Unterschiede. Divergenzen. Dichotomien. Ambivalenzen. Kontraste sind das Salz in der Suppe unseres Lebens, weil sie sich so exzellent dazu eignen, Dinge greifbar zu machen. Indem ich die Unterscheidbarkeit von Sachen oder Sachverhalten nutze, kann ich sie oft wesentlich besser definieren und verständlich machen. Der Vergleich ist also ein ständiger Begleiter. Das Problem ist, dass die Vergleiche und Kontrastierungen, wie alles andere im Leben – abhängig von der Dosis – ein Gift sein können. Etwa die Beschreibung kultureller Unterschiede, die einfach nur dazu gedacht war, Eigenheiten des Gegenübers verständlich zu machen, wird in den falschen Händen plötzlich zu einem Werkzeug des Hasses! Wird genutzt, um ein Wir-gegen-Die-Narrativ zu begründen! Wird schließlich zu Rassismus! Und so sehr man sich auch für aufgeklärt, weltoffen, tolerant und über solch niederem Verhalten stehend halten mag – das Unterscheiden-Müssen des Unterscheidbaren ist ein Mechanismus, der von Kindesbeinen an so tief in unserer Psyche verankert wird, dass wir nicht aus unserer Haut können – wortwörtlich! Wir urteilen auf Grund der sozialen Filter, welche uns von Tag 1 an mitgegeben werden, denn unser sensorisches Register und unsere formatio reticularis mögen zwar rasend schnell unbewusst auf die verschiedensten Reize reagieren können – sie sind aber sehr wohl konditionierbar!
Gerade visuelle Reize, die noch dazu einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitsleistung für unseren Cortex verursachen, wirken dabei als mächtige Mittel des Lernens. Aber auch alle anderen Sinne sind an solchen Leistungen beteiligt. Es sind diese Mechanismen, die wir uns in der Berufsbildung zu Nutze machen müssen. Denn viele Kompetenzen, welche die Auszubildenden erlernen sollen, sind nicht durch klassischen Unterricht, sondern nur durch moderierte Konfrontation mit der Realität und gezielte Reflexion des Erlebten möglich. Wir tun dies durch Simulationstrainings, in denen wir Auszubildende aber auch Ausbilder immer wieder an mögliche reale Belastungen heranführen, und so zum Beispiel die Limits individueller Stressresilienz anheben. Aber auch Einstellungsänderung funktioniert auf diese Art. Denn es bedarf, um als Notfallsanitäter*in sein volles Potential entfalten zu können, eines besonderen Menschenbildes, welches jedoch nur zu oft durch die, während der fachpraktischen Ausbildung am Realsubjekt unserer Arbeit erlebte, gesellschaftliche Realität beschädigt wird. Und das meint explizit nicht nur Patienten, Angehörige und Mitglieder anderer Berufsgruppen – es inkludiert auch viele Kollegoide, welche die Frustration ihrer Desillusionierung an den Azubis abreagieren. Da könnte ich kotzen!
Es ist die vornehmeste Kunst, Ambivalenzen auszuhalten und sein inneres Selbst trotzdem nicht zu verlieren. In dieser Hinsicht stellt sowohl meine heutige Tätigkeit als Ausbilder, wie auch meine vorige als Notfallsanitäter nicht unerhebliche Anforderungen. Und regelmäßig versage ich dabei, gebe den Druck an jene weiter, die diesen eigentlich nicht verdient haben und auch nicht aushalten müssen sollten; ich verliere mich selbst viel zu oft in wenig zielführenden Denk- und Argumentationsspiralen und tue Menschen manchmal schlicht Unrecht. Reziprok trifft zwar das Gleiche zu, aber das macht es ja nun kein Jota besser. Denn auch ich erliege natürlich regelmäßig der dunklen Seite der Kontrast-Macht. Nur ist Schwarzweiß-Malerei leider nicht nur ein starkes visuelles Stilmittel, sondern auch ein Mechanismus, der zu gerne von den dunklen Kräften in unserem Lande genutzt wird, um einfache Antworten auf komplexe Fragen zu geben; und so wieder Menschen auf eine Wir-gegen-Die-Erzählung einzuschwören, die uns in einen Zug nach nirgendwo setzt. Wo solche Feind-Narrative enden, kann man momentan bis zur zermürbenden Fassungslosigkeit, in der Ukraine beobachten. Das wirft allerdings eine Frage auf, zu der ich bis heute keine befriedigende Antwort gefunden habe: soll Berufsbildung für Erwachsene (abseits der eh schon vorhandenen Unterrichtseinheiten zum Thema Integration) auch solche Dinge thematisieren? Und falls ja, wie, wie stark und mit welcher Intention? Denn Propaganda, gleich welcher Coleur hat in einem Lehrsaal wirklich nichts verloren… Nun ja, ich grübele weiter, und wünschen allen einen guten Start in die neue Woche.
- Roth, Gerhard (2020): Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.