Transparente Etiketten

Ich konsumiere, also bin ich! Ich meine damit tatsächlich zur Abwechslung mal nicht das Kaufen und Einlagern von weitestgehend nicem aber irgendwie unnötigem Tand, sondern Mediennutzung. Bei mir sind das häufiger mal obskure Musikaufzeichnungen (aber auch Filme und Bücher) aus dem Zeitalter meines persönlichen „coming of age“ – für jene, die das noch nicht mitbekommen haben: ich bin in den 70ern geboren und damit geistig ein Kind der 80er. Ich weiß, das erklärt so einiges. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft dann auch – voll stilecht – im Hintergrund New Wave und Retro Electro in Dauerschleife. Aber im Grunde geht es mir nicht um die 80er als Zeitalter, sondern um eine Stilrichtung, die in jener Zeit weiter entwickelt wurde, und die heute wieder im Trend liegt: Cyberpunk. Ich habe mich an dem Thema schon ein paar mal abgearbeitet [True punks don’t need cyberware!, WTF-punk…? und …punked…? als Beispiele], stehe aber manchmal immer noch im Wald. Long Story short: für viele steht der Begriff „Cyberpunk“ als Synonym für einen Modestil, ein Computerspiel und vielleicht ein, zwei Filme, die sie gesehen haben – und dann denken sie, sie wüssten, worum es geht.

Sehgewohnheiten…?

Ich selbst ringe oft mit Begriffen, weil mir einerseits sprachliche Präzision am Herzen liegt; das ist der Sozialwissenschaftler und Pädagoge in mir, der sich weniger Missverständnisse und mehr Miteinander wünscht. Andererseits haben manche Begriffe oft einen impliziten, also nicht gleich sichtbaren aber dennoch wirksamen Bedeutungs-Überschuss – dass, was wir Konnotation nennen. Ich will es mit einem Beispiel versuchen. Nehmen wir das Wort „Gerechtigkeit“. Auf den ersten Blick ist es einfach: Gerechtigkeit bedeutet, so zu handeln, dass ein Ausgleich zwischen allen beteiligten Parteien in einem Prozess entsteht. But one mans justice is another mans penalty…? Werden also alle Beteiligten den gleichen Blick auf Gerechtigkeit haben, wenn ein Richter sein Urteil verkündet, ein Schlichter im Tarifstreit seinen Vorschlag unterbreitet, oder Menschen zivilen Ungehorsam ausüben, um zum Handeln im Angesicht einer ungewissen Zukunft aufzurufen, und dafür von wütenden Verkehrsteilnehmern in den Bauch getreten bekommen? Ich denke nicht! Was bedeutet, dass subjektiv eindeutige Begriffe sehr oft eine situationsabhängige – und vor allem hoch individuelle – Interpretation erfahren.

Kehren wir zu Cyberpunk zurück: one persons latex-clad Trinity is another persons in-depth look at the ever-changing phenomenon known as „society“. Cyberpunk war nie dieses eine stil-uniforme, einheitliche literarische Genre, sondern stets mehr eine Art Schmelztiegel unterschiedlichster Ideen, Wahrnehmungen und Ängste. Aber den Autoren war eine Sache wichtig – Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung künstlerisch zu interpretieren und zu extrapolieren, um so darauf hinzuweisen, was passieren KÖNNTE, wenn man auf diesem oder jenem Pfad ungebremst weiterfährt. Ein einendes Thema war dabei recht oft die Entwicklung hin zu einem Kapitalismus im Endstadium, der anfängt seine Kinder zu fressen. Ohne jetzt allzu apokalyptisch klingen zu wollen – da sind wir längst. Andernfalls hätte nicht mein zweiter Satz in diesem Post auf typischen Consumerism des frühen 21. Jahrhunderts hingewiesen. Wir rennen zugegebenermaßen nicht alle mit Chrom im Körper rum, wie in Night-City (=> Cyberpunk 2077) Unsere Menschlichkeit opfern wir auf andere Weise. Man kann auch ohne Chrom so sehr mit dem Internet verwachsen sein, dass man sich selbst, oder besser seine Verbindung zu wahrem Menschsein (also realem sozialem Miteinander und Solidarität) verliert und sich somit selbst beschädigt. Sich dann mittels Medienkonsum abzulenken, ist das unzureichende Pflaser für die Wunden auf der Seele, die uns die De-Humanisierung unserer Welt tagtäglich zufügt...

