Als ich vor einigen Tagen hier darüber schrieb, dass Kreativität heutzutage oft vor allem Recycling-Kreativität sei, weil die großen Geschichten alle schon auserzählt seien, meinte ich damit vor allem Archetypen von Geschichten. Die klassische Form des Dramas mit seinen fünf Akten gibt bis heute Geschichten jedweder Art ein Grundgerüst, welches uns immer wieder bestimmte Figuren des Erzählens in verschiedenen Kunstformen zuverlässig wiedererkennen lässt:
- Exposition (oder Protase) => wir werden in die Geschichte eingeführt und lernen Pro- wie Antagonisten kennen. Davon abgeleitet ist einer der wichtigen Ratschläge für Möchtegern-Romanciers: beginne die Geschichte mit einigen wenigen Sätzen, welche den bzw. die Protagonisten möglichst stark charakterisieren und positionieren. Doch dazu später mehr.
- Komplikation (oder Epitase) => der Konflikt, bzw. die zentrale Spannung betritt die Bühne der Geschichte. Dies kann sich an eine Person polarisieren, oder an einem besonderen Sachverhalt (etwa einem McGuffin, den alle haben wollen). In jedem Fall wird der Eintopf gerade mit einigen 1000 Scoville nachgewürzt…
- Peripetie => eine erste Klimax führt dazu, dass der/die Protagonisten eine Niederlage, einen Verlust oder einen Rückschlag erleiden und an den Folgen wachsen müssen, um den/die Antagonisten später (evtl.) überwinden zu können.
- Retardation => Steigerung der Spannung durch das langsame Hinarbeiten des/der Protagonisten auf den finalen Akt. Die Kräfte werden gesammelt, Wunden geleckt, Erkenntnisse gesammelt, eine neue Kraft entdeckt. All das führt entweder zur…
- Katastrophe oder zur Lysis => Wir alle lieben Happy-Ends…oder? Nun, offenkundig hat insbesondere die Mainstream-Filmemacherzunft vergessen, dass eine Geschichte auch mit einem Niedergang enden kann. Das Happy-End ist nur eine Möglichkeit, aber kein Gegebenes, wenn es um Geschichten geht.
Vollkommen unabhängig davon, ob man nun als Autor eines Romans, eines Drehbuches, eines Computerspiels oder eines Skriptes für ein Instruktionsdesign in der beruflichen Bildung tätig wird, gibt es ein paar Dinge die man abseits der eben beschriebenen Struktur beachten sollte: a) inhaltliche Kohärenz: Wenn die Plotholes so groß sind, dass die voll aufgefächerte Pazifikflotte hindurchrauschen kann, ist irgendwas beim Denkprozess des Autors falsch gelaufen. Das bedeutet übrigens mitnichten, dass JEDE Geschichte den Gesetzen der Physik huldigen muss, oder den knochentrockenen Realismus eines alten Tatortes braucht. Die Geschichte muss in ihrem eigenen Kontinuum funktionieren und darf selbst aufgestellte Regeln nicht (allzu oft) brechen: ein Beispiel ist die vielzitierte Protagonistin Rey aus der dritten Star-Wars-Trilogie („Das Erwachen der Macht“ etc.), die vollkommen ohne Training oder mentorielle Begleitung beim zweiten Zusammentreffen schon einen Sith-Lord zerlegt – und damit erhebliche Bestandteile der Star-Wars-Lore ad absurdum führt. b) glaubwürdige Motivation: warum stellt sich ein Protagonist gewissen Herausforderungen? „Weil es eben da steht“, ist MIR als Begründung deutlich zu knapp. Es muss sich aus der Exposition und Komplikation erklären lassen, warum jemand sich auf ein Abenteuer begibt, warum und vor allem wie viel er oder sie für den Erfolg zu geben bereit ist und wie der Weg dahin aussehen könnte. Wenn hier zu viel Deus Ex Machina passiert, und ein*e Protagonist*in von Zero to Hero gebullshittet wird, bin ich als Konsument raus. Denn Erfolg / Stärke / Macht muss erworben werden und geht immer mit Verantwortung einher c) glaubwürdige Beziehungen: wenn da plötzlich aus zwei Personen, die in etwa so viel gemeinsame Chemie haben wie das Sandmännchen und der Osterhase eine Love-Interest hergesponnen wird, revoltiert mein Erzählerherz. Beziehungen entstehen nicht aus dem Nichts und bedürfen eines Reife-Prozesses (Sex in Extremsituationen, ein Klassiker des 80er-Action-Kinos, sei hiervon ausgenommen. Aber derlei Blödsinn sieht man ja heutzutage nur noch selten). Das betrifft aber auch die Verbindung mit Nebencharakteren, Sidekicks, Henchmen des/der Antagonisten etc.
Die „willing Suspension of disbelief“ funktioniert nur dann, wenn die Erzählung im Rahmen ihrer eigenen Parameter glaubwürdig bleibt, unsere menschliche Erfahrung hinsichtlich bestimmter Sachverhalte (eine 55KG-Frau wirft keinen 125KG-Mann umher, außer sie ist mit Superkräften gepimped und das wurde vorher auch so erklärt) nicht vollkommen konterkariert und die Struktur der Beziehungen erklärbar ist und bleibt – dann erzeuge ich Buy-In und die Leute kaufen mir meine Geschichte ab. Character-driven bedeutet also, dass ich Persönlichkeiten erzählen muss und nicht nur Schablonen; dass die Motive und resultierenden Handlungen der Pro- und Antagonisten emotional wie auch rational nachvollziehbar bleiben müssen. Und schließlich, dass die Beziehungen der Figuren untereinander relevant sind. Selbst dann, wenn diese durch die Geschichte einer (teils unvorhersehbaren) Dynamik unterworfen werden. Ich denke Geschichten immer von den Charakteren her. Übrigens auch im Lehrsaal. Szenen-Beschreibungen und Personen, die nah genug an einer realen Erlebniswelt dran sind, vermitteln den Schüler*innen stets bessere Einstiegspunkte in Fall-Szenarien, als irgendwelcher wirrer, an den Haaren herbeigezogener Action-Quatsch. Und tatsächlich beobachte ich, dass eine solche Einstellung beim Lehrpersonal auch auf die Schüler*innen abfärbt, wenn diese mit der Zeit teilweise selbst beginnen, auf diese Art Szenarien füreinander zu entwickeln. Das macht mich dann auch ein bisschen stolz.
Ich kämpfe hier im Urlaub gerade mal wieder mit verschiedenen Ideen für hobbymäßiges Storytelling, die allerdings noch nicht richtig Struktur annehmen wollen. Das Einzige, was mir, einer Fingerübung gleich, sofort aus der Feder lief, waren Nichtspielercharaktere und deren Beziehungen. Sogar für verschiedene Settings, die ich derzeit beackere. Tatsächlich ergibt sich der Rest der Geschichten dann vermutlich alsbald von allein, denn Kreativität kann man, wie ich neulich auch geschrieben hatte ja nicht zwingen; aber wenn der Moment günstig ist… Also hoffen wir auf die weitere Wirkung der Erholung. Die beste Ehefrau von allen meinte in dem Zusammenhang übrigens dieser Tage zu mir, dass ich in den letzten Jahren hinsichtlich meines Outputs für Pen’n’paper viel zu selbstkritisch geworden sei. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber das was ich geschrieben hatte, lasse ich jetzt so. Und jetzt kann ich den Pool rufen hören. Denn bei den aktuellen Temperaturen tut gelegentlich Abkühlung not. Wir hören uns alsbald wieder.