Ich hatte die Tage ja schon mal auf das gute alte Stereotyp des Rotwein saufenden Bildungsbürgers abgehoben; ich meine zwar, dieses wäre damals, in der 80ern im Zusammenhang mit der neu entfachten Toskana-Wehmut vieler Studienräte:innen entstanden, aber hier in Okzitanien gibt’s ja auch leckeren Rotwein aus sonnendurchfluteten Landschaften, Häuser aus Naturstein und jede Menge Kultur zum Bestaunen. In dem kleinen Örtchen (ca. 800 Einwohner), in welchem wir derzeit logieren, gibt es z. B. ein archäologisches Museum, welches sich mit dem „Homme de Tautavel“, einem Hominiden von vor ca. 500.000 Jahren und dessen Lebensumständen / Fundstätte befasst. Man könnte also tatsächlich von einer Bildungsreise ausgehen. Aber das würde ja implizieren, dass wir vor allem der Bildung wegen hergekommen sind, so wie einstmals Goethe Italien bereiste. Er tat es wohl, um eine Schreibblockade zu überwinden. Doch wir sind vor allem hier, weil es hier schön ist, und weil es eine Menge Dinge zu erfahren und zu bestaunen gibt. Und ich meine damit definitiv NICHT, dass ich hinterher mehr über diese Dinge wissen MUSS, sondern ich nehme unintendierte, informelle Lerneffekte einfach mit und freue mich drüber, muss mich aber auch nicht grämen, wenn diese nicht eintreten. Und ich habe keine Schreibblockade…
Mich jetzt als jemanden zu bezeichnen, der an Bildung interessiert ist, wäre beinahe untertrieben! Ich liebe Bildung; außerdem bin ich intrinsisch motiviert, zu lernen und andere zum Lernen zu bringen. ABER mir geht es im Urlaub mit dem Lernen (müssen) so, wie dem Chefkoch, der nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt; der/die stellt sich auch nicht mehr hin und kocht sich ein Viergänge-Menü, sondern schiebt sich einfach ’ne Tiefkühlpizza in den Ofen! Wenn er/sie denn überhaupt noch Hunger / Appetit hat…? Denn irgendwann ist mit dem ganzen Content erstellen, Curriculi und Unterrichte planen oder überarbeiten, Recherchieren und Organisieren, etc. auch mal gut. Wenn sich auf unseren Ausflügen Wissens-Mitnahme-Effekte ergeben, sind diese willkommen. Ansonsten gilt: „Teacher out of order!“ Es ist schon so, dass mit dem STAUNEN vor Ort oft auch das FRAGEN kommt. Aber dieses FRAGEN erschöpft sich zumeist dann im Finden eher oberflächlicher Zusatzinformationen, denn alles was vom eigentlichen WAHRNEHMEN des Objektes der Begierde ablenkt, stört nach kurzer Zeit den Genuss; und unterbleibt folglich einfach. Schließlich gilt im Urlaub: „Alles kann – nichts muss!“
Wir sind eh oft damit beschäftigt, unser Französisch-Gedächtnis am Laufen zu halten, z.B. wenn zwei Herren mittleren Alters fragen, ob man das Lorelei-Gedicht von Heine noch erinnern könne (so geschehen beim Abstieg von der Quéribus, als man mitbekam, dass wir Deutsche sind). Der olle Romantiker steht wohl, dank seines langen Exils in Paris wegen seiner Sympathie für die Julirevolution 1830 auch bei den (gebildeten) Franzosen recht hoch im Kurs. Wir bekamen Teile des Textes dann zusammen hin und mussten allesamt lachen. Der dabei entstandene Lerneffekt: Kunst kann die Menschen über Generationen und Nationen hinweg verbinden. Das ist, warum ich eigentlich verreise: um den Menschen, die ich doch so oft und gerne schelte, und von denen ich immer wieder sage, dass ich die meisten von ihnen hassen würde (was manchmal glatt gelogen ist) verbunden bleiben zu können – und immer wieder auf’s Neue zu lernen, welche mannigfaltigen Formen und Kanäle des Verbunden-Seins es geben kann. Ich bin am Ende des Tages wohl doch kein solcher Misanthrop. Vielleicht ist meine Existenz dann auch doch eher eine Komödie, wie bei Molière? Hierzu habe ich eine schöne Erinnerung: ich durfte dieses Stück vor 30 Jahren als Abiturient auf Klassenfahrt in einer klassischen Inszenierung der Comédie-Francaise in Paris sehen. Vielleicht war das so was wie ein Omen zur Verbundenheit durch Kunst? In jedem Fall wünsche ich einen guten Start in die Woche.