Wenn alles was ich tue gerade keinen Sinn zu ergeben scheint – wer bin ich dann?

Keine Sorge, das wird hier keine Selbsthilfe-Kolumne. Auch kein elegischer Abgesang auf die Grabsteine der gestorbenen Träume, die jeder Mensch in einem Hinterkopf herumträgt. Und noch viel weniger ein (neuerlicher) Rant gegen diese verfickte Selbstopimiererei. Es könnte allerdings eine Suche werden. Vielleicht nach neuem Verstehen; das Verstehen und Verständnis im Übrigen zwei grundverschiedene Dinge sind, muss ich hier jetzt hoffentlich niemandem mehr erklären. Wenn ich von Verstehen spreche, meine ich dabei zuerst, sich selbst zu verstehen. Also… zu wissen, wer man ist, was man ist, wo man ist, warum man ist. Dieses typische identitäts-Gefasel halt, dass man eigentlich eher von Teenagern oder jungen Erwachsenen erwarten würde. Die natürlich grundsätzlich erst mal alles Scheiße finden, was die “Alten” gut und richtig finden, einfach, weil die “Alten” die “Alten” sind – weil man sich selbst eben erst mal selbst erproben und herausfinden muss. Und dabei niemals verstehen kann, dass auch die “Alten” erst jung sein mussten, um überhaupt alt werden zu können. Dass wir dabei den selben Scheiß abgezogen haben…? Schwamm drüber…! ICH bin schon verdammt lange kein Teenager mehr. Noch nicht mal ein Twen. Ich bin ein alter Sack. Oder wie der – nicht selten für mich vollkommen debil daher kommende – Gender-Sprech es nennen würde ein “white middle-aged cis-gender guy”. Also known as: “der Teufel”! Der Schuldige am gesanten Leid der Menschheit. Es gibt da nur ein kleines Problem. Ich persönlich diskriminiere und unterdrücke nicht! So ziemlich das Schlimmste, was ich tue ist – zumindest in den Augen meiner jüngeren Kolleg:innen – Dad-Jokes zu reißen; so die richtig flachen, die aufrecht unter einer geschlossenen Tür durchlaufen können. Ich komme manchmal sicher auch mit ungeschickten Formulierungen um die Ecke oder argumentiere auf der Basis meiner Lebenserfahrung, womit manche nicht klarkommen – aber es ist halt MEINE Lebenserfahrung. Ich hatte nicht darum gebeten, 1974 geboren zu werden…

Diese Unart, Menschen anhand ihres Geburtsjahres in Generationen einzuteilen und diesen Generationen jeweils bestimmte Merkmale zuzuschreiben (Stichwort: “Okay Boomer”) ist sowohl sozialwissenschaftlich als auch in meiner Wahrnehmung vollkommener Quatsch. Weder besteht “meine Generation” – nämlich Gen X – aus lauter Königspudeln, die allesamt den Wolf im Schafspelz wählen, noch aus lauter schwarzen Schafen, Scharlacharas oder Halsbandsittichen. Ganz vorne steht immer ein einziges Attribut: “Mensch”! Was halt bedeutet, dass die Streuung innerhalb aller Alterskohorten von Altruist bis zu Arschloch reicht und dabei einmal den Zirkelschlag durch das ganze Alphabet macht. Warum ist es so schwer zu verstehen, was Menschen SO werden lässt und nicht etwa anders. Individuelle Lebensumstände sind nun mal hoch unterschiedlich. Dorfkind vs. Stadtkind? Akademiker vs. Arbeiter? Suburbia vs. Reihenhaussiedlung? Beide Eltern vs. Scheidungskind? Arm vs. Reich? Einzelkind vs. (viele) Geschwister? Auto vs. Fahrrad? Tech-affin vs. traditionell? Progressiv vs. konservativ? Und, und, und…! Und all das ist vollkommen unabhängig vom Geburtsjahr! Was einen Menschen in dieser Zeit, also von den frühern Kindesbeinen bis zur Ablösung vom Elternhaus prägt, lässt sich nicht so leicht abschütteln und bleibt oft ein ganzes Leben lang wirksam. Und dennoch erschaffen wir uns selbst aus all diesen fragmentarischen Erfahrungen, Eindrücken, Beziehungen, Ideen, Normen, Werten und Moralvorstellungen selbst als eigenständige Person – immer und immer wieder neu! Das Sein mag dem Bewusstsein eine grobe Form geben. Die finalen Konturen erschaffen wir immer wieder selbst und legen dabei – Jahr für Jahr, Lage für Lage – den wahren Kern unseres Selbst (wieder) frei. Erst ein bestimmtes Alter erlaubt es uns, wieder so ehrlich zu sprechen, wie der Mund des kleinen Kindes.

Wenn ich über diese Erkenntnis weiter nachdenke, so komme ich nicht umhin, mich noch in jenem Zustand wähnen zu müssen, in dem die Wahrheit mir nicht mit der Leichtigkeit über die Lippen kommt, die oftmals angemessen wäre, weil die Erfordernisse der Diplomatie, insbesondere im Arbeitsalltag schwer wiegen. Und weil so viele Menschen – was mich sicher einschließt – die Wahrheit über sich selbst, ihr Tun und Lassen gelegentlich nur sehr ungerne hören. Ist es bittererweise oft doch so, dass wir mitnichten alles richtig machen, so dass die Wahrheit eine Kritik sein muss! Und damit sind endlich wir bei der Eingangsfrage angelangt. Denn wir neigen allzu oft dazu, uns über unser Tun und Lassen, oder besser gesagt, über unsere Erfolge und Niederlagen definieren zu wollen. Habe ich es gut gemacht und einen Sieg davon getragen, ganz gleich welcher Natur? Oder ist mir doch (wieder) ein Fehler unterlaufen, der für Ärger, Anschuldigungen, Spott, Rückschläge, etc. sorgt? Wenn ich meinen Wert nur darüber zu messen versuche, muss dann die Bilanz meines Lebens nicht zwangsläufig einige Negativposten ausweisen? Denn jeder Mensch, der ehrlich genug zu sich selbst ist, wird zugeben MÜSSEN, dass Fehler unvermeidlich sind. Wir können NICHT immerzu als Sieger vom Platz gehen. Das würde im Übrigen auch dem kategorischen Imperativ wiedersprechen, denn jeder meiner Siege ist eines anderen Menschen Niederlage. Also – warum betrachten wir das ganze Leben überhaupt als Wettbewerb? Warum hat “Karriere” stets etwas damit zu tun, “besser” sein zu müssen als andere. Besser in was? Im Menschsein? Im sozial sein? Oder doch im Arschloch sein?

Was macht MICH zu MIR? Was ist die Essenz meines Lebens? Diese Frage zu beantworten ist weder trivial, noch ist es dumm, diese Frage zu stellen. Natürlich hat das etwas mit der Suche nach dem Sinn der eigenen Existenz zu tun. Auch, weil wir Sinn, Glück und Identität immerzu munter durcheinander werfen. Aber vielleicht wird uns gerade klar, dass der Sinn der eigenen Existenz nicht gemessen werden kann… nicht gemessen werden sollte! Denn alles was ich zu messen versuche, beginne ich automatisch taxonomisch einzuordnen. Und damit einer Vergleichs-, oder Marktlogik zu unterwerfen. Damit ist das hier irgendwie doch ein Rant gegen die Selbstoptimiererei. Denn, wenn die Marktlogik alle Bereiche unseres Lebens durchdringt, kapitalisiert sie damit automatisch alle Bereiche unseres Lebens. Doch meine Identität speist sich – zumindest in meiner Wahrnehmung – auch aus der Freiheit des Denkens, aus einer Spiritualität, deren Grenzen ich selbst definiere, aus meiner Kreativität und dem Wunsch, Menschen beim Wachsen als Menschen zu helfen. Und all das hat mit meinem Job, mit Karriere, mit Konsumkapitalismus überhaupt nichts zu tun. Arbeiten zu gehen ist für mich nur ein Mittel zum Zweck; eine Notwendigkeit, der man nicht entfliehen kann. Jene Dinge, denen man nicht entfliehen kann, muss man erdulden und zeitgleich versuchen, die Bedingungen step by step so zu verändern, bis das Erdulden erträglich geworden ist. Um die Frage von oben für mich zu beantworten: ich bin ein Suchender und ein Gestaltender zugleich, je nachdem, welche dieser Qualitäten gerade mehr gebraucht wird. Denn, wenn gerade alles keinen Sinn mehr zu ergeben scheint, ist es an der Zeit, sich neu zu orientieren und nach neuem Sinn zu suchen; seine Identität neu zu formen. Das Leben wartet niemals darauf, was du als nächstes tun willst. Es schreitet fort, egal, ob du dich bewegst, oder nicht. Also solltest du dich besser bewegen, bevor du selbst bewegt wirst – in Richtungen oder gar an Orte, die dir zur Falle werden können. Schönes Wochenende…

Auch als Podcast…

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