In Transit…

Ich habe keine Seemannsbeine. Aber wenn man vom europäischen Festland auf die Insel Irland reisen möchte, bleiben – so man nicht auf Umwege steht – ungefähr zwei Möglichkeiten: Fähre oder Fliegen. Es ist nicht so, dass ich Fliegen per se nicht mag, aber a) isses halt schon arg wenig umweltfreundlich und b) schwierig, den ganzen Schamott ins Handgepäck zu schmuggeln, den meine Mischpoke und ich so im Urlaub mitzuschleifen pflegen. Ohne näher darauf eingehen zu wollen, aber… oft geht die Gepäckraum-Abdeckung nicht mehr zu. Dennoch ist der eigene Wagen für uns die geeignete Lösung. Also saß ich, während ich diese Zeilen schrieb auf dem Oberdeck der “W. B. Yeats” in Diensten von Irish Ferries und blinzelte in die, immer noch kraftvolle Augustsonne – und unsere Karre stand vier Decks tiefer. Die anderen Teile der Familie stromerten irgendwo an Bord umher – wahrscheinlich im Restaurant – und ließen es sich auf individuelle Weise gut gehen, während in der Ferne die Kanalinseln sichtbar wurden. Ich jedoch lümmelte hier unterdessen auf dem Boden rum, wie so ein Bettelstudent, sinnierte über dies und das und schaute Menschen beim Menschsein zu.

Es ist faszinierend, wie der Mikrokosmos Passagierschiff ein bedingungsloses Dazwischen schafft. Denn während wir mit guten 17,5 Knoten eher gemächlich durch den Ärmelkanal pflügten, entfaltete sich überall ein unvermeidliches Panorama des ungefiltert sozialen. Kleine und große Dramen, Liebe, völlige Entkopplung wie auch Hektik können nirgendwo hin; denn über Bord gehen wäre eine sehr krasse und vermutlich endgültige Option. Also lebten alle (zwangsweise) im hier und jetzt. Die mangelhafte Qualität des Bord-WLans trug das ihre dazu bei. Sind Menschen auf sich selbst zurückgeworfen, geschehen mitunter… interessante Dinge. Ich werde jetzt keine Geschichten aus dem Bordrestaurant erzählen. Manche könnten es zwar wert sein, mich interssiert hieran aber vor allem die Metabetrachtung. Denn es warf in mir die Frage auf, wie ich mich gerade fühlte. Vorgestern bin ich noch mit einem Boot durch die Kanäle Brügges gefahren – nun, einen Tag später trug mich ein Schiff durch die See nach Eire. Und wenn ich ehrlich sein soll – es fühlte sich VERDAMMT gut an. Ich möchte behaupten, zum ersten Mal seit Monaten wahrhaftig bei mir selbst gewesen zu sein. Ich zu sein ist nicht immer schön, wie hier bereits sattsam beschrieben wurde. Die Schatten sind noch nicht weg. Aber sie schmerzen weniger. Ein Fortschritt.

Ich hatte erst sehr kürzlich davon gesprochen, dass mein Geld mir (und meinen Lieben) heutzutage vor allem Erlebnisse kauft. Das hier ist so ein Erlebnis. Neue Dinge zu sehen (oder evtl. schon bekannte Dinge neu zu sehen) macht mir mein Leben lebenswert. Ich stelle immer mehr fest, dass ich mich nach mehr Zeit für meine eigenen Ideen, Projekte – mein eigenes Leben – sehne. Vor diesem Hintergrund ist etwas wie das hier eigentlich unbezahlbar; auch, wenn es sicher nicht billig ist. Doch es lässt mich auch – einmal mehr – an der gefährlichen Systemfrage lecken: bin ich wirklich da, wo ich hin will? Mache ich wirklich dass, was ich will? Darauf kann es allerdings keine abschließende Antwort geben, denn… Sind wir nicht dauernd “in transit”? Unterwegs von dem, was eben noch war, hin zu dem, was noch nicht festgeschrieben ist, noch nicht festgeschrieben sein kann, weil es uns stets hinter der Mauer der nächsten Sekunde verborgen liegt? “Panta Rhei” (alles fließt) mag einer der Glückskekse der Philosophie sei ; aber dort und zu der Zeit stimmte er. Für mich. Für alle anderen an Bord der “W. B. Yeats”. Die Fahrt endete, wie geplant und erwartet gegen 10.45 am Montagmorgen in Dublin. Und auch, wenn die eben beschriebenen Prozesse der Veränderung subtiler Natur sein mögen – ICH war nicht mehr der Gleiche, der in Cherbourg abgefahren ist. Denn “in transit” flossen meine Gedanken frei und formten dabei Sein neu… Wir hören uns.

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