Gewöhnung ist eingetreten. Gewöhnung an physical distancing, an Schließungsmaßnahmen, Maskenpflicht, Versammlungsbeschränkungen, etc. Allerdings lässt dieser Gewöhnungs-Effekt stark nach, weil die Leute wieder Normalität haben wollen. Ich meine neulich schon mal gesagt zu haben, dass die alte Normalität scheiße war und dass die Neue nicht danach aussieht, wesentlich besser zu werden – oder, präziser gesprochen: in wesentlichen Belangen besser zu werden. Nichtsdestotrotz gehen die Leute auf die Straße, weil sie mit den Maßnahmen nun nicht mehr einverstanden sind. Und demonstrieren dabei nicht nur für ihre Rechte, sondern auch, dass sie weder den Unterschied zwischen Kausalität und Korrelation, noch die Bedeutung von Solidarität verstanden haben. Wie ausgesprochen traurig.
Selbst das “Handelsblatt” – seiner Funktion nach nicht gerade ein Hort des Gemahnens der sozialen Ungleichheit liefert dieser Tage einen ungewöhnlich ausgewogenen Teil-Artikel darüber ab, dass vor allem Kinder durch die Corona-Maßnahmen benachteiligt würden; um im Nachgang dann doch noch die, vom Ifo-Institut einfach mal ohne nennenswerte wissenschaftliche Solidität in den Raum geworfenen 5,4 Billionen sozialer Kosten durch das Absinken des Bildungsniveaus zu verwursten. Na ja… “Wirtschaftswissenschaftler” machen bei Prognosen halt vor allem Voodoo… Dass hier wieder eifrig das Bild des Homo Oeconomicus gepflegt und alles auf die wirtschaftliche Verwertbarkeit des Individuums verengt wird, stimmt mich ebenfalls traurig.
Doch die anderen Argumente des Artikels sind durchaus bedeutsam: es ist Kindern und Jugendlichen schwer zu erklären, warum sich alles andere schrittweise normalisiert, ihr Leben jedoch nach wie vor erheblich eingeschränkt bleibt – mit dem diffusen Argument, dass ihre generelle Verantwortungslosigkeit keinen Normalbetrieb zulässt. Nun ja, diese können sie dieser Tage vor allem bei den Erwachsenen beobachten, die den Mund-Nasen-Schutz für ein Kinn-Accessoire halten, allenthalben und sehr lautstark ihre unfassbaren Einschränkungen beklagen und beim Abstand-Halten bestenfalls auf eine 5+ kommen. Was jedoch die, implizit unterstellte kindliche Verantwortungslosigkeit angeht: ist es nicht eher so, dass wir “Erwachsenen” – was auch immer dieser Begriff bedeuten mag – unsere eigenen Defizite auf unsere Nachkommen projizieren?
Mein Kerngebiet als Pädagoge liegt zwar definitiv im Bereich der Berufsbildung; doch auch meine dort im Zusammenhang mit dem Lockdown gemachten Erfahrungen bringen mich zu der Auffassung, dass die sozialen Kosten – und damit meine ich explizit nicht vermutete volkswirtschaftliche Ausfälle, sondern die sozial-psychologischen Auswirkungen auf jeden Einzelnen von uns – einen Break-Even haben. Wir müssen hier tatsächlich Art. 1, Abs, 1 GG gegen Art. 2, Abs. 2 abwägen. Was beinhaltet denn die Würde eines Menschen? Folgt man della Mirandola, so liegt die Würde des Menschen gegenüber der Natur darin begründet, dass er sein Wesen selbst erschafft. Man könnte das verstehen als die Fähigkeit zur Schöpfung der eigenen Identität und des eigenen Zweckes aus sich selbst heraus. Ob irgend ein anderes Wesen dazu im Stande ist, konnte bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden.
Kant begründet die Würde in der gegebenen Vernunft des Menschen, durch die dieser sich sein eigenes Gesetz geben und damit autonom (von der Natur) werden kann. Nach diesen Überlegungen ist die weitere Vernachlässigung des Schul- und KiTa-Betriebes gegenüber den, rein wirtschaftlich begründeten, anderen Lockerungen ein bewusstes Unterlassen der Bildung unserer Kinder und Jugendlichen – mit der Konsequenz, dass sie u. U. wichtiger Ressourcen zur Entwicklung ihrer Identität und Reifung ihrer Vernunft beraubt werden. Und das ist ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde! Was nun einzig bleibt, ist die Frage, ob die Würde unserer kommenden Generationen, zumindest in Teilen für die körperliche Unversehrtheit zugegebenermaßen schwer abgrenzbarer Teile unserer Bevölkerung geopfert werden darf?
Ganz ehrlich – ich weiß es auch nicht! Aber jeder, der aus purem Egoismus, oder aber aus persönlicher Überforderung nach Lockerungen ruft, begibt sich ebenso auf den “new normal bullshit mountain” der Unreflektiertheit, wie jene, die unsere Kinder aus Angst um die Gesundheit der Risikogruppen am liebsten bis zur unbegrenzten Verfügbarkeit eines sicher wirksamen Impfstoffes wegsperren würden. Ich halte das auch nicht mehr lange aus: das Warten auf die Entwicklung der Vernunft bei all den vielen Meinungen. Na ja, vielleicht ist da doch gar nicht so viel schützenswerte Würde (und damit Vernunft) in den Menschen. Zumindest ist sie oft nur sehr schwer auszumachen. Ich gehe jedenfalls morgen wieder unterrichten. In Präsenz. Mit Hygienemaßnahmen. Aber ohne Angst. Und ihr so…?