Während Merrick das Hoverbike mit fast traumwandlerischer Sicherheit durch den dichten Verkehr lenkte, kreisten seine Gedanken um das seltsame Paket, und natürlich um dessen Inhalt. Es war schon ein bisschen komisch, dass Sammy den Mann nicht auf einem seiner eigenen Schiffe hatte einfliegen lassen. Und jetzt das. Er war in Gedanken.
In diesem Moment zog ein unbedachter Fahrer aus der unteren Flugspur ein Stück zu weit hoch und Merricks Reflexe retteten ihn nur knapp vor einer jähen Kollision. Fluchend schlingerte er einige Dutzend Meter. Dann hatte er seine Maschine wieder abgefangen und schoss neben das Fahrzeug, dass ihn abgedrängt hatte. Er gestikulierte, fluchte, sah hinein – und plötzlich wurden seine Sinne wieder überscharf. Der Fahrer hing auf der Steuerkonsole, sein Kopf aufgeplatzt wie eine geworfene Melone; ein Schuss von hinten. Seine Augen suchten die Fahrspuren in seinem Rücken ab. Da waren zwei Hoverbikes. Zu dicht zusammen für einen Zufall, zu angespannt für einen einfachen Ausritt, zu beherrscht und zu koordiniert. Und mindestens einer von denen hatte einen verdeckten Karabiner.
Er zog die Bremse hart, ließ sich drei, vier, fünf Ebenen durchfallen, fast bis auf das Bodenniveau, vorbei an mindestens einem Dutzend fluchender Beinahe-Unfälle. Sein Verdacht wurde bestätigt, als die zwei es ihm mit leichter Verzögerung nachtaten. Und da war noch ein Dritter… anderer! An dieser Stelle gab es auch Querverkehr, der vom Nor’a’Patra-Distrikt rüber zum Chi’ang’Tsu und zurück führte, was die Sache riskant gestaltete. Unten war der Fluss. Auf beiden Seiten führten die Monorail-Trassen auf Level vier rings um zwei der vielen Berge von Tairan City herum. Man konnte hier überall auf Bodenniveau runter; oder zumindest gab es überall Boden. Beide Berge waren zum Teil hohl und im Laufe der Zeit hatte man, teils im Stein, teils auf gleichförmigen Terrassen aus Stahl, Beton und Onyx rings um sie herum eine Stadt gebaut. Die Ebenen oberhalb des Flusstales waren alle so hoch, dass sie mehrgeschossige Bauten beherbergen konnten und ragten, der Flanke des Berges folgend, wie eine semi-natürliche Archology gut 35 Stockwerke in den Himmel. Je höher oben, desto weniger schäbig waren die Bauten. Die Stadtbahnringe versorgten vor allem die einfachen Arbeiter mit Transportdienstleistungen. Hier untern standen die Apartmentblöcke dicht an dicht, durchbrochen von allerlei Geschäften, Werkstätten, Manufakturen. Alter, Baustil und Bauhöhe waren vollkommen uneinheitlich. Von Stadtplanung hatte hier noch nie einer was gehört. Manche Bereiche waren regelrechte Slums. Insbesondere die innenliegenden ohne Sonnenlicht.
Merrick flog eine enge Abwärtskurve um eine der wuchtigen Monorail-Stelzen herum und tauchte in den Schatten der darunterliegenden Ebene, jetzt auf hiesigem Straßenniveau. Am freien Himmel bot er ein leichtes Ziel und seine Verfolger hatten offensichtlich keine Bedenken, wenn es um Kollateralschäden ging. Einer von Ihnen tauchte in seinem Spiegel auf, als er gerade auf Wang-Lop-Land fuhr. Er donnerte durch eine ziemliche schmale Gasse, knapp an einem schäbigen alten Kleinlaster vorbei, in dem wie ihm beiläufig auffiel, zwei Typen Wache zu halten schienen, hinaus in einen Wochenmarkt. Er wich zwei Garküchen und einem fliegenden Mechaniker aus und war gerade in einer harten Wende begriffen, als der erste Typ auch ankam. Chicken Race. Merrick hatte seine Sweeper parat, hielt mit aufheulenden Turbinen auf den Typ zu und zog ab. Drei Schuss in schneller Folge. Die Antwort sollte weniger elegant werden, eine Salve aus einem kurzen Karabiner, doch weil er seinen Gegner auf dem falschen Fuß erwischt hatte, kam’s nicht mehr dazu. Der Typ fiel von seinem Bike, das schliddernd in eine der Garküchen krachte.
Jetzt kam Leben in die zwei Typen im Van, während er wieder eine harte Wende machte und Vollgas gab. Die Gangs mochten es nicht, wenn jemand in ihrem Territorium unangemeldet Geschäfte machte. Noch weniger aber mochten sie es, wenn jemand anfing rumzuballern. Die Cops kamen zwar nur selten hier her und meistens wollten sie dann auch nur ein bisschen Cash. Aber zu viel Action erzeugte die Art von Aufmerksamkeit, die man auf den unteren Ebenen überhaupt nicht leiden konnte. Der zweite Verfolger kam an den Platz. Merrick war sich nicht sicher, wie das ausgehen würde, er verließ die Location gerade am anderen Ende, aber er hörte automatisches Feuer, das kurz darauf erstarb. Auch das Heulen einer Turbine erstarb. Nur noch einer. Und wahrscheinlich auch noch von einer weiteren Fraktion.
Schmale Gassen zwischen niedrigen Häusern. Menschen, Maschinen, Müll schienen nur so an ihm vorbeizufliegen. Konzentriert bis in die Haarspitzen, um so schnell wie möglich Raum zwischen sich und seinen letzten Verfolger zu bringen, blieb er am Boden, denn zu weit hochziehen mochte seine Position enthüllen. Er hasste solche Situationen. Nicht, weil er nicht kämpfen konnte oder wollte. Gewalt gegen jemanden anwenden zu müssen, der ihn bedrohte, war ihm egal. Aber es widerstrebte ihm, die Leute hier unten der Gefahr auszusetzen, denn die meisten waren nicht im Ansatz so gut darin wie er, sich ihrer Haut zu wehren.
Von oben. Er zog instinktiv nach links, riss die Maschine hoch, schabte mit der Unterseite über die Dachkante. War nur zwei Stockwerke hoch, doch der Raum war knapp. Er schlidderte quer über das Flachdach, während die Druckwelle der Detonation Steine, Bretter, Moniereisen und anderes hinter ihm hertrieb. Von einem fahrenden Hoverbike abzusteigen war Übungssache, aber jeder Biker, der was auf sich hielt, schaffte das zumindest, ohne sich umzubringen. Merrick landete auf den Füßen wie eine Katze und das Magazin der Sweeper leerte sich nun vollautomatisch. Der Angreifer kam gerade noch von seinem Bike, bevor die hintere Düse sich in ein hübsches Feuerwerk verwandelte. Er landete vielleicht sieben acht Meter entfernt, ebenfalls auf den Füßen. Verdammt, der Bastard war leider auch geschickt. Und er spurtete direkt auf Merrick los.
Es war für Profis eher unüblich, allzu lange scharfe Hiebwaffen wie etwa Schwerter zu benutzen. Unter den jungen Wannabes waren sie als Gimmick zum Angeben recht beliebt, doch kaum jemand konnte wirklich damit umgehen. Hier schien das was anderes zu sein. Die Klinge, welche sein Gegner im Laufen zog, erinnerte an die Comicdarstellung eines Ninjatō, insbesondere, weil er sie tatsächlich an der Hüfte trug; irgendwie Klischee, aber ansonsten war das hier ganz sicher kein Witz. Sein eigenes Schwert sah aus wie ein filigraner Säbel von äquivalenter Länge. Der erste Schlagabtausch war schnell. Der hier war geübt, keine Frage. Man konnte nichts hören, außer angestrengtem Atem und dem metallischen Klirren, wenn die Klingen im Wirbel aufeinandertrafen. Einen Sekundenbruchteil zu langsam begegnete er einem letzten tiefen Angriff; die Klinge glitt durch die Verbundkeramikfasern seiner leichten Panzerung, die er unter seinen Klamotten zu tragen pflegte und hinterließ einen fiesen Schnitt am Oberschenkel. Sie hatten sich gerade wieder voneinander getrennt, wahrscheinlich, weil der andere den Wert seines Treffers einschätzen wollte, als drei Typen mit vollautomatischen Waffen durch eine Tür auf das Dach gelaufen kamen. Die schienen sich keine Zeit für Fragen nehmen zu wollen und eröffneten sofort das Feuer. Die beiden Kontrahenten wichen in entgegengesetzte Richtungen aus.
Das Letzte, was Merrick von seinem Verfolger sah war, wie dieser mit einem Satz über die Straße sprang, während er selbst sein Bike aufrichtete und sich in der gleichen Bewegung aufschwang, um ganz schnell die Biege zu machen. Er versuchte nicht, darüber nachzudenken, denn auch ihm pfiffen Kugeln um die Ohren. Dann jaulte seine Turbine auf, er hüpfte einfach nach unten in den Hinterhof des Nebengebäudes und flog durch den im Erdgeschoss liegenden Shop nach vorne weg, dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassend. Er konnte jede Menge Flüche in asiatischer Gemeinsprache, Pidgin und Kantonesisch hören, während er, wie vom Teufel verfolgt, das Weite suchte.
Nach ein paar Blocks setzte er kurz auf einem Dach ab, klebte ein Dermal-Aid auf und griff nach seinem Omni. Nach einem kurzen Moment warf er es weg, um es zu grillen, zog ein weiteres aus einer Tasche am Gürtel und erkundigte sich nach dem aktuellen Aufenthaltsort seines bevorzugten Downside-Doktors…
Kleine Kostprobe aus einem in Arbeit befindlichen Sci-Fi-Roman. Third Draft, aber es wird langsam...