Schon früh im 20. Jahrhundert stellte Walter Lipmann, einer der profiliertesten Publizisten seiner Zeit in seinem wichtigsten Buch „Public Opinion“ fest, dass man öffentliche Meinung „herstellen“ kann. Er empfand dies als legitimes Mittel, um die weitestgehend unwissende Masse lenken zu können und so die Entscheidungsmacht über die wichtigen gesellschaftlichen Fragen in die Hände der „Richtigen“ zu legen. Er sah diese Aufgabe den gesellschaftlichen Eliten zukommen, da nur sie fähig wären, genug zu wissen und diese Kenntnisse auch korrekt beurteilen zu können, um zu den richtigen Entscheidungen kommen zu können. Wie in den sozialwissenschaftlichen Büchen jener Zeit üblich, kommt der Autor also zu verschiedenen normativen Aussagen; davon abgesehen, dass sich seine Ausführungen auch heute noch erhellend lesen, bleibt festzustellen, dass zum einen manches aus der Zeit gefallen wirkt (was allerdings auch den fast 100 Jahren seit der Entstehung geschuldet ist) und zum anderen die Konklusionen bezüglich der legitimen Manipulierbarkeit der Massen so nicht stehen bleiben dürfen…
Festzustellen wäre zunächst, dass die Möglichkeiten, informiert zu sein sich seit damals erheblich pluralisiert und demokratisiert haben. Es ist heute fast jedem Menschen zuzumuten, sich über dies oder jenes umfassend zu informieren, denn seriöse, weitgehend frei zugängliche Quellen gibt es genug. Auch den Weg dorthin zu finden ist eigentlich gar nicht schwer, doch selbstverständlich bleibt eine Barriere, die es auch schon damals gab nach wie vor bestehen: die Urteilsfähigkeit, oder besser ein Mangel daran. Urteilsfähigkeit setzt nämlich neben Informationen auch die Fähigkeit zur Bewertung derselben durch das Inbezugsetzen zu anderen Kenntnissen voraus. Wissen zu vernetzen, aus Inseln ein Netzwerk unterschiedlichster Kenntnisse und Fähigkeiten auszubilden bedarf einer vielseitigen, nicht allzu fachstrukturierten, nicht zu beliebigen und nicht vollkommen an Verwertbarkeitsinteressen orientierten Bildung. Ja, Bildung ist der Schlüssel zum Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge und der Probleme, die aus ihnen oder in ihnen entstehen können; und damit auch zu ihrer Lösung, denn gemeinsames Verstehen erlaubt überhaupt erst eine sinnvolle Konsensbildung. Man erinnere sich: Politik bedeutet Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen der einzelnen Gesellschaftsgruppen. Kein Verstehen, kein Kompromiss und irgendjemand macht wieder den Weselsky. Der hat auch nichts verstanden.
Ein zweites großes Problem liegt tatsächlich auch in der Pluralisierung nicht nur der Kanäle, sondern auch der Nutzer. Denn das unendlich multiplizierte Rauschen unqualