Stuck in the middle N°6 – about reading (and writing)…

Man hört aus verschiedensten Mündern, zumeist jedoch von Vertretern des akademischen Lehrbetriebes, dass die Fähigkeit junger Menschen, längere, komplexere Texte lesen und vor allem erfassen zu können drastisch abgenommen hätte. Ob das tatsächlich den Tatsachen entspricht, überlasse ich gerne der individuellen Beurteilung durch meine Leser:innen; ich empfehle aber zuvor, sich zu informieren. Etwa auf den Seiten der BPB (Bundeszentrale für politische Bildung). Unabhängig davon, ob man geneigt ist, dies als Zeichen des drohenden Untergangs unserer Zivilisation deuten zu wollen, oder aber der etwas weniger apokalyptischen Überlegung folgen möchte, dass Modalitäten und Intensität unseres Konsums digitaler Medien etwas damit zu tun haben könnten, muss festgestellt werden, dass sich etwas verändert hat, immer noch verändert und auch noch weiter verändern wird. So viel zur These über die Prozessualität von Kultur. Die Entstehung des Lesens und Schreibens als Kulturtechnik zur Aufbewahrung und Weitergabe von Erlebtem, Gedachtem, Gefühltem ist untrennbar mit einer Veränderung der Sprache als solchem verbunden. Walter Ong merkt hierzu folgendes an:

"Eine orale Kultur beschäftigt sich schlichtweg nicht mit solchen Dingen wie geometrischen Figuren, abstrakten Kategorien, formal-logischen Denkprozessen, Definitionen oder auch nur gründlichen Beschreibungen, nicht mit zergliedernder Selbstanalyse, die stets nicht einfach dem Denken, sondern dem textgeprägten Denken entstammt." (Ong 2016, S. 51, Hervorhebung durch diesen Autor)

Wir Menschen haben begonnen, die Welt mit Beginn der Entwicklung von Schriftsprache auch durch andere Augen sehen zu können. Allerdings ist die Auseinandersetzung mit jeder Schriftsprache im klassischen Sinne immer mit Anstrengungen verbunden. Auf der Couch in der physischen Komfortzone kann man zwar trefflich sitzen und lesen, doch jenes Möbel in der mentalen Komfortzone muss ich zwangsläufig verlassen, wenn ich mich mit anderer Leute Denke ernsthaft auseinandersetzen will. Zwar ist es so, dass Diskurs sehr wohl auch rein verbal stattfinden kann, doch dann wird dieser vor allem durch die Situation und die Beziehung der Menschen in ihr kontextualisiert: “Das natürlich orale Wort ist Teil einer wirklichen, existenziellen Gegenwart.” (Ong 2016, S. 94). Lese ich einen Text, so muss ich jedoch versuchen das Gedachte, Erlebte, Gefühlte, worauf der Autor sich schriftlich bezieht in meinem Geist nachzuvollziehen, was zwangsläufig zu Verzerrungen führen wird. Dieser Weg ist allerdings für beide Seiten kein einfacher. “Nicht nur dem Leser, auch dem Schreibenden fehlt der extratextuelle Kontext.” (ebd. S. 95). Die schriftliche Vermittlung von Sprache ist also mitnichten ein einfaches Ding. Vielleicht erklärt sich daraus, warum so viele Leute sich in Online-Foren mit Hingabe televerbal die Schädel einschlagen, schlicht weil sie nicht verstehen können – nun gut, manchmal auch nicht verstehen wollen – was das Gegenüber zu sagen hat…

Im Geiste der vorangegangenen Feststellungen lässt sich sagen, dass unsere “Schöne Neue Welt” hervorragend darin ist, mittels Technik eine Illusion der Einfachheit im Umgang mit anderer Leute Wissen, Ideen, Entdeckungen zu erschaffen; neue Technologien, wie etwa generative KI gaukeln uns vor, dass es anstrengungslos möglich sei, sich all jenes anzueignen, das zu entdecken, zu ersinnen, zu erleben, zu erfahren, zu erstellen unsere Vorgenerationen Jahre und Jahrzehnte anstrengender Forschung, Übung, Erprobung gebraucht haben; incl. jeder Menge individueller Fehlschläge! Dem konstruktivistischen Pädagogen in mir sträubt sich da das Fell, denn wenn wir eigentlich doch alles Wissen, alle Fertigkeiten, alle Erfahrungen zunächst selbst erleben und dann reflektierend in unsere ureigene Realität integrieren müssen, wohin führen dann solche “Abkürzungen” des Nichtwollens? Doch wohl zwangsläufig ins Nichtwissen, Nichtkönnen, Nichtwerden, oder? Diese Diskussion habe ich live schon das eine oder andere Mal geführt, aber Menschen MÜSSEN erst am eigenen Leibe erfahren, wie es NICHT funktioniert, damit sie akzeptieren können, dass Verweilen in der Komfortzone beim Streben nach persönlichem Wachstum immer eine Illusion bleiben MUSS! McLuhan hat die Verwerfungen, welche durch die technisierte Übertragung des Wortes entstehen, bereits vor langer Zeit beschrieben:

"Einfacher gesagt: wenn eine neue Technik den einen oder anderen unserer Sinne auf die soziale Umwelt ausweitet, dann werden sich in dieser bestimmten Kultur neue Verhältnisse zwischen all unseren Sinnen einstellen." (McLuhan 2011, S. 54)

Er meinte damit natürlich zu seiner Zeit die Entwicklung von Buch zu Radio und Fernsehen; das Internet kannte er noch nicht. Dennoch ist ein zu Grunde liegender Mechansimus einfach verständlich und erkennbar – neue Medien, die andere Sinne ansprechen, erzeugen in der Folge eine neue Form von Mediengebrauch. Und weil man Buchseiten nicht so schön wischen kann, glaubt man lieber, sich komplexe Ideen mit einem Fünf-Minuten-Video-Schnipsel begreifbar machen zu können. Weil man noch nicht verstanden hat, (verstehen will?) dass Lernprozesse und damit nachhaltige Aneignung erst in der aktiven, DENKENDEN Auseinandersetzung mit dem Wissensgegenstand und vor allem durch REPITITION (JA, gutes altmodisches Wiederholen!) angestoßen werden. Na ja, das Leben ist ja bekannt dafür, einen manchmal zu enttäuschen; und wenn’s einfach nur dazu gut ist, einen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

Ich selbst struggle schon mein ganzes Erwachsenenleben mit dem Versuch, Gedanken, Ideen, Wissen, Zusammenhänge kohärent, verständlich und anschaulich zu transportieren. Gehört wohl zum Lastenheft des Pädagogen; nur dass ich das schon tat, lange bevor ich mir dieses Etikett verdienen konnte. Was ich heute in vielen jungen Menschen ehrlich vermisse, ist die Bereitschaft, sich WIRKLICH mit den Dingen zu befassen und nicht immerzu nach der schnellsten, einfachsten, am besten wiederverwendbaren Musterlösung zu suchen. LIFE IS A LESSON – YOU LEARN IT, WHEN YOU DO IT, GODAMMIT! Das ist vermutlich der Grund, warum ich hier immer noch regelmäßig (bald im 12. Jahr) meine Gedanken zu allem Möglichen veröffentliche. Denn tatsächlich ist das ein bisschen wie Arbeit. Zwar eine Arbeit, die ich verdammt gerne tue; dennoch kostet es mich Zeit, die ich auch für Anderes verweden könnte. Will ich aber nicht, weil die damit verbundene Anstrengung für mich einen Mehrwert hat; und es ist mir eigentlich ziemlich wumpe, ob andere diesen Mehrwert erkennen können, oder nicht. Ich freue mich allerdings, wenn ich Menschen zum Nachdenken anregen kann. Mein Mehrwert ist übrigens, meine Gedanken für mich selbst zu sortieren, mich selbst besser verstehen zu können. Ganz im Sinne von Ong und McLuhan. In diesem Sinne – viel Spaß beim nächsten echten Buch…

Auch als Podcast…
  • McLuhan, M. (2011): Die Gutenberg-Galaxis. Die Entstehung des typographischen Menschen. Deutschsprachige Ausgabe. Hamburg: Gingko Press Verlag.
  • Ong, W. J. (2016): Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. 2. Auflage. Mit einem Vorwort von Leif Kramp und Andreas Hepp. Übersetzt von Wolfgang Schömel. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

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