Nö, ich habe mich NICHT bei der Haupstadt Ägyptens verschrieben. „Kairos“ ist der griechische Ausdruck für einen günstigen Moment; dieses „genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Idee haben“-Ding, welches im Ergebnis dazu führt, dass z.B. ein Bill Gates stinkreich ist – und ich nicht. Na ja, dieser Vergleich unterschlägt natürlich einige Details, aber der Grundgedanke ist, dass man „das Richtige“ tut, wenn der Moment dafür gereift ist, oder sich eine günstige Gelegenheit aus den Geschehnissen heraus ergibt. In diesem Sinne ist der Kairos also nicht notwendigerweise das Ende einer langwierigen und komplizierten Planung (obwohl das durchaus möglich sein kann), sondern er realisiert sich nicht selten auch darin, die Umstände lesen und geschickt reagieren zu können. Louis Pasteur sagte zwar sinngemäß, dass das Glück mit den gut Vorbereiteten sei, aber auf mache Gelegenheit bereitet dich nichts vor. Manchmal ist es dann der Sprung vom Kopf des Löwen, wenngleich es eher selten um den Beweis von Würdigkeit geht. Wir suchen im Alltag aber auch nur selten den heiligen Gral.
Doch, was ist dieses „Richtige“. Es geht ja hier und jetzt um günstige Gelegenheiten, und nicht etwa um Moral – oder…? Frage ich Adorno, kann es natürlich kein richtiges Leben im Falschen geben – wobei er sich dabei, entgegen der Alltagsverwendung des Zitates zunächst lediglich auf die Ästhetik des Wohnraumes bezog. Die Frankfurter Schule hat sich halt auch mit Fragen des Alltags befasst. Doch im Grunde lässt es sich auch auf die Kant’sche Suche nach der Moral übertragen. Denkt man jedoch Adorno kurz zu einem vorläufigen Ende und fügt ’ne nicht zu knapp bemessene Prise Marx hinzu (Erst kommt das Fressen, dann die Moral), dann wird klar, dass die äußeren Umstände unseres Lebens, also die Art, wie wir unser direktes Lebensumfeld gestalten (wollen würden), eine Reflektion unserer inneren Umstände darstellen. Ich nehme noch eben den Bourdieu für eine Tasse „Notwendigkeits-Geschmack“ aus dem Regal, und schon wissen wir, dass diese Darstellung in aller Regel durch unsere wirtschaftlichen Grenzen (nennt es Klasse, Milieu, Stand, ganz wie euch bleiebt) deformiert wird. Das ist Moralsozialisation in a nutshell: wir sind eine Mischung aus dem, was andere uns vormachen/anbieten, den daraus destillierten individuellen Wünschen und dem, was wir uns tatsächlich leisten können. Denn ohne den ganzen weltlichen Tünnef sind wir alle – zumindest größtenteils – gleich geschaffen…
Moral ist aber eine entscheidende Komponente, wenn es um das Richtige Tun (oder Lassen) im richtigen Moment geht. Den Kairos zu erkennen ist das Eine. Sich „richtig“ zu entscheiden das andere. Denn zum einen überschätzen wir üblichwerweise unsere Fähigkeit zur objektiven Einschätzung von Chancen und Risiken eines gegebenen Sachverhaltes Xn maßlos (lest Daniel Kahneman „Schnelles Denken, langsames Denken“, dann wisst ihr, was ich meine); zum anderen unterstellt allein der Begriff „günstige Gelegenheit“ per Konnotation für die meisten lediglich eine Chance auf wirtschaftlichen Gewinn. Von moralischen Gewinn durch Solidarität, Altruismus, Bedürfnisverzicht, etc. ist da beinahe nie die Rede. Weil so viele von uns gar nicht mehr wissen, was diese Begriffe bedeuten. Ihr wolltet doch noch wissen, warum ich gestern behauptet habe, (zumindest die meisten) Menschen zu hassen. Da habt ihr eure Antwort: weil Menschlichkeit unter Menschen zu oft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Wenn solche Mitmenschoiden einen Kairos erkennen, ist dieser stets nur mit dem persönlichen Vorankommen verknüpft, selten bis nie jedoch mit einem übergeordneten Wert für die Gesellschaft, deren Teil sie trotzdem immer noch sind; so sehr sie sich auch gegen diese Erkenntnis wehren mögen.
Ob ich selbst wirtschaftlich günstige Gelegenheiten beim Schopfe packe…? Ein paar Mal in meinem Leben tat ich das und ich kann sagen, dass ich mich nicht dafür schäme, weil ich denke, die Vorteile, welche ich daraus ziehen durfte, durch mein Tun für diejenigen, welche sie mir gewährten umfänglich ausgeglichen zu haben. Man kann gewiss immer noch ein bisschen mehr auf die Haben-Seite des eigenen Karma-Kontos einzahlen, aber ich bin diesbezüglich mit mir ziemlich im Reinen. Bedauerlicherweise denken das jene, die eigentlich deutlich in der Karma-Bringschuld sind, vermutlich ebenso…! Man könnte mir nun natürlich einen Wahrnehmungsbias unterstellen, da wir doch alle eine positive Geschichte unseres Seins erzählen wollen. Identitätsbestätigung und so. Aber ich erlaube mir folgende Entgegnung: kehrt erst mal vor eurer eigenen Tür! Danke. Ansonsten versuche ich, auch jene Chancen zu ergreifen, die andere, oder wahlweise eine gute Sache voranzubringen versprechen. Und als Lehrer und Leitungsperson habe ich dazu durchaus Gelegenheit. Mir wäre es aber vor allem wichtig, dass sich andere auch für diese Sicht der Dinge begeistern können. Ihr hättet jetzt die Gelegenheit, euch die Frage zu stellen, ob es für euch – neben euch selbst – noch etwas anderes gibt, was euch wichtig genug ist, nach den richtigen Gelegenheiten Ausschau zu halten und etwas zu tun, wenn sich welche ergeben. Ich würde mich freuen, davon zu hören.