Nebel

Der Drang nach Perfektion ist ein grausamer Zuchtmeister. Ich gab gestern, im Rahmen eines Workshops zum Thema „Führung“, den ich moderieren durfte jenen Ratschlag zum Besten, den mir ein Psychotherapeut vor mittlerweile acht Jahren gegeben hatte: dauernd 100% kann man NICHT geben. Mittelfristig genügten 70% vollkommen, um das Leben und die Arbeit im Griff zu behalten. Wie ich herausfinden durfte, hatte der Mann durchaus Recht. Und oft halte ich mich auch daran. Momentan gerade nicht, aber das Spätjahr ist in vielen Gewerken, so auch im Aus- und Fortbildungsbereich die absolute Hochzeit des Jahresgeschäftes. Da kannste als Chef halt nicht mal eben ein, zwei Sabbatmonate nehmen… Hätte ich vielleicht doch tun sollen, denn mein Zuchtmeister hat mich wieder im Griff: alles muss on time und in hoher Qualität zur Verfügung stehen. Egal was, egal für wen. Die Erkenntnis hieraus: Ich habe mich übernommen. Und mein Team – zumindest partiell -gleich mit. Was ich sehr bedauere!

Wenn man sich auf Deadlines konzentriert, wird man scheuklappig, gerät in einen Tunnel ohne Seitenausfahrten und dreht die Geschwindigkeit mit zunehmender Nähe zum erklärten Zielpunkt dann auch noch hoch; weil man ja fertig werden will. Das steigert die Fehlerwahrscheinlichkeit, womit ich mich allerdings selbst inkohärent verhalte, weil ich’s ja eigentlich perfekt sein soll. Wenn man dann das Ergebnis vor Publikum präsentiert, und manche Fehler augenscheinlich werden, oder man selbst – vom Publikum eventuell unbemerkt – die eigenen Erwartungen an die Wirksamkeit des Produktes nicht erfüllt sieht, verschleiert einem zudem auch noch der, nun aufwallende Nebel der Desillusionierung das eh schon von den Scheuklappen eingeschränkte Sichtfeld. Die Folge: welcome to depression you fool! Zumindest, wenn man sich davon einfangen lässt. Ich saß dann gestern auf dem Weg nach Hause gute zwei Stunden im Auto, von denen ich mindestens 40 Minuten mit einem hochgeschätzen Kollegen telefonierte. Ich hatte keine Chance, mich in Selbstvorwürfen zu baden; und genau das hat den Zyklus unterbrochen. Reframing funktioniert nämlich wirklich!

Alles eine Frage der Perspektive…

Manchmal ist es vollkommen egal, ob man von anderen sogar gelobt wird, oder zerrissen. Die eigene Realitätsvorstellung – einmal mehr willkommen im Konstruktivismus – muss erst neu kallibiert werden, um externes Lob oder Kritik wirklich annehmen zu können. Die Selbstreferentialität dabei bewusst zu durchbrechen, ist in unserem Zeitalter des kuratierten öffentlichen Selbst aber ganz schön schwierig. Ich wettere ja immer gegen die ganzen Follower-heischenden Insta-Huren, Influenzeranzien und anderes Antisocial-Media-Geschmeiß – zumindest in meinen wacheren Momenten sehr wohl um das Quäntchen Bigotterie wissend, welches ich dabei selbst zeige. Denn was schreibe ich hier gerade? Ach ja, ein persönliches Blog. Und wo promote ich meine Beiträge? Oh… auf Insta…? Natürlich heische auch ich dort nach Zustimmung. Schließlich muss jeder von uns irgendwie ein positives Selbstbild aufrecht erhalten. Andernfalls winken als größte Belohnung feine kleine psychiatrische Diagnosen. Aber allem Sehnen nach Zustimmung zum Trotze bleibt man, speziell in den sozialen Medien zunächst mal auf sich selbst zurückgeworfen. Denn das „Feedback“, welche man dort erfährt, ist eine Währung ohne Wert.

Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne ist verdammt kurz, und damit findet eine ehrliche und bewusste Auseinandersetzung mit den Themen, um die es zum Beispiel hier geht, doch gar nicht statt. Ich schreibe diese Zeilen wohlwissend, dass die allerwenigsten, welche sich evtl. auf diese Seite verirren auch bis hierher kommen, und auch nur im Ansatz versuchen, die Gedankenwelt hinter den Buchstaben zu erfassen. Das würde ja bedeuten, dass man sich mit jemand anders als sich selbst befassen müsste. Wie schräg ist das denn heutzutage? In der Folge entsteht kein Diskurs, keine Öffentlichkeit, kein Marktplatz des besseren Argumentes, sondern nur lautes Schweigen zwischen monolithischen Türmen aus ungelesenen, unausgesprochenen, unwidersprochenen, und in der Folge unterentwickelten Ideen und Gedanken. Also bleibt mein größter Endgegner am Ende doch mein interner Zensor, die Abteilung QM meines präfontalen Cortex, die offenkundig die ganze Zeit nur darauf wartet, dass ich mal wieder verkacke, damit sie mich hänseln kann. Klingt das nach geringen Selbstwertgefühl? Manchmal vielleicht schon…

Kreuzgang = Kreuzweg?

Eigentlich bin ich aber einfach nur enttäuscht, so wenig Wiederhall zu produzieren. Nicht weil ich selbst irgendwie wichtig sein möchte. Für die richtigen Menschen bin ich schon lange wichtig genug! Sondern weil ich glaube, dass die Themen wichtig sind. Ich denke, im Kern immer wieder über das gleiche Thema nach: Humanismus, und wie man wieder mehr davon in unser politisches, soziales, wirtschaftliches Denken und Handeln bekommt. Das würde nämlich einen großen Teil unserer Probleme lösen, wenn man die Welt lebenswerter dächte. Und nein, lebenswerter bedeutet nicht Porsche fahren, Kaviar essen und zum Shoppen nach London fliegen, sondern sich als Mensch im Einklang mit der Umwelt und den anderen Wesen darin wiederzufinden. Ist ein großer Traum. Aber wenn ich meinen inneren Nebel lichten muss, sind die größten Träume manchmal gerade groß genug. Ich wünsche noch einen schönen Sonntag und einen guten Start in die neue Woche.

Auch als Podcast…

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