Ich hatte gestern Abend mit der besten Ehefrau von allen eine Diskussion darüber, ob das neuerdings so häufig verwendete Label „neurodivergent“ für die betreffenden Menschen gut oder schlecht ist. Ich selbst habe bislang nie eine solche Diagnose bekommen, sehe aber gelegentlich Anzeichen dafür, dass ich vielleicht ein wenig anders bin, als die anderen Kinder im Block. Ob das etwas an meiner bisherigen persönlichen Entwicklung bzw. meinem Leben in seiner Gesamtheit bewirkt hat, bzw. ob irgendein spezifizierendes Etikett aus diesem Sammelsurium der Neurodivergenz etwas daran geändert hätte, wie die Dinge für mich gelaufen sind, weiß ich nicht. Will ich aber auch gar nicht wissen, denn am Ende des Tages bin ich mit dem Mann, der ich geworden bin recht zufrieden – neurodivergent oder nicht! Mal davon abgesehen, dass die allzu einfach gestrickten Menschen da draußen (und von denen gibt es leider verdammt viele, wie die Wahlergebnisse aus Thüringen und Sachen beweisen) eh nicht verstehen können, dass Neurodivergenz nicht ON/OFF funktioniert – also jeder mit ’ner Diagnose ein unführbarer Zappelphilipp o. Ä. ist – sondern wie so ein Schieberegler an einem Graphic Equalizer; für diejenigen, die nicht wissen was das ist: damit kann man einzelne Frequenzbänder einer Tonausgabe regeln und so z.B MEHR BASS geben… 😉
Wie dem auch sei, ich WEISS, dass ich nicht immer so ticke, wie der Mainstream der Anderen um mich herum, egal in welcher sozialen Gruppe ich mich gerade bewege. Jahrzehnte der (beruflichen ) Erfahrung im Umgang mit Menschen haben mir hier zu einem gewissen evidenzbasierten Erfahrungsschatz verholfen; und geben mir so wenigstens die Chance, meine Bedienoberfläche etwas geschmeidiger zu gestalten, wenn die Situation dies erfordert. Gerade im professionellen Umfeld ist das (leider) des Öfteren von Nöten. Wenn ich sage, dass ich anders ticke, dann bedeutet das spezifisch einerseits, dass ich mit einer ausgeprägten Empathie ausgestattet wurde, deren Verarbeitung mich im Umgang mit anderen Menschen nach einer gewissen Weile emotional ÜBERLÄDT. Ich hatte die Tage mal davon gesprochen, dass ich mich als Ausgleich dafür manchmal treiben lassen muss; das war kein Scherz, sondern die bittere Wahrheit. Wenn ich zu viel mit Menschen zu tun haben MUSS, deren Gesellschaft ich mir nicht explizit ausgesucht habe, macht mich das ganz wortwörtlich vollkommen fertig. Andererseits hat mich die Natur dafür mit einem ziemlich feinen Analyse-Näschen für Strategie, Organisation und Führung ausgestattet. Und ich gebe es offen zu – wenn ich bei gleicher Faktenlage zu völlig anderen Ergebnissen komme, als mein Gegenüber, macht mich das entweder fuchsig (wenn ich objektiv weiß, dass ich Recht habe, und die andere Person nicht) – oder schickt mich in eine immer tiefer zirkelnde Selbstzweifel-Spirale (wenn ich mir NICHT sicher bin). Und beides macht keinen Spaß.
Ich bin mein ganzes bisheriges Leben deswegen immer wieder angeeckt. Ich meine, es ist nicht so schlimm wie es klingt, aber wenn du oft genug das Gefühl hast, verarscht zu werden, weil die Anderen im Raum einfach nicht sehen können (oder wollen), was DIR schon lange vollkommen klar ist, dann beginnst du halt irgendwann an dir selbst zu zweifeln. Gestern war wieder so ein Moment. Ein Kollege hat in einem Gespräch eher persönlichen Charakters, dass für mich dennoch auch aus Arbeitssicht relevant war – vollkommen zu recht – Kritik daran angebracht, dass ich zu einer bestimmten Zeit nicht so geführt habe, wie es notwendig gewesen wäre; und das dabei emotionaler Schaden entstanden sei, der zumindest implizit auch auf meinen Deckel geht! Und dabei kamen auch Dinge zur Sprache, derer ich mir bislang gar nicht gewärtig gewesen war. Und die ich natürlich auch nicht ungeschehen machen kann – and now they will cost me dearly! Das alte Konzept ist für die Tonne, es wird mir Nerven rauben, und Mehrarbeit erzeugen, die zu geben ich im Moment eigentlich weder Willens noch in der Lage bin, weil mein Geist schon länger nach anderen, neuen Zielen sucht… und dann rannte ich davon! Ich glaube, Ich habe noch nie in meinem Leben kurzfristiger einen freien Tag beantragt
Und so stehe ich gerade in meinem heimatlichen Arbeitszimmer, während ich diesen Artikel schreibe, um meinen kopf wieder richtig frei zu kriegen, während sweet 80s Retro-Synth aus dem Lautsprecher auf meinem Schreibtisch erklingt. Ich habe bislang heute alles getan, um NICHT wieder in eine Negativ-Spirale zu geraten und bislang sieht es so aus, als wenn ich damit Erfolg gehabt hätte. Was aber bedeutet, dass ich mich morgen mit dem Fallout meiner „Flucht“ auseinandersetzen und einige Dinge regeln muss. Ist es nicht eine verdammte Scheiße, dass ich im Moment viel zu selten bessere, fröhlichere, andere, nicht mit Arbeit assoziierte Themen finde? Aber wenn diese Blogposts rings um meine eigenen Fehler herum wenigstens irgendjemanden davor bewahren, in die gleichen Fallen zu tappen, ist es die Zeit trotzdem wert. Ich wünsche euch einen verfickt schönen Abend im langsam sterbenden Spätsommer. Wir hören uns…