Immerzu wird ein Europa beschworen, welches es in der Lesart vieler anscheinend zur öffentlichen Äußerung Berufener ja gar nicht gibt; mit der Konsequenz, dass man die Europäische Idee als naiven Unsinn abtut und Lösungen präsentiert, die ein mögliches Gebilde Europa auf DAS reduzieren, was gegenwärtig wohl den allem politischen Tun übergeordneten Metaplot darstellt, nämlich eine ehemalige fiskalische Opportunität, die man nun am Liebsten schnell abwickeln möchte.
Menschen, insbesondere aber die jüngeren Menschen in den einzelnen Nationalstaaten Europas, also jene Generationen, die ein Zeitalter fast grenzenloser Prosperität, dauerhaften Friedens und bislang ungeahnter räumlicher und zu Teilen auch sozialer Freizügigkeit erlebt haben und keine wirkliche Ahnung vom Krieg mehr haben können, stehen plötzlich vor den Scherben eines Konstruktes, dessen größter Fehler in seiner Reduktion auf wirtschaftspolitische Interessen besteht; immer bestanden hat!
Jahr um Jahr hat man sich darauf beschränkt, sich an technokratisch verklausulierten Wischiwaschichkeiten festzubeißen, die so genannte Einheit in Vielfalt beschworen, stets als für den Denkenden allzu durchschaubares Deckmäntelchen für die kompromissfreie, knallharte Durchsetzung nationalstaatlicher, bestenfalls bilateraler Partikularinteressen. Und während man im Vordergrund mit viel Getöse die Freiheit des Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Know-How und Menschen propagierte, saßen in Gremien, welche allesamt mit Steuergeld alimentiert wurden Leute, deren vordringlichste Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass auf dem Grund und Boden dieses oder jenes Staates alles beim Alten bliebe, weil man ja nur selbst die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte.
Nun ist es so, dass es auf Europäischem Grund keinen Nationalstaat gibt, dessen große, zum Zwecke der Patriotismusgenerierung immer wieder beschrieene Geschichte auch nur annähernd soviel historische Substanz hätte, wie man das den jeweiligen Bürgern gerne glauben machen möchte. Deutschland zum Beispiel war vor 150 Jahren ein Flickenteppich aus Dutzenden von Staaten und Stätchen, von denen jeder einzelne aufs Eifersüchtigste für seine Souveränität eintrat, gleich wie insignifikant diese auch gewesen sein mochte. Einen Staat Deutschland, den es zuvor nie gegeben hatte konstruierte man durch die Erschaffung einer nationalen Geschichte, welche den Menschen etwas schenken sollte, womit sie sich identifizieren konnten, nämlich das wilhelminische Kaiserreich mit seinem Militarismus, seinem Rassismus und seinem Kolonialismus als Ordnungsbezug, der Schwaben, Bayern, Thüringer, Sachsen, Badener und wie sie noch alle hießen einen sollte, um zusammen etwas größeres zu sein…
Derartige Verlautbarungen kennen Italiener, Franzosen, Spanier aber sicher auch Norweger Briten und die ganzen Anderen durch ihre nationalen Ideologieepen mit Sicherheit auch. Und gewiss gibt es kulturelle Unterschiede; wenn man unbedingt danach suchen muss, findet man sicher irgendwas hassenswertes an jedem Menschen auf diesem Kontinent. Kultur ist allerdings, wie ich schon des Öfteren erwähnt habe, ein prozessuales Konstrukt, dass sich mit der Zeit und den Menschen ändert, anpasst, schlicht weil es das können muss, sonst würde unser Lebensstil sich zum Beispiel niemals den Wundern der Technik angepasst haben können. Schließlich gehört die Internetnutzung in den entwickelten Staaten heute zu den üblichen Kulturtechniken dazu.
Vielleicht wäre es an der Zeit, Pluralismus und Anpassungsfähigkeit endlich auch als grundlegende Kulturtechniken zu akzeptieren, den Ballast des Althergedachten abzuwerfen, welcher mit Zähnen, Krallen und Geifer von den Wächtern des Tradierens gegen die Zeit verteidigt wird. Gewisse gesellschaftliche Subsysteme, namentlich Bürokratie und Politik – aber nicht nur diese zwei – haben sich teilweise soweit von den Lebensrealitäten der Menschen entfernt, dass es mir schwer fällt zu glauben, dass deren Vertreter fähig sein könnten, wirklich zu erkennen, welches Potential immer noch in der Idee Europa liegt. Sie sehen nur noch Rote Zahlen mit vielen Nullen, die es ihnen nicht erlauben, die Dinge zu verändern; obschon es doch gerade die von ihnen und ihren systemischen Vorfahren selbst verfochtene Linie der Präservierung des Überkommenen war, die uns diesen Schlamassel, dieses Übermaß an Schulden eingebrockt hat.
Wann wird wohl jemand erkennen, das Europa nicht tot ist; es lebt, und zwar mit, in und durch jene, die irgendwann verstehen werden, dass diese Schulden ohne Substanz nur dann eine Last sind, eine Last sein können, wenn man sie anerkennt. Genauso wie Politik nur solange tun und lassen kann was sie möchte, solange die Bürger ihre Legitimität anerkennen.
Wie viel Legitimation kann jemand jetzt noch besitzen, der so sehr in seiner überkommenen Denke gefangen ist, dass ihm die Fähigkeit fehlt, zu verstehen, dass die alten Antworten keine Gültigkeit mehr besitzen können.
Europa wurde einst lediglich als Chance für mehr Wohlstand begriffen. Es wäre an der Zeit, es als Chance für mehr Demokratie zu begreifen.