiene! Aber keine Sorge – ich verlange nichts dafür!)

Anekdotische Evidenz (auch bekannt als „…also bei mir ist das so…!“) hat bekanntermaßen keinerlei Beweiskraft und eignet sich bestenfalls für unernsthaften Smalltalk. Weil das hier aber MEIN Blog ist, sag ich’s einfach mal so: Achtsamkeit beginnt damit, sich selbst nicht mehr so viel abzulenken! Ist einfach, oder? Da brauch man jetzt kein Seminar für: LEG EINFACH DIE VERDAMMTE TASCHENWANZE WEG! So, der erste Schritt wäre getan. Und jetzt schau dich um. Achtsamkeit braucht KEINE Tools. Nur deine fünf Sinne. Allerdings bitte nicht immer alle, denn z. B. auf einem Waldweg einfach mal irgendwas, was du gerade gefunden hast zu schmecken, könnte medizinisch bedeutsame Konsequenzen haben. Und vor allem, versuche nicht immer alle Sinne gleichzeitig zu bedienen! Das macht einen kirre. Wenn du unbedingt etwas dafür bezahlen möchtest, digital detoxifiziert zu werden, kannst du natürlich in irgendso ein Camp gehen.

Oder du legst das Handy nach dem Fertiglesen weit weg! Noch weiter! Mindestens zwei Zimmer weiter! Dann setzt oder legst du dich bequem auf die Couch oder dein Bett und denkst mindestens 15 Minuten über folgende Frage nach: „WAS WILL ICH WIRKLICH?“ Mach dabei ruhig mal die Augen zu. Höre KEINE Musik! Schau NICHT fern! Sei ruhig mal allein mit deinen Gedanken. Ich weiß, das das beängstigend sein kann, aber das musst du jetzt aushalten! Und dann schreibst du die Antworten, die dir einfallen auf Papier! Auf Papier, hörst du? Mit einem Stift! (Ich benutze übrigens einen Füller). Das machst du mindestens einmal alle drei Tage, und du legst die Zettel in ein Glas. Kauf dir bitte NICHT extra eines dafür, sondern benutze ein gebrauchtes Marmeladeglas. Ist nachhaltiger. Und nach einem Monat kommt der Review. Ob du große, oder kleine Themen niedergeschrieben hast, ist egal. Wichtig ist, dass du jetzt darüber nachdenkst, warum du Ziele NICHT erreicht hast. Zweifele an deinen Methoden! Zweifele an deinen Zielen! Zweifele auch mal an deiner Wahrnehmung. Hat die Person das wirklich gesagt? Hat die Person das wirklich SO gesagt? Hat die Person das wirklich SO GEMEINT? Du weißt, wohin das führt, aber das muss sein. Man nennt das Selbstreflexion. Das ist der erste Schritt eines Prozesses, der länger dauert. Und wenn du Bock hast, erzähle ich dir vollkommen kostenfrei, was noch alles kommt. Aber nicht jetzt.

Wichtig ist, dass du zuerst verstehst, dass du gerade wieder lernst, zu staunen. Über dich. Über deine Mitmenschen. Über die Welt um dich herum. Dafür muss man nicht weit reisen, Geld ausgeben, oder unglaublich schlaue Bücher lesen, sondern sich mehr und öfter bewusst mit dem beschäftigen, was um einen herum und in einem drin vorhanden ist; und viel weniger mit dem, was einem Andere aufzwingen, indem man verfügbar ist. Denn man sollte öfter mal bezweifeln, dass Andere einem tatsächlich wohlmeinen. Häufig benutzen die dich nur als Mittel, ihr eigenes geringes Selbstwertgefühl zu steigern. Dazu bist DU zu schade! Probiers mal aus, und sag mir, ob es für dich auch funktioniert. Vielleicht wirst ja auch DU zu einem staunenden Zweifler. Bis dahin – schönen Abend.

Auch als Podcast…

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