Ja sind wir im Wald hier…?

Echt bemerkenswert, wie schnell sich der Geist klärt, wenn man anfängt zu gehen. Ich bin ja weder sportlich (nicht mal nahe dran) noch spüre ich diesen Bewegungsdrang, den ich an manch anderem Zeitgenossen mit gewisser Irritation wahrnehmen muss. Ich bin einfach nur so’n Typ mit Vitamin-D-Mangel; oder anders gesagt: wenn es schon sonnig ist, muss man auch mal raus. Während ich so ging, schossen eine Menge Gedanken durch meinen Kopf. Viele sind schon wieder verschwunden und irgendwie bereue ich es fast, nicht doch die Diktierfunktion meines Smartphones benutzt zu haben. Andererseits sagt mir meine Erfahrung, dass jene Gedanken, die’s wert sind, weitergedacht zu werden, irgendwann ganz von selbst wieder auftauchen.

Überhaupt betrachte ich es als Privileg, mal ziellos denken zu dürfen. Mir kommt in letzter Zeit viel zu oft die Arbeit in den Kopf, selbst, wenn dazu gar keine Veranlassung bestünde. Und es ist schwer, morgens um 04:45 die Mitarbeiter des Gedankenzirkus wieder aus der Manege zu nötigen. Manchmal hilft es mir, wenn ich mir Gespräche mit Personen vorstelle, die ich gerne mal führen würde – oder die ich gerne anders geführt hätte. Das ist schon ein bisschen wie Selbstgespräche führen; diese Tätigkeit ist übrigens aus meiner Sicht zu Unrecht übel beleumundet. Man ist nicht beknackt, wenn man (laut) mit sich selbst spricht. Ich betrachte sowas eher als Rhetorik-Training.

Für mich ist dieses Durchspielen fiktiver Gespräche genauso wertvoll, wie jedes Szenario-Training, denn ich bin auch in Gedanken dazu gezwungen, potentielle Reaktionen meines Gegenübers antizipieren und in meiner rhetorischen Strategie berücksichtigen zu können. Und manchmal kann ich meiner Geschichtenerzähler-Ader freien Lauf lassen, um wilde, verrückte Fantasien zu durchleben, die mich gelegentlich stark inspirieren. Die Grenze zwischen Selbstgespräch und Tagtraum ist nach meiner Erfahrung nämlich höchst schmal und fließend. Was zur Folge hat, dass andere Menschen auf Waldspaziergang eventuell doch auf die Idee kommen könnten, ich hätte vielleicht eine schizo-affektive Störung…

Wir Homo Sapiens Sapiens sind – durch unsere Fähigkeit zur reflexiven Rollenübernahme – zumindest ein wenig davon abhängig, von Anderen als positiv bewertet zu werden. OK, wenn man sich Instagram und Facebook so anschaut, ist das bei manchen wohl mehr als nur ein wenig der Fall , aber das tut hier nichts zur Sache. Ich gehe zumeist extra tief in den Waldpark, wo an einem sonnigen Samstagmittag Ende Oktober eher wenige Menschen unterwegs sind; aber auch da ist man nicht alleine mit sich selbst. Sei’s drum.

Ich hatte genug Zeit, um mir über Folgendes klar zu werden: die Menschen, mit denen ich solche fiktiven Gespräche führe, sind keine Promis sondern zumeist – wie Studs Terkel wohl gesagt hätte – „mundane people from all walks of life“. Die Bekannten, die Narzissten, die spotlight-hurenden Influencer (schreibt sich nicht umsonst beinahe wie eine Krankheit) und anderes Geschmeiß können mir gerne gestohlen bleiben. Und natürlich ist gelegentlich auch mal eine vollkommen fiktive Person dabei. Schließlich bin ich, neben manchem Anderen, auch Autor und Rollenspieler. Jedenfalls tut es gut, auf diese Weise einerseits Selbstbeschau zu betreiben und andererseits jene Teile der eigenen Persönlichkeit zum Lüften nach draußen zu holen, denen wir sonst lieber aus dem Weg gehen wollen.

Ja, für mich ist das ganze ein Stück Psychohygiene, auch wenn das für Außenstehende dann und wann vielleicht genau anders herum wirken kann. Das ist übrigens nicht erst seit Corona – oder gar dem zweiten Teil-Lockdown – so. Vielmehr pflege ich diese Schrulle seit Jahrzehnten und bislang hat sie mir gute Dienste geleistet. Vielleicht probiert ihr das ja auch mal. Insbesondere die zweite Funktion, die ich heute allerdings nicht mehr diskutieren möchte – nämlich tatsächlich stattgefunden Gespräche zu analysieren, um zum Beispiel herausfinden zu können, wo man falsch abgebogen ist – ist für Einsteiger gut geeignet. In diesem Sinne wünsche ich euch ein schönes Rest-Wochenende.

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