Verzwitschert!

Ich bin, was meine Lesegewohnheiten angeht, irgendwie wohl noch nicht so ganz im 21. Jahrhundert angekommen. Überschriften werden ja oft so formuliert, dass der Informationsgehalt des ganzen Artikels sich auf diese wenigen Schlagworte reduziert. Leider steht dann im Fließtext auch oft genug nicht wirklich mehr, als das, was die Überschrift eh schon ahnen lässt. Diese Verschlagwortung ist übrigens definitiv kein Erbe des Hyperlinks, auch wenn mancher „Fachmann“ gerne so tut, als wenn erst mit dem Siegeszug der elektronischen Indexierung (HTML, die erste weiter verbreitete Webprogrammiersprache wurde entwickelt, um einen Wust von wissenschaftlichen Dokumenten besser durchsuchbar zu machen) der markige Aufmacher zum Signum der Informationsvermittlung geworden wäre. William Randolph Hearst, der erste echte Medientycoon, dessen „Morning Journal“ zur Blaupause der Yellow Press wurde, hat mit dieser – meines Erachtens bis ins Mark unseriösen – Art des Journalismus politischen Einfluss genommen; und das bereits 1898!

Was ich damit sagen wollte ist, dass ich zwar durchaus verschiedenste digitale Publikationen und auch ein paar soziale Medien nutze, aber bei weitem nicht alles, was ich lese, ist digital! Und manche Hypes in und um so genannte New Media nehme ich gar nicht zur Kenntnis, weil bereits die Art der Schlagzeile mich abstößt. Denn „je reißerischer der Aufmacher, desto unbekömmlicher der Inhalt“ als Bewertungsmaßstab hat mich in den vergangenen Jahren noch so gut wie nie in die Irre geführt. Was soll man also in diesem Zusammenhang zum Beispiel von einer Twitternachricht wie „Vegetarier halten sich oft für etwas Besseres“ halten? [Ist allerdings ein Gedächtniszitat, ich gebe also nur sinngemäß wieder, was da stand]

[Exkurs Anfang]
Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate sind zumeist vor allem eines – nämlich aus dem Zusammenhang gerissen und somit ihres Kontextes beraubt. Deshalb sollen Schüler auch immer noch lernen, ihre Aufsätze in ganzen Sätzen zu schreiben, weil Informationen ohne Kontext wie eine Unterhaltung ohne Gestus und Mimik sind. Zumindest ich fände es sehr unnatürlich, wenn mein Gegenüber seine Äußerungen ohne jegliche Regung von sich geben würde. Folgt man Watzlawick, ist das auch gar nicht möglich; wäre es das, würde ich wahrscheinlich aber wohl eher vor Langeweile von dem Geleier einschlafen, als das ich mich fürchtete. Abseits des Unterhaltungswertes ergibt sich aber aus einem Mangel an Subtext- und Kontextinformationen ein noch viel handfesteres Problem, nämlich das quasi vorprogrammierte Missverstehen des jeweiligen Zitates.
[Exkurs Ende]

Das eben Gesagte im Gedächtnis nun zurück zu den Vegetariern, die sich laut Zitat für was Besseres halten. Was mich betrifft, so habe ich zwar beim einen oder anderen sich fleischlos ernährenden Mitbürger schon dezente Missionierungstendenzen ausmachen können. Die bewegten sich bislang aber immer noch im charmanten Bereich. Im Bezug auf was Vegetarier in der Mehrzahl sich also für etwas Besseres halten sollen, weiß ich nicht. Ich kennen jede Menge Menschen, die auf die eine oder andere Art arrogant daher kommen; gelegentlich zu Recht – viel häufiger aber nicht! Ich könnte jetzt allerdings keine Statistik darüber vorlegen, ob mehr Vegetarier darunter sind. Nun könnte man dem Link im Tweet folgen, vielleicht einen Text finden, zusätzlich noch Infos über den Autor und dann wissen, was er tatsächlich gemeint hat. Das machen meiner Erfahrung nach aber die Wenigsten, weil das Thema a) nicht wirklich von weitreichendem gesellschaftlichem Interesse ist, b) das Zitat so wunderbar Vorurteile bedient, dass man gar nicht weiter lesen braucht, um sich in seiner Meinung bestätigt zu sehen, dass Veggis eh alle arrogante Penner sind (zur Rückversicherung: das ist NICHT meine Meinung) und c) da viel zu viel andere Sachen sind, die man auch noch schnell überfliegen muss – womit wir mal wieder bei Häppchen von Opinion-to-go wären.

Ich erlebe die digitale Welt nicht selten als ein Überangebot an Informationen und Meinungen, aus dem die wirklich wichtigen und interessanten herauszufiltern immer schwieriger wird. Und Newsgrabber oder Feedreader, die man auf Schlagworte einstellt, schaffen hier keine Abhilfe. Sicherlich ist das ein Umstand, den man bei der Pluralisierung des Web als demokratischem Ort aushalten muss, doch Relevantes von Müll zu unterscheiden wird dadurch nicht einfacher. Vielleicht ist genau deshalb die Verankerung der eigenen Wahrnehmung in etwas entschleunigteren Medienformaten und deren, von den Kindern der neuen Zeit zugegeben vielleicht als verstaubt wahrgenommenen Sprache etwas Notwendiges; nämlich als Basis für ein tiefer greifendes Verständnis für Zusammenhänge und als Filter gegen Wortschrott. Weshalb zumindest meiner Meinung nach ein humanistisches Bildungsideal keinesfalls schon zum Abraum der Geschichte gehören muss.

Beim Lesen der Klassiker und der Ergründung verschiedenster anderer Wissensgebiete geht es nicht nur um die Geschichten, welche in ihnen erzählt werden, oder die für sich betrachtet nicht allzu spannende Fähigkeit, Integrale berechnen zu können, sondern auch darum, zu lernen wie man Subtext- und Kontextinformationen entschlüsselt und in größeren, Einzelthemen übergreifenden Zusammenhängen denkt. Klingt komisch aus dem Munde von jemandem, der sagt, man kann auf die neuen Fragen nicht immer die alten Antworten geben? Nur vordergründig, denn man lernt auf diese Art ja nicht Antworten auswendig, sondern den Weg, auf dem man alle möglichen Fragen sinnvoll beantworten kann, auch die Neuen; vor allem die Neuen! Und deshalb lese ich jetzt, erstmal in meinem aktuellen Buch weiter. Schönen Tag noch!

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