Verschiedene Autoren hatten unterschiedlich Vorstellungen von der Zukunft; aber ihnen allen war gemein – und ist dies teilweise bis heute – dass ihre papiergewordenen Blicke auf diese potentiellen Zukünfte übernüchtern bis pessimistisch ausfallen. Ich selbst bin kein übernüchtern pessimistischer Mensch, aber ich nutze solche Szenarien, um meine eigene Wahrnehmung für die Welt und ihre Dynamik zu schärfen. Und selbstverständlich nutze ich sie zum Zwecke der Unterhaltung. Sowohl als Konsument (Bücher, Filme, Musik), als auch als Produzent (Pen’n’Paper, Schreiben). Kulturprodukte sind natürlich stets dem Zeitgeist unterworfen. Wenn man sich heutzutage manche Filme (speziell „Komödien“ und „Actionfilme“) aus den 80ern und 90ern anschaut, rollen sich einem die Fußnägel soweit auf, dass man ein Bügeleisen braucht. Damals war’s aber cool. Eines der Probleme, die daraus für Menschen meines Alters erwachsen ist, dass wenn man einem nostalgischen Impuls folgend, jene ehemaligen Orte der ungetrübten Freude aufsucht, oftmals mit erheblicher Ernüchterung konfrontiert wird. Schaut euch doch noch mal mit halbwegs erwachsenem Blick „Waynes World“ an. Oder „Bill und Ted“. Oder „Action Jackson“. Oder „American Fighter“ – Yuck…

Cyberpunk war schon immer so viel mehr als hackende, latextragende, im Neonglitzer der Tech-Slums umherstromernde Outlaws, die lässige One-Liner raushauen und nebenbei alles wegputzen, was ihre Hood bedroht. Das sind alles nur Etiketten, der klägliche Versuch von Marketing. Dabei ist so transparent, dass die Essenz des Begriffes Cyberpunk von diesen Möchtegern-Medienschaffenden nicht verstanden wurde, dass es einem schon fast weh tut. Denn um den vorhandenen Subtext von bestehenden Kulturprodukten verstehen und eventuell neu interpretieren zu können, muss man sich a) mit den Kommunikationsmodi verschiedener Kunstformen beschäftigen, b) bereit sein, seinen eigenen Blick auf die Dinge mal beiseite zu lassen, um die die Welt durch jemand anderes‘ Augen sehen zu können und c) Historizität verstehen lernen. Die 80er waren eine andere Zeit, als unsere heutige – alle Probleme, Fehler und Glitches inbegriffen. Das bedeutet jedoch minichten, dass damals alles schlimm war. Es war anders, weil die Wahrnehmung anders war. Und Künstler wie Neal Stephenson, William Gibson, Philip K. Dick haben aus jener Zeit heraus in eine Zukunft geschaut, die von unserer heutigen Realität in mancher Hinsicht nicht allzu weit entfernt ist – auch wenn ChatGPT noch keine Wintermute ist (1984: Gibson => Neuromancer).

Kunst ist Kommunikation – man braucht also die richtige Sprache, um Kunst dekodieren zu können. Was mich betrifft – ich kehre immer mal wieder zu den alten Sachen zurück. Nicht etwa, weil ich neueren Kulturprodukten nichts zutraue, sondern um mich auf meine Wurzeln zu besinnen, und das Delta, also die Unterschiede im Ausdruck und in der Dynamik für mich selbst fassbar zu machen. Außerdem ist es – insbesondere bei Filmen – eine gute Schule für die Sinne. Achtet mal auf die lausige Schnitttechnik und Kameraführung bei so manchem modernen Film – 30 Schnitte pro Minute suggerieren nur wahrnehmungs-gestörten Kognitionsallergikern Dynamik, verwirren aber jene, die sich Qualität wünschen; klassisches Centerframing ist schon echt kompliziert, gell. Man versucht mit optischer Hektik meist einfach nur ziemlich ungeschickt, das Unvermögen mancher Kameraleute, Schauspieler und Regisseure zu kaschieren. Brauch ich nicht. Da bleibe ich lieber – meinen Seh- und Hörgewohnheiten treu – ein oldschooliger Cyberpunker, auch wenn selbst das wahrscheinlich nur ein transparentes Etikett ist; es verdeckt den Umstand, dass es MIR vor allem um den Punk, also das Aufbegehren gegen den Status Quo geht, nur unzureichend. Ist mir Recht. Ich wünsche euch einen guten Start in die neue Woche.

Auch als Podcast…

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