The Critic N°4 – love it or leave it!

Viszerale Gewaltdarstellung, dark’n’gritty! Eine Geschichte, bei der Tragik definitiv nicht mit dem feinen Pinsel aufgetragen wurde, sondern mit dem 10-Liter-Eimer ausgeschüttet! Antagonisten, die zu hassen man nach kurzer Zeit LIEBT! Screenwriting, dass erwachsene Zuschauer ernst nimmt; und durch den Protagonisten mit auf eine heftige Achterbahnfahrt der Erfahrungen und Gefühle nimmt. Comic Relief, der nie überzeichnet wird. Charakterbögen, die diese Bezeichnung auch verdienen, weil man darin eine Entwicklung erkennen kann. Eine ambivalente Bindung zum Protagonisten, dessen Entwicklung zu wahrer Größe Zeit braucht. Und Animation, die über jeden Zweifel erhaben ist. Normalerweise ist es nicht mein Ding, in einen großen Chor der Lobpreisung einzustimmen, aber wenn man von der für Animes typischen Überzeichnung von EINFACH ALLEM mal absieht, ist BLUE EYE SAMURAI so ziemlich das Beste, was ich in letzter Zeit gesehen habe. Die Geschichte um eine Person, die den gesellschaftlichen Anforderungen einfach nicht genügen KANN und in der Folge verzweifelt versucht, an ihr begangenes Unrecht mit dem Schwert zu sühnen, ist nun weder neu noch sonderlich originell. WAS allerdings mehr als nur originell daher kommt, ist die Art, die Geschichte zu erzählen. Wenn etwa in einer Episode DREI visuell mächtige Zeit- und Erzählstränge verknüpft werden, um die Motive des Protagonisten zugänglicher zu machen, dann ist das Blutvergießen nur ein äußeres Zeichen für den inneren Kampf – und was für einen Kampf.

Jedes Bild kann interpretiert werden…

Wenn man einen Streamingdienst bemüht, wünscht man sich Unterhaltung. Manchmal braucht es einfach nur flimmernde Bilder, um von den Fährnissen, Sorgen und Problemen des Alltags abzulenken, mit denen das Leben nun mal in Hülle und Fülle gesegnet ist. Und vieles, was man dabei konsumiert ist… nun ja, hoch generisch trifft es relativ gut. Viele Produktionen gleichen sich, es war in den letzten Jahren viel Young Adult Fiction dabei, bei der die Umsetzung sich nicht eben an ein reflektiertes Publikum wandte. Wenn wenigstens die Schauwerte okay waren, konnte ich darüber hinweg sehen. Aber letzthin waren ein paar Gurken unterwegs, die mich dazu gebracht haben, fernzubleiben: dumme Kinder, die den selben Fehler in jeder Staffel auf beinahe die selbe Art begehen. Dauernd Mary Sues als Weltenretterinnen – oder Prinzchen/Prinzesschen, die durch dumb luck den gleichen Effekt erzeugen konnten. Das zu Tode Melken des Fantasy Genres mit den immer gleichen Topoi. Actionszenen im Dunkel (ZU DUNKEL), die kaschieren sollen, dass man a) keine Action kann, b) kein CGI kann oder C) die Darsteller/Stuntmen nix können. Dann kann ich solche Szenen auch lassen! Und schließlich – zu Tode gefranchised durch Dauerberieselung – der (von mir mittlerweile sehnsüchtig erwartete) klagende Abgesang auf die Superhelden. WAS. FÜR. EIN. HAUFEN. BULLENSCHEISSE!

Wenn man einen Streamingdienst bemüht, wünscht man sich Unterhaltung. Doch wenn diese mir tatsächlich zu etwas Eskapismus verhelfen soll, dann erwarte ICH mittlerweile, dass sie sich an den erwachsenen Fantasy/Science-Fiction-Geek, Gamer und Popculture-Nerd wendet, der ich bin – und mir die Chance gibt, zu staunen, mitzufiebern und eventuell zum Denken angeregt zu werden. Ist das zuviel verlangt? Ich denke nicht. BLUE EYE SAMURAI tut das auf ziemlich vielen Ebenen. Ein guter Hinweis, dass mich etwas hooked ist, wenn ich das Handy vor dem Fernseher aus der Hand lege und mich voll auf die Geschichte einlasse – und das passiert mir heutzutage nur recht selten. Übrigens war auch „The Brothers Sun“ so eine Serie. Heidewitzka, endlich darf, abseits der Action und der durchaus spannenden Geschichte Michelle Yeoh mal zeigen, das sie tatsächlich eine gute Schauspielerin ist! Aber zurück zum Thema. Nun muss man sagen, dass ich seit 35 Jahren Anime-Fan bin; lange bevor das im Westen Mainstream wurde. Und man kann an BLUE EYE SAMURAI erkennen, dass es ein Anime ist, dessen Macher die typischen gestalterischen Merkmale respektieren und zugleich auf eine Art interpretieren, die diesen Anime für westliche Sehgewohnheiten besser verdaulich macht. Bildgewaltig auf eine andere Art ist er immer noch. Aber ein gut gemachter Anime erfordert, dauernd hinzusehen, da die Bilder ihre Geschichte auf eine Art erzählen, die der zu Grunde liegenden Graphic Novel, bzw. dem Manga sehr ähnlich ist. Wer verstehen will, was damit gemeint ist, sollte Scott McClouds „Understanding Comics“ lesen. Es ist nach wie vor DAS Standarwerk zum Thema – und übrigens eine Graphic Novel… ich mag es, wenn Meta-Ebene und Erzählung Hand in Hand gehen!

Animes sind – aus den vorbeschriebenen Gründen – nicht unbedingt für Jede*n etwas, auch wenn diese Art des graphischen Erzählens heutzutage getrost als Mainstream angesehen werden darf. Was das weltweite Interesse an BLUE EYE SAMURAI gerade eindrucksvoll dokumentiert. Man muss sich darauf einlassen WOLLEN – und wird dann aber auch mit einer nachdenklich machenden, fesselnden, tragischen und manchmal auch komischen Geschichte um Stigmatisierung, Rache, Liebe, Erlösung und innere wie äußere Dämonen belohnt, die – obwohl eingebettet in den kultur-geschichtlichen Hintergrund des Edo-Zeitalters im Japan des 17. Jahrhunderts – aus meiner Sicht universell funktioniert. Danke für die erwachsene Unterhaltung. Und wenn jemand anderer Meinung ist, darf er oder sie dies natürlich kundtun – aber nur, wenn die Analyse fundiert ist. Schönen Tag noch.

Auch als Podcast…

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