Immer dann, wenn sich andere Strategien erschöpft, als nutzlos oder überholt erwiesen haben, kommt wieder jemand daher und fängt an von Leitkultur. Ob es nun ein reaktionäres Punkte-Programm sei, wie bei Thomas de Maizière, oder der mysteriöse Masterplan unseres Heimat(Schutz)Ministers Seehofer; immer rekurrieren die Apologeten eines allzu statischen Kulturbildes auf den Begriff, der nie als Kampfbegriff, sondern als Erklärungsversuch für das Bild einer multi-ethnischen Gesellschaft, wie sie der Begriff-Schöpfer sehen will.
Obschon vermutlich durchaus mit eigenen Rassismus-Erfahrungen versehen, plädiert dieser für eine, zunächst auf ökonomischer Opportunität basierende Einwanderung nach Deutschland; und darauf, dass eine Leitkultur definiert werden müsse. Definiert? Wer definiert den bitteschön eine Kultur? Und vor allem: was ist Kultur?
Vielleicht sollte man sich der einfachen Tatsache erinnern, das Kultur zuerst und vor allem die gelebte Daseins-Praxis der in einem bestimmten Gebiet lebenden Menschen in all ihren Ausprägungen ist. Kunst ist Teil von Kultur. Kommerz ist Teil von Kultur. Arbeit ist Teil von Kultur. Freizeit ist Teil von Kultur. Und so, wie sich mit dem Zeitlauf, zumeist angeschoben durch technische oder soziale Veränderung, die gelebte Kultur-Praxis ändert, ändern sich auch ihre Ausdrücke.
Meine Photos zum Beispiel sind Ausdruck des in mir sozialisierten Ästhetik-Empfindens, welches ich mit vielen anderen Menschen teile. Damit ist es sowohl Ausdruck von gemeinsamer Kultur, aber auch meines ganz persönlichen Individualismus. Beides – das Individuum und seine soziale Umwelt – stehen in einem steten Dialog, der nicht einfach unterbrochen wird, wenn jemand anders etwas Neues, oder etwas Altes auf neue Weise tut.
Kultur ist damit ein sublimer Begriff für etwas, das wir alle an jedem Tag neu erschaffen. Ich bin Notfallsanitäter des frühen 21. Jahrhunderts. Müsste ich einem rein traditionell gedachten Kulturbegriff huldigen, wie es manche Politiker fordern, lebte ich vielleicht wie ein Feldscher im Großherzogtum Baden. Und ich habe lediglich eine vage Vorstellung davon, wie es da so lief.
Eine Leitkultur definieren zu wollen, deutet damit einen Machtanspruch über die gelebte Kultur-Praxis der Menschen in unserem Lande an; und damit den Wunsch mancher Politiker, auf wahrhaft fundamentale Weise bis in die persönlichsten Bereiche unseres Lebens vorzudringen, um uns Kultur-Praxis vorschreiben zu können. Dieses Ansinnen weise ich – als den Angriff auf meine im Grundgesetz verbrieften Bürgerrechte, als den man es verstehen sollte – auf’s aller schärfste zurück!
Meine Kultur-Praxis – oder besser, mein Denken und Schöpfen in kulturellen Bezügen – ist Teil dessen, was meine Persönlichkeit ausmacht. Und ich werde mir von niemandem – schon gar nicht diesem radikal-reaktionären Idioten Seehofer – vorschreiben lassen, was ich zu tun und zu denken habe. Allein der Gedanke, dass man Kultur festschreiben könne, ist dumm und kurzsichtig.
Wir können gerne darüber diskutieren, was ich mir unter „Heimat“ vorstelle, oder was ich zum Thema Zuwanderung noch zu sagen hätte. Aber wir werden nicht über Leitkultur sprechen, denn die kann und darf es nicht geben! Wäre sie doch lediglich ein Instrument zur Vertretung des Machtanspruchs autoritär denkender Politiker. Schönen Tag noch.
Eine Antwort auf „Das Leid Kultur #01“