Der verwirrte Spielleiter #14 – What about Chain Mail Bikinis?

[Anmerkung: Ich muss etwas ausholen, um zum eigentlichen Thema, nämlich dem Realismus im Rollenspiel zu kommen. Man möge mir dies bitte verzeihen…]

Dieser Tage stolperte ich über eine Regalsektion, in die ich in vergangenen Jahren nur noch selten hinein geschaut habe; doch als ich mit Pen&Paper angefangen habe, so im Sommer ’89, waren Artbooks verdammt wichtig. Sie transportierten den Look and Feel des jeweiligen Spiels und waren damit formierend für mein visuelles Verständnis von Fantasy (und natürlich auch den anderen Genres). Dazu gehörten Namen wie Larry Elmore, Keith Parkinson, Clyde Caldwell und noch einige andere. Natürlich kam später auch das Sammeln von Graphic Novels dazu (Michael Turner ist bis heute einer meiner Favoriten), doch diese Artbooks waren die ersten Tore zu jenen fantastischen Welten, die zu besuchen wir uns damals regelmäßig aufmachten.

Heutzutage kapiert das keiner mehr, weil das Internet mittlerweile Artwork zu jedem erdenklichen Sujet ubiquitär verfügbar gemacht hat. Doch damals musste man in Büchern danach suchen; z.B. um den Spielern eine Vorstellung eines Settings oder eines Charakters zu vermitteln. Ich habe noch eine Menge solcher Bücher in meinem Regal stehen. Und wie man es auch dreht und wendet: nur wenige Künstler jener Zeit kamen am Chain Mail Bikini Babe vorbei – insbesondere Larry Elmore nicht, der das Ganze dann sogar ironisch auf die Schippe genommen hat (wer mal nach „The chick is in the mail“ suchen möchte…). Diese Illustrationen waren, mit heutigen Augen gesehen oft recht sexistischer Scheiß. Als pubertierender Rotzlöffel fand ich das allerdings leider geil. Und ich war nicht allein.

Das transportierte Frauen-Bild war natürlich vollkommener Humbug; so wie die „Damsel in Distress“ ein häufig zitiertes Topos im Action-Kino der 80er war, so gab es – quasi als Fantasy-Antithese dazu – im Pen&Paper die Chain Mail Bikini Babes, die nix außer einem Schwert und ihrem Körper als Waffe brauchten, um die Gegner in die Knie zu zwingen. Wenn man’s recht bedenkt, sollten das wohl starke Frauen sein, die auch ihr Äußeres als Waffe einzusetzen wussten. Ich würde mal vermuten, dass es den Herstellern von Pen&Paper in erster Linie um dieses „Sex sells“-Ding ging. Funktioniert hat es damals einwandfrei. Übrigens auch mit Blick auf die Darstellung von Männern. Wer sich mal die Artworks von Frank Frazetta oder Boris Vallejo ansieht, versteht, was ich meine.

Nun haben sich die Zeiten geändert. Wo früher vor allem Nerd-Boys unter sich waren und Rollenspiel gespielt haben, sind mittlerweile viele Mädchen und Frauen in die Gaming-Szene gekommen. Der Anspruch an die visuelle Darstellung hat sich geändert. Auftragsarbeiten, die TSR und andere Hersteller in den 90ern lässig durch gewunken hätten, böten heute – mit etwas Pech – Anlass für eine Unterlassungsklage durch irgendwelche #metoo-Aktivistinnen. Nicht dass man mich missversteht: mir ist bewusst, dass Kunstformen und Kunstausdruck sich ändern, weil der Zeitgeschmack sich ändert. Und ich habe damit ebenso wenig ein Problem, wie mit neuen Regelwerken für jedes neue Setting und den dazu gehörenden neuen Looks. Auch wenn mich gelegentlich das Gefühl beschleicht, in 30 Jahren so gut wie alles schon mal gesehen und gemacht zu haben. Sei’s drum.

Was hat das alles nun mit Realismus im Rollenspiel zu tun? Sagen wir mal so: meine visuelle Vorstellung eines beliebigen Spiels hat Einfluss auf meine Immersion, mein Handeln und mein Engagement am Spieltisch. Sowohl als Spieler, als auch als SL. Werde ich darin eingeschränkt, sinken Immersion und Engagement und in der Folge wird die Qualität meines Spiel-Handelns nicht so sein, wie sie sein könnte. Für mich leidet also die Qualität meines Spiels, wenn man mir zu viel Realismus aufbürdet, der meine Fantasie behindert. Wenn ich Spielleite und meine Spieler beschneiden sich selbst in ihrer Vorstellung der bespielten Welt und der Aktionen ihrer Charaktere darinnen, weil man z.B. in Echt halt nur sehr schwer (eigentlich gar nicht) von einem selbst gefahrenen Motorrad in einen fahrenden Transporter springen kann, ist das deren Problem, nicht meines. Wenn mir ein anderer Spielleiter meine Stunts verbietet, weil sie ihm in seiner Vorstellung zu unrealistisch vorkommen, würde ich vermutlich alsbald nicht mehr bei ihm spielen wollen.

Die Frage, die sich mir überdies stellt, ist Folgende: warum zum Kuckuck muss alles, was im Rollenspiel passiert neuerdings so bierernst und realistisch sein. Ich sehe überall irgendwelche Beschreibungen dysfunktionaler Gruppen, deren maximal mental kaputte Mitglieder nur durch Zufall in die gleiche dystopische Richtung rennen. Ist nur so ein Gefühl, aber wird hier der – zugegeben etwas kaputte – Zustand unserer Welt nicht ein bisschen zu sehr reflektiert? Ohne Frage werfe auch ich bestimmte Aspekte meiner echten Erfahrungswelt mit in die Waagschale, wenn ich meine Spielrunden designe. Dennoch versuche ich immer genug Distanz zum wahren Leben zu lassen. Denn meine Spieler wollen – im Gegensatz zu ihrem Alltag – die Sau rauslassen dürfen, ohne, dass dies allzu harsche Konsequenzen hat.

ACHTUNG: Hier besteht ein signifikanter Unterschied zwischen dem Wunsch nach Realismus und der inhärenten Mechanik der Spielwelt. Wenn ich etwas tue, was in der Spielwelt möglich ist, mein Handeln aber eventuell Folgen hat, die sich nicht nur auf mich, sondern auch auf andere auswirken, ist das i.a.R. Teil der Mechanik dieser Welt. In einem Cyberpunk-Szenario, wo Kameras omnipräsent sind, werden irgendwelche Aktionen in der Öffentlichkeit irgendwann Aufmerksamkeit erregen; ob die dann positiv oder negativ ist, bleibt dabei zunächst offen. In jedem Fall ist es Teil der Logik dieser Welt, bzw. dieses Settings.

Verbiete ich als SL jedoch eine Aktion, einfach, weil sie mir zu unrealistisch erscheint, beschneide ich vielleicht unnötig die Möglichkeiten der Spieler, obwohl die Mechanik der Spielwelt mir verschiedene Reaktionen zur Verfügung stellen könnte, die Situation aufzulösen. Z.B. ein wissenschaftlicher, mechanischer oder deduktiver Quantensprung (vielleicht kombiniert mit etwas Würfelglück) , der die Charaktere früher als vom SL geplant ans Ziel führen würde, oder ihnen eine Chance eröffnet, ein Problem ohne Hilfe Dritter zu erledigen, könnte vom SL als Bedrohung seines Szenarios empfunden und daher sabotiert oder gar verboten werden. Wie ausgesprochen langweilig…

Realismus im Rollenspiel bedeutet bei mir, das Standard-Handlungen im jeweiligen Setting immer erwartbare Ergebnisse erzeugen. Dass waghalsige Stunts möglich (sogar erwünscht) sind, allerdings auch mal schiefgehen können. Dass sowohl SL als auch Spieler berechtigt sind, das Unerwartete und Ungewöhnliche zu tun, sofern es im gegebenen Kontext irgendwie denkbar erscheint. Und das die visuelle Coolness des eigenen Charakters ganz und gar vom Geschmack des Spielers abhängt. Du willst ’n Chainmail-Bikini? Bitte, kannst du haben. Ich bin zwar schon lange nicht mehr danach gefragt worden, d.h aber nicht, dass die Dinger ausverkauft wären. Und bitte – nur so am Rande – der CMB ist hier nur ein Synonym für was auch immer euch einfallen mag. In diesem Sinne – alway game on!

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