…oder vom „System“, das ja so böse ist und diese oder jene Ungerechtigkeit verursacht. Ich bin mir ja nicht so sicher, was Stammtischparoleure landauf, landab meinen, wenn sie von „dem Kapital“ sprechen, oder „den Politikern“, oder „der Wirtschaft“. Vermutlich wissen sie das selbst nicht so genau, aber „die Wirtschaft“ ist in deren Hirnen dann trotzdem gerne Schuld daran, dass wir alle am Hungertuch nagen… oder? Vielleicht sollte man einfach mal ein paar Begriffe klären.
Menschen sprechen gerne von Systemen, wenn eine Gruppe von Menschen eine bestimmte Größe erreicht hat und deshalb notwendigerweise begonnen hat, eine Binnenstruktur auszuprägen; das heißt, einzelne Personen, oder kleinere Personengruppen übernehmen bestimmte Funktionen innerhalb der größeren Gruppe, die man braucht, um die größere organisieren und am Laufen halten zu können. Das gilt so etwa für jeden Handwerksbetrieb mit mehr, als sagen wir mal zehn, fünfzehn Beschäftigten. Da macht dann einer die Auftragsakquise, einer schreibt Angebote, einer macht die Personaldisposition – in einem so kleinen Maßstab vermutlich jeweils neben dem normalen Arbeiten an aktuellen Aufträgen. Doch nehmen wir mal an, der Betrieb hätte 100 Außendienstmitarbeiter. Dann werden die vorgenannten Funktionen zu Vollzeitstellen. Und je größer ein Unternehmen, ein Verein, eine Behörde wird, umso mehr solcher Funktionen werden notwendig, um den Apparat in Gang zu halten. Das entspricht der Autopoiese, also dem Drang zur Selbsterhaltung, der größeren Organisationen jedweder Art innewohnt. Denn allen Automatismen der differenzierten Strukturfunktionalität zum Trotz, bleibt auch die größte Organisation zunächst nur eine Ansammlung von Menschen; Menschen mit Werten, Normen, Zielen, Träumen, Befindlichkeiten, die ein Stück weit dazu gezwungen sind, miteinander zu arbeiten oder zu leben, auch wenn sie sich vielleicht auf den Tod nicht ausstehen können. Gezwungen deshalb, weil einerseits ihre materielle Existenz vom Fortbestand der Organisation abhängen kann (z.B. beim Arbeitgeber), oder ihre ideelle Existenz (etwa bei einem Verein, in dem man sich schon lange engagiert), aber natürlich auch ihre soziale Existenz (im Sinne der Kommune, des Landes, des Staates, in dem sie leben).
„Das System“ wie etwa „die Industrie“ ist somit zunächst nichts weiter, als ein Ausschnitt aus der Gesamtheit der hier lebenden Menschen. Natürlich sind NICHT alle Menschen gleich, auch wenn wir das in einer Demokratie gerne annehmen. Doch letztlich korreliert der mögliche Grad an gesellschaftlicher Teilhabe oder gar Einflussnahme mehr oder weniger direkt mit dem jeweils vorhandene Zugang zu Ressourcen; Geld, Bildung, Macht, wobei diese drei unbestritten in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Doch es ist kein gesichtsloses System, dass Ressourcen und damit Chancen auf Teilhabe und Wohlstand verteilt, es sind Menschen. Menschen, die Entscheidungen treffen, jeweils auf der Basis ihres besten Vermögens. Und genau das ist der Knackpunkt: kein Mensch ist frei von seinen Affekten, von Sym- oder Antipathie, von mentalen Landkarten, die diese oder jene Einstellung entstehen lassen; schließlich von Zwängen, die gleich, ob real existent oder nur eingebildet, real wirksam auf das Tun oder Unterlassen werden.
Wir alle beeinflussen einander. Gäbe es zum Beispiel nicht so viele Menschen des unteren Mittelstandes die denken, dass Aktien eine gute Idee sind, für das Alter vorzusorgen, würden die Vorstände der börsennotierten Unternehmen nicht so auf die Befindlichkeiten „der Märkte“ reagieren müssen, welche letztlich nur die Erwartungen vieler Menschen auf einen Reibach wiederspiegeln. Dass man sich, indem man an der Zockerei mit Erwartungen teilnimmt, den eigenen Ast absägt, ist Vielen überhaupt nicht bewusst. Doch überzogene Gewinnerwartungen, geschürt von den Fondsdealern, die ja ihre Produkte verkaufen müssen, um ihren eigenen Lebensunterhalt finanzieren zu können, lassen sich heutzutage zumeist nur noch durch Einsparungen erzielen. Und der größte durchlaufende Posten heißt in den allermeisten Branchen „Personalkosten“. Einerseits Gewerkschaftsmitglied zu sein und auf die Personalpolitik der Konzerne (die ja auch nur Systeme sind, gell ;-)… ) zu schelten, aber andererseits auf fette Gewinne aus einer Fondsgebundenen Rente zu hoffen ist schlicht schizophren! Ich habe auch lange gebraucht, um mir das einzugestehen, aber so ist es halt!
Und was bringt es einem nun, mal was darüber gehört zu haben? Organisationen aus vielen Menschen entwickeln gemeinsame Ziele, nämlich zusammen als Organisation nicht nur einfach überleben zu können, sondern stärker zu sein, weiter kommen zu können, als andere. Je größer die Organisation, desto komplizierter und verflochtener sind aus der organisatorischen Notwendigkeit heraus ihre inneren Strukturen, die aber auf’s kleinste Teil herunter gebrochen alle aus Menschen bestehen; Menschen, wie du und ich. In sozialen Zusammenschlüssen jedweder Natur entwickeln Menschen aber, aus den vorgenannten Gründen, eine gemeinsame Kultur und eine gemeinsame Sprache, die sie wiederum stärker in diese Organisation integrieren. Dadurch entstehen Zwänge, die auf andere Organisationen, gesellschaftliche Teilsysteme und, wenn oft auch indirekt, schließlich wieder auf einen selbst wirken.
Sich dem entgegen zu stellen, ist alleine eigentlich ziemlich aussichtslos, aber es ist möglich, sich ein ganzes Stück weit davon frei zu machen. Entscheidend dafür ist, dass jedes Individuum begreift, dass ein Handeln rein nach ökonomischen Gesichtspunkten einen irgendwann mit Wucht an die Wand fährt, weil wir alle Interessen haben, die sich aber nicht harmonisieren können, weil im Moment fast alle dem Gott Ego huldigen. Die libertäre Vorstellung vom uneingeschränkten Selbsteigentum ist wirklich etwas Furchtbares! Aber Umdenken beginnt stets im eigenen Kopp, weshalb ich einmal mehr (sinngemäß) ein Zitat vom Ghandi einflechte: „Sei du selbst der Wandel, den du in der Welt sehen willst.“ Vielleicht mag ja der eine oder andere da draußen auch mal seine Einstellung „zum System“ überdenken?