Als ich dieser Tage vormittags durch den Alten Botanischen Garten in Marburg wanderte, da befiel mich mit einem Mal ein Gefühl, dass ich sonst eher nur dann erlebe, wenn ich aus einem meiner bekloppten Träume erwache – Verwirrung! Man muss dazu einerseits wissen, dass ich mich – wenngleich wir natürlich alle träumen – so doch nur äußerst selten an den Inhalt meiner nächtlichen Ausflüge in Morpheus’ Reich erinnern kann; dass ich jedoch andererseits zumeist dann so einen oberwirren Kladderadatsch im Kopf habe, dass ich nicht umhin komme, zu mir selbst “HÄH?” zu sagen. Nun jedoch habe ich das am hellichten Tage erlebt. Und ich könnte nicht behaupten, dass ich gerade am Tagträumen gewesen sei. In Gedanken versunken vielleicht, aber mehr auch nicht. Und dennoch schien die Atmosphäre mich auf besondere Art zu berühren. Vielleicht lag es daran, dass der zähe Hochnebel alles in ein wenig mystisches Grau gehüllt und den Lärm der nahen Straßen ein wenig gedämpft hatte. Eine Art Entkopplung vom Alltag. Sicherlich spielte auch eine Rolle, dass ich mich bewusst darauf eingestellt hatte, meine Sinne offener zu lassen als sonst. Unter normalen Umständen sind meine Wahrnehmungsfilter eher eng eingestellt. Insbesondere dann, wenn ich durch größere Mengen von Menschen navigieren muss und diese auch noch nahebei umhermäandern. Habe ich hier schon mal erwähnt, dass mich die meisten Menschen ziemlich anstrengen…? Nun war ich aber in dieser mäßig ausgedehnten Grünanlage weitestgehend allein unterwegs, so dass ich mir erlaubte, mich auf den Ort einzulassen – und plötzlich begann ich mehr zu bemerken als sonst. Mehr Details, mehr Tiefe, intensivere Eindrücke. Das war die Ursache meiner Verwirrung.

Ich bin – zumindest in meiner Selbstwahrnehmung – kein sonderlich meditativer Typ. Ich laufe normalerweise durch die Gegend, ohne jedes irgendwie auffällige Ding abseits des Wegrandes mit großem Bohei ostentativer Wertschätzung unterziehen zu müssen. Ja, ich knipse auch Blumen, aber ich mache da jetzt kein performatives Happening mit “oh!”, “ah!” und “hach!” draus. Wahrscheinlich bin ich spirituell; im strengen Gegensatz zu religiösen Menschen brauche ich allerdings weder heilige Bücher, noch heilige Orte oder Häuser, noch heilige Rituale, um den Geist der Dinge finden zu können, wenn ich es denn darauf anlege. Ich erlebe allerdings in diesen Wahrnehmungen am Rande des Bewussten, die irgendwie meine Aufmerksamkeit fesseln können dennoch oft genug Anlässe, über dieses oder jenes nachzudenken. Und manchmal finde ich dabei auch gleich noch neues Verstehen, wie ich etwas (besser) darstellen, analysieren, erklären könnte. Also Inspirationen für mein kreatives Handeln. Und DAS ist jetzt für einen Pädagogen nicht die schlechteste Sache, nicht wahr? Es funktioniert dann am besten, wenn ich das Erlebte in einen Kontext setzen kann. Unsere Welt in ihrer Gesamtheit ist ein komplexes Netzwerk aus Abhängigkeiten, Gleichgewichten und Korrelationen zwischen den Menschen untereinander und mit ihrer jeweiligen Umwelt. Unsere Aufmerksamkeit wird jedoch viel zu oft durch die dauerpräsente Content-Berieselung aus der High-End-Taschenwanze von unserem tatsächlichen Lebensumfeld abgelenkt. Wir werden dabei dauererregt (im positiven, wie im negativen Sinne), aus dem Kontext unseres eigenen Lebens gerissen (um dann jedoch seltsamerweise Anteil an Schicksalen zu nehmen, deren Realitätsgehalt wir nicht mal im Ansatz überprüfen können und deren Protagonisten kontinental weit weg von uns sind, sofern sie überhaupt existieren) und dazu aufgefordert alles und jeden zu bewerten (egal wie dünn die präsentierte Information auch sein mag). Und wundern uns dann, dass es uns immer schlechter geht: gehetzt von einer Welt, die viel zu groß ist, um sie jemals vollständig verstehen zu können. Dauernd gefüttert mit Inhalten, die weder irgendetwas mit unseren realen Leben zu tun haben, noch es uns erlauben, uns eine fundierte Meinung bilden zu können. Und das ganze eingebettet in eine Maschinerie, deren Entwickler es zur Kunst erhoben haben, uns auf Gedeih und Verderb nicht mehr aus ihren Klauen – vulgo aus ihren Apps – wegzulassen. Denn unsere Aufmerksamkeit macht uns zur Ware… zum ausquetschbaren Subjekt der amoklaufenden Antiscocial-Media-Konzerne… Willkommen in der schönen neuen Welt!
Sich davon loszumachen – wenigstens ein bisschen – geht allerdings mit Schmerzen einher, denn wir haben uns so sehr daran gewöhnt von unseren Filterblasen geliebkost zu werden, dass wir es uns nicht mal im Ansatz vorstellen können, DASS SCHEISSHANDY MAL WEG ZU LEGEN… und einfach durch einen nebligen Park zu spazieren und die Umwelt auf uns wirken zu lassen. Und bevor jetzt irgendjemand mit No-Go-Areas kommt: ich bin ein white middle-aged cis-gender guy, zu hässlich um Angst vor einer Vergewaltigung haben zu müssen und andererseits zu alt, zu abgefucked und auch zu böse um vor irgendwelchen Talahons wegzurennen. Wen jemand sowas ausprobiert, bekommt er halt seine Quittung. ABER… man kann auch zu mehreren durch den Park gehen und bekommt immer noch die Gelegenheit, in Kontemplation zu verfallen. DAS ist eine Frage des Wollens und Zulassens! Auch mir fällt es nicht immer leicht, die üble Angewohnheit des dauernden Blödschirm-Suchtelns zu unterdrücken. Wer ohne Sünde ist und so… Aber ich stelle immer mehr fest, dass vieles von dem, was da vor meinen Augen vorbeiflackert schlicht schäbigster Mist ist, und dass es mich unterdessen ANWIDERT, mit solchen DRECK den ganzen Tag zugetextet zu werden. Denn die Hoffnung auf etwas Gehaltvolles, dass tatsächlich irgendeinen Bezug zu meinem realen Leben hat, erfüllt sich nur sehr selten. Wenn nun aber jemand daher kommt und mir sagt, “Aber ich MUSS doch abgelenkt werden, die Welt ist so schlimm, das ertrage ich nicht!”… nun dann würde ich empfehlen, sich mal ernsthaft zu fragen, ob irgendetwas auf dieser Welt vom Ignorieren durch mediale Ablenkung besser würde. Kleiner Tipp: wirklich das EINZIGE, was sich dadurch verbessert, sind die Einkommensaussichten der Tech-Barone im Silicon Valley. Und DIE sind wahrlich schon viel mehr als fett genug… Denkt mal darüber nach. Dann kommt ihr schon drauf, dass ihr eure Hirne nicht an die Kette legen lassen solltet; denn wahre Kreativität entspringt nur einem freien Geist! In diesem Sinne, ein schönes Wochenende.
