Ich lag auf dem Rücken. Nein, dies ist nicht der Beginn SO einer Geschichte. Dennoch lag ich heute Morgen unter einem Baum am Badesee, und blinzelte durch die Blätter. Ich lese im Moment, teils zweckgebunden, teils aus persönlichem Interesse ein Buch, welches sich aus der Sicht eines Ethnologen mit Hannah Arendts „The Human Condition“ auseinandersetzt. Es geht in diesem Buch im Kern um die Frage, auf welche Weisen und auf welchen Ebenen die mannigfaltigen individuellen Geschichten der Menschen miteinander interagieren und was das für die Begriffe „privat“ und „öffentlich“ bedeutet. Der Autor spricht über Storytelling als eine Grundform des menschlichen Ausdruckes und der jeweiligen Identität. Selbstverständlich muss sich jemand mit meiner Verbindung aus Hobby (Pen’n’Paper-Rollenspiel) und professionellem Background (Erwachsenen-Pädagogik und Organisations-Entwicklung) quasi auf so ein Topos stürzen. Sowas bleibt bei mir allerdings selten lange ohne Folgen für meine Denke und was diese so ausspuckt, wenn der Tag lang ist…
Meine Gedanken wanderten zu dem Moment, da ich mit meinem Bruder brach. Ich ertrug sein selbstgefälliges, stets an den materiellen Dingen ausgerichtetes Geschwafel im Nachgang des Todes unserer Mutter nicht mehr, und habe ihn damals, ohne weiter darüber nachzudenken – per Whatsapp – aus meinem Leben befördert. Seit 22 Monaten ist Funkstille. Und ich bereue das nicht. Was ich allerdings bereue ist, nicht früher nach den Untiefen der Geschichte meiner Familie geforscht zu haben. So vieles blieb – meinen ausdrücklichen Fragen an meine Mutter und meine Geschwister zum Trotze – unausgesprochen. Und so vieles ist für mich bis heute nur schwer einzuordnen. Was ich allerdings bis heute UNMÖGLICH finde, ist die Art, in der meine älteren Geschwister so taten / tun, als wenn ich ein Kind wäre, das nichts versteht. Unabhängig davon, ein 48jähriger Familienvater und leitender Angestellter im Gesundheitswesen zu sein, bin ich vermutlich, Kraft meiner Erfahrung, meiner Ausbildung und meiner durch die eigene Depressionserkrankung geschärften Sinne der EINZIGE, der manches verstehen könnte. Klingt das arrogant? Ich denke nicht. Denn meine Geschwister haben das was war, zumindest soweit ich weiß, nie aufgearbeitet.
Jedenfalls gingen meine Gedanken heute Morgen, ziemlich unvermittelt, zu diesen Orten auf der Landkarte meines eigenen Narrativs zurück, die ich selbst mittlerweile dem Vergessen anheim gegeben habe; überwuchert von dem, was JETZT ist. Und ich verstehe nun, nach ein paar Dutzend Seiten in diesem Buch, welches ich gerade lese auch, warum! Denn nach einer kurzen Beschäftigung mit diesen bitteren Erinnerungen kam ich zu folgendem Schluss: DRAUF GESCHISSEN! ICH BIN NICHT MEHR TEIL DIESER GESCHICHTE! Ich will es nicht sein, weil ich weiß, dass es mir nicht gut täte. Und ich erwarte auch nicht mehr, dass noch irgendjemand kommt, und mir irgendwas zu erklären versucht. Der Zug ist endgültig abgefahren. Ich will einfach nur weiter meinen Frieden damit halten. Ob ich irgendwann auch meinen Frieden mit meinem Bruder mache? Wer weiß? Vielleicht bei einer Beerdigung; denn das waren die jeweils letzten Anlässe, zu denen ich ihn zu sehen bekam. Falls diese Worte irgendjemandem bitter vorkommen sollten – das sind sie nicht! Ich habe nur keine Lust mehr, um den heißen Brei herumzureden. Bei manchen meiner Kollegn*innen bin ich mittlerweile als No-Bullshit-Guy bekannt, weil ich es lieber direkt mag. Und da dies MEIN Leben ist, setze ich dieses Bedürfnis auch um.
S0, das wäre raus. Das Wochenende ist fast rum, Zeit sich mit den letzten Arbeitstagen und den letzten Urlaubsvorbereitungen zu befassen. Schönen Abend.
- Jackson, Michael (2013): The Politics of Storytelling. Variations on a Theme by Hannah Arendt. Second Edition. Kopenhagen: Museum Tusculanum Press.