…ja was denn eigentlich? Zeit? Gesellschaft? Kultur? Heimat? In letzter Zeit stelle ich auf Facebook einen verstärkten Trend fest, die eigene Kindheit der 70er zu glorifizieren. Psychologisch ist das einfach zu erfassen: die Kindheit wird als ein Ort begriffen, wo (subjektiv) alles besser war, man musste nicht selbst arbeiten gehen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Man war nicht in so viele andere Verpflichtungen eingebunden und die Welt wirkte zumindest überschaubar. Es lässt sich hier durchaus treffend sagen: das war sie auch, denn wir haben auf Grund der, seinerzeit begrenzten Reichweite der verfügbaren Medien einfach nicht so viel von der Welt mitbekommen.
Was die Überschaubarkeit angeht, haben wir heute echt geschissen; Infos und Meinungen aus aller Herren Länder können sehr leicht gefunden, repliziert, konsumiert aber auch selbst expliziert werden. Das Internet hat in dieser Hinsicht alle Erwartungen übertroffen – auch die negativen. Denn Meinungen finden heutzutage viel schneller sehr viel weitere Verbreitung als Fakten. Sich Tatsachen erarbeiten, sie einordnen und verstehen können, ist mühselig und zeitraubend. Sich eine Meinung zu bilden (oder eine existierende anzueignen) dauert geschätzte 12 Millisekunden; zuzüglich der Zeit, die man braucht, um auf den „Teilen“-Button zu klicken. Wenn es nach mir ginge ginge, gäbe es statt dem „Share“, den „Hate“-Button. Den würde ich viel öfter brauchen.
Wie dem auch sei; mir erschließt sich diese Sehnsucht nach einem Ort, einer Zeit, in der die Dinge einfacher waren. Auch ich muss bei solchen Filmchen und Bilder manchmal lächeln und nicken. Denn eigentlich ist es ein zutiefst menschliches, unschuldiges Gefühl. Doch wenn ich eine Sekunde länger darüber nachdenke, beschleicht mich der Verdacht, dass man diese Emotion auch sehr gut für andere Zwecke instrumentalisieren kann. Die auf Facebook viel geteilte Seite „Weißt du noch“ z. B. gehört dem Axel Springer Verlag; der ist nun weder für seine progressive politische Haltung, noch für Qualitäts-Journalismus bekannt. Was den Verdacht nahelegt, dass durch die emotionale Hintertür eine konservative politische Agenda bedient werden soll.
Es ist dabei für die Macher unbeachtlich, für mich jedoch von pikanter Ironie dass die gesamten 70er hindurch die SPD in der Regierungsverantwortung war. Die Jahre vor dem deutschen Herbst werden als die letzten guten Jahre, die wir je hatten stilisiert, ein Sehnsuchtsraum, den wir nur durch Abkehr von progressiver „linksgrünversiffter“ Politik noch Mal erreichen können. Es geht dabei weniger um die Zeit an sich. Ich bin selbst ein Kind der 70er und hatte eine schöne, weitestenteils unbeschwerte Kindheit. Aber die Verknüpfung von positiver Erinnerung und reaktionärem Weltbild ist für mich äußerst unheilvoll; weil sie durch die Hintertür ein Heimatbild zu festigen versucht, dass als guter Nährboden für Ressentiments, Chauvinismus und Rassismus dienen kann.
Ich denke hier zu weit um die Ecke? Keine Ahnung. Aber dem Axel Springer Verlag trau ich nicht weiter, als ich ein Kioskhäuschen werfen kann und ich bin NICHT Superman. Vielleicht ist es auch nur ein Werbegag eines sterbenden Printmedienfossils. Aber für mich bedeutet es, dass ich mit der Entzauberung unserer Welt durch den Fluch des Erwachsen Werdens zurechtkommen und mir meine eigenen Definition von Heimat erarbeiten muss; und das immer wieder neu. Denn wenn es stimmt, dass „die Heimat da ist, wo das Herz ist“, ist meine Heimat kein bestimmter Ort – und schon gar nicht eine, aller Multikulti´-Aspekte bereinigte Kindheitserinnerung aus dem Hause Springer…
In diesem Sinne eine schöne Restwoche.