BeliebICH

Stromgitarren. Ich meine Musik mit Stromgitarren, also am besten zwei davon, dazu ein Strombass, ein Schlagzeug und, falls unbedingt benötigt ein Keyboard; fertig ist ein Ensemble, dass mein Herz zu gewinnen vermag. Ich bin dabei nicht auf eine spezielle Richtung von Stromgitarrenmusik festgelegt – wie ich schon häufiger festgestellt habe, bin ich kein großer Freund von Dogmen – vielmehr gibt es Vertreter unterschiedlichster Stilrichtungen die mich faszinieren. Ich höre auch andere Musik aber zugegebenermaßen ist Stromgitarrenmusik so richtig mein Ding. Immer noch! Und diese Feststellung ist hier wichtig, mich durchzuckte nämlich kürzlich der Gedanke, dass der landläufigen Meinung zufolge der Musikgeschmack ebenso einem Reifungsprozess unterworfen sei, wie alles andere auch. Und dass folglich die Zeit für Stromgitarren vorbei sein müsste, wenn man so richtig erwachsen würde. Was mich ängstigte, weil ich doch meine Stromgitarren so mag und mir eigentlich geschworen hatte, niemals ein Fan von Marianne und Michael zu werden. Ich hab nix gegen die als Menschen, weil ich sie ja gar nicht persönlich kenne, aber dieses schunkelselige Humptata geht mir halt auf den Sack. Und so manches andere auch…

Da ich aber immer noch nicht zum Liebhaber von Volksmusik geworden bin, begann ich mir so zu überlegen, dass das mit dem Musikgeschmack großer Käse ist, denn habe ich ihn einmal entwickelt, ändert er sich wohl nicht mehr so leicht. Zudem kannten wahrscheinlich meine Vorgängergenerationen das mit den Stromgitarren noch nicht so gut und taten es als kindischen Quatsch ab, weil es ihren, unter anderen Einflüssen sozialisierten, Wahrnehmungsschemata zuwider lief. Aber jetzt gibt es Menschen meines Alters und auch so manchen deutlich darüber, der trotz sonstiger Reife (Kennzeichen hierfür sind eine feste Partnerschaft, Kinder, eine feste Bleibe, Schulden und eine gewisse Abgeklärtheit im Umgang mit dem Leben und seinen Stromschnellen an sich) immer noch Stromgitarren mag; was mir erhebliche Hoffnung bereitet, so im Bezug auf Marianne und Michael!

Aus einem anderen Blickwinkel könnte man aber auch sagen, dass die Zahl der Optionen dessen, was wir als unseren persönlichen Stil und unsere Vorlieben definieren zum einen zugenommen hat; die Verfügbarkeit unterschiedlichster Medienangebote und die damit zunehmende Informiertheit nicht nur im sozialen und politischen, sondern eben auch im kulturellen Sinne hat uns ein Vielfaches dessen an Wahlmöglichkeiten beschert, was zwei oder drei Generationen vor mir möglich war. Zum anderen hat sich der Umgang mit Individualität an sich verändert. Früher war es durchaus üblich dass kulturelle Vorlieben und Praktiken tradiert wurden, also von einer Generation auf die nächste übergingen. Die soziale Gruppe, der man zugehörig war, hatte in diesen Belangen Vorrang vor dem Individuum. Heute indes genießt das Individuum Vorrang und lebt diese hinzugewonnene Freiheit auch aus. Was sich eben unter anderem im Musikgeschmack äußert. Überdies spielt seit den späten 60ern die persönliche Distinktion durch differierende Kulturpräferenzen auch bei der Ablösung vom Elternhaus eine weitaus größere Rolle, als dies früher der Fall war. Und der – natürlich je nach Peergroup sehr unterschiedliche – Musikgeschmack wurde hierbei zu einem wichtigen Merkmal so gut wie aller Jugendkulturen.

Was die Zugehörigkeit zu Jugendkulturen angeht, so bin ich mir nicht sicher, wann und auf welche Art heutzutage tatsächlich noch ein für jeden abschließender Übergang ins Erwachsenenleben stattfindet. Der Eintritt ins Erwerbsleben könnte einen solchen Rite de Passage darstellen, doch tatsächlich ist das Ablegen des für Jugendkulturen je typischen Habitus anscheinend auch dabei nicht obligat. Ich selbst grüble immer wieder über die Frage, ob ich mich eigentlich erwachsen fühle, und was das hinsichtlich meines Verhaltens bedeuten müsste. Ich meine, ich übernehme Verantwortung; für meine Familie, meine Arbeit, etc. Falls das genügt, dann bin ich erwachsen; ich fühle mich allerdings nicht so… alt.

Man könnte nun unterstellen, dass das Zeitalter der Beliebigkeit es hat unnötig werden lassen, so richtig in allen Belangen erwachsen zu werden. Aber das greift mir zu kurz, denn einerseits sind unsere Leben nicht so beliebig, wie mancher Soziologe das gerne behauptet; unser familiäres Umfeld ist immer noch eine wichtige Sozialisationsinstanz. Allerdings hat sich der Umgang mit Peergroups verändert. Heute ist die Durchmischung gesellschaftlicher Schichten in der Jugend größer als früher, sind grundlegende kulturelle Präferenzen und Praktiken näher beisammen und Freundeskreise im späteren Leben rekrutieren sich aus einem breiteren gesellschaftlichen Querschnitt, anstatt hauptsächlich aus der eigenen Herkunftsschicht (aus wissenschaftlicher Sicht verkürze ich hier unzulässig, aber das hier ist MEIN Blog, gelle!). Überdies haben sich die Lebenserwartung und die Chancen, sich optisch seine Jugendlichkeit zu bewahren deutlich vergrößert. Womit es nicht wundert, wenn man sich mit 40 eigentlich noch nicht erwachsen fühlt, obschon man doch mit beiden Beinen fest im Leben steht.

Ich mag das Mehr an Optionen, denn so darf ich auch mit 40 noch Stromgitarren mögen. Ein Hinweis auf Beliebigkeit im soziologischen Sinne ist das aber aus meiner Sicht nicht, denn zum einen habe ich sehr wohl ein gefestigtes Set weltanschaulicher Ideen, Normen und Werte; und zum andern muss Beliebigkeit nicht unbedingt mit einer negativen Konnotation einhergehen. Viellicht bedeutet es auch eine größere Wahlfreiheit. Und eine Wahl zu haben ist eines der entscheidenden Kennzeichen von Demokratie, oder? Also bleibe ich BeliebICH… und gehe jetzt ganz dringend was mit Stromgitarren hören.

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