Der verwirrte Spielleiter N°39 – Charakterentscheidungen

Ich habe in meiner neuen High-Fantasy-Kampagne einen NSC eingeführt, der von Leuten gesucht wird, die in dem Stadtstaat, welcher die Spielumgebung bildet, über ziemlich viel Einfluss verfügen. Außerdem gäbe es ein nicht unattraktives Kopfgeld abzusahnen. Neugierig und Action-orientiert, wie meine Spieler halt sind, haben sie erstmal den Söldnern, welche sich das hübsche Sümmchen verdienen wollten, satt in die Suppe gespuckt; gutes, altmodisches Gemetzel im Wald. Und die holde Maid unter ihre Fittiche genommen. ICH hätte ja gedacht, dass mindestens ein Charakter keine Probleme damit hätte, die Kohle selbst zu verdienen. Im Moment spielen sie aber allesamt das Hohelied des ehrenhaften Abenteurers, und wollen stattdessen lieber den neuen Hinweisen nachgehen, dass diese einflussreichen Leute eine Menge Dreck am Stecken haben könnten. Die Damsel in Distress (ein Thema, das einfach nie alt wird, wenn man nicht zu dick aufträgt) wollen sie jedoch bei vertrauenswürdigen Verbündeten zurücklassen.

Entscheidungen haben Konsequenzen. Im Pen’n’Paper-Rollenspiel genauso, wie im wahren Leben. Nun könnte jeder, der meine anderen Einlassungen zum Thema durchliest, durchaus zu dem Eindruck gelangen, dass in unseren Runden immer eitel Sonnenschein herrscht, und die Chars ihre Entscheidungen ebenfalls immer einmütig treffen. Ja Pustekuchen! Jeder von denen hat einen Fürchtegott-Justus und einen Grimpfelgrumpf parat – und die streiten sich dann nicht nur bei jeder Person, sondern auch noch untereinander. Ist manchmal ganz amüsant, dem zuzuschauen. Insbesondere, wenn die Spieler dann mit Bohren und Betteln anfangen, weil sie doch mal einen Hinweis haben möchten, wo sie langgehen sollen. Es ist aber gar nicht meine Aufgabe, ihre Probleme zu lösen. Bestenfalls verschaffe ich ihnen notwendige Ressourcen. Denn die Spieler müssen diese Entscheidungen selbst treffen, damit es hinterher nicht heißt, ich hätte sie gerailroadet. [Exkurs: ich hatte neulich eine Diskussion Online mit einem anderen SL, der ganz klar sagt, das er immer railroadet und seine – informierten – Spieler das auch gut fänden. Solche Gruppen habe ich auch kennengelernt, es ist halt nicht so meins. Putzig fand ich allerdings seine Bemerkung dass er sich weder Videos noch nennenswert anderen Kram aus dem Internet anschaut, weil er das für nutzlos hält – es klang für mich ein wenig nach „Ich weiß alles und kann alles und brauch nichts Neues und meine Spieler müssen das so hinnehmen!“; aber was weiß ich schon? Wichtig ist, dass die Spieler die Entscheidung haben, ob sie auf Schienen fahren wollen, oder nicht!]

(c) by Monika Merz

Allerdings kann es sehr interessante Blüten treiben, wenn die Spieler für ihre Chars die Entscheidungen vollkommen frei treffen können. Nehmen wir an, sie hätten sich dazu entschieden, den NSC auszuliefern, die Kohle zu nehmen, und einen anderen Storyhook auszuprobieren – was sie dürfen, wenn sie denn wollen. Dann wüsste ich schon, was passiert – die Spieler und ihre Chars jedoch nicht. Und ich musste noch nicht mal etwas andeuten (also die Spieler ein bisschen stupsen) und sie liefen schon da lang, wo ich es eigentlich ganz gut finde. Das hat mich zum Nachdenken angeregt: sind Charakter-Entscheidungen tatsächlich frei? Wenn man es recht bedenkt, sind Spieler ja schon irgendwie Plot-Huren; das soll nicht despektierlich klingen, denn es geht mir ja genauso: wenn’s einen Storyhook gibt, stürze ich mich darauf, wie auf ein medium-rare gebratenes Filetsteak! Diese qua-magnetische Anziehungskraft zwischen Charakter und Geschichte macht es höchst unwahrscheinlich, dass keiner der Chars in den Plotbus steigt, und sie stattdessen mal eben die Bank ausrauben – einfach, weil sie’s können. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch, dass EINE intrinsische Hauptmotivation des Spiels (ETWAS erleben wollen!) einer freien Wahl schon im Weg steht! Wie sieht es dann aber mit anderen Aspekten des Spiels aus?

Nehmen sie diesen oder jenen Pfad? Erfüllen sie diesen oder jenen Auftrag? Lassen sie sich auf diesen oder jenen NSC und seine jeweilige Geschichte ein? Kämpfen sie, oder lassen sie es bleiben? Was die Pfade angeht, so macht es oft gar keinen so großen Unterschied, welchen Weg sie einschlagen, solange die Richtung vorwärts ist. Gehen wir davon aus, dass intrinsische Motivation und Plotbus durch das inhärente Design von Pen’n’Paper sehr oft in die gleiche Richtung unterwegs sind, kann man sich beinahe darauf verlassen. Ob Chars einen Auftrag annehmen, hängt von vielen Faktoren ab, und ist ein universeller Plothook, der in die eine oder andere Richtung weisen kann. Außerdem: welcher Mr. Johnson bescheißt einen nicht irgendwann? Was die NSCs angeht, gilt exakt das Gleiche. Es hängt von der Motivation der einzelnen Charaktere, der Informationslage, Freund- und Feindschaften, sowie dem Grad der Verzweiflung der Chars und noch ein paar anderen, manchmal seltsamen Dingen ab. Was aber nun das Kämpfen angeht, wird es interessant. Nicht wenige Regelwerke (DnD 5E z. B.) sind – by design – als Dungeoncrawler ausgelegt, und in Dungeons wimmelt es nur so von Kreaturen, die den Chars das Licht ausknipsen wollen; unsere eigene Welt ist jedoch anders!

(c) by Monika Merz

Wenn ich nicht gerade beim US-Militär angestellt, und mal wieder auf World-Domination-Tour unterwegs bin, oder im Außendienst egal welcher Mafia tätig, ziehe ich nicht mal eben los, und metzele einfach ein paar Typen nieder, deren Fresse mir nicht gefällt. Will heißen, wir nutzen ÜBLICHERWEISE andere Methoden der Konfliktlösung. Im Pen’n’Paper KANN Gewaltanwendung jedoch ein vollkommen legitimes Mittel der Problemlösung sein. MUSS nicht, KANN aber. Und hier hängt es wiederum von der Entscheidungsfreiheit der Spieler ab. Natürlich kann diese Entscheidungsfreiheit auch eine Murder-Hobo-Truppe erzeugen, die alles killt, was nicht bei drei auf dem Baum, oder um Klassen stärker ist. Die allermeisten machen sich aber sehr wohl Gedanken darüber, gegen wen sie zu Felde ziehen, und gegen wen nicht. Und das basiert nicht nur auf „DER/DIE/DAS ist zu stark für uns!“, sondern durchaus auch auf moralischen Erwägungen. Weshalb man, Matt Collville zur Folge, immer eine Partei im Spiel haben sollte, die jeder ohne zögern und ohne sich deswegen schlecht fühlen zu müssen killen kann – Everybody loves Zombies!

Es kann aber auch passieren, dass Chars so stark divergierende Interessen haben, dass deswegen die Party nicht zusammenkommt, oder aber zerbricht (denkt an das NSC-Auslieferungsdilemma von oben). Meiner Erfahrung nach ist da jedoch üblicherweise ein unausgesprochener Gruppenzwang zur Kooperation: Du bist Spieler, ich bin Spieler; also spielen deine und meine Spielfigur MITEINANDER. [OBACHT: diese implizite Spieltisch-Konvention funktioniert nicht immer! Manchmal nutzen Spieler die Regeln, um komische Dinge zu tun, und sich dann hinter der Phrase zu verstecken „Das war aber voll in Charakter!“; was so viel heißen soll wie „Ich bin nicht schuld an deinem Schaden. Mein Charakter ist Schuld, aber der muss so handeln, weil es die Rolle erfordert!“. Das ist natürlich 100% Bullshit, weil der Spieler die Rolle ausgestaltet. Und wenn Spieler auf diese Art die Chars anderer Spieler schädigen, entwerten, verletzten, etc. ist das einfach nur beschissen schlechtes Rollenspiel! Ende der Durchsage!]

Wie man es auch dreht und wendet – das, was die Chars tun oder auch lassen, muss sich auf irgendeine Weise in der Reaktion der NSCs und der Welt wiederspiegeln! Tun sie z. B. etwas großartig heldenhaftes, werden sie vielleicht ge- und verehrt. Bauen sie riesigen Mist oder treten sie den falschen Leuten zu oft auf die Füße, sind sie alsbald vogelfrei – oder im Knast. Es liegt am Spielleiter, sich die passenden Konsequenzen auszudenken, und dabei stets auch die (noch) verborgene Agenda der NSCs mit in Betracht zu ziehen. Denn dann wirkt die Welt echter, und die suspension of disbelief wird besser wirksam. Ich freue mich schon auf die nächste Sitzung. Euch da draußen sei gesagt: always game on!

Auch als Podcast.

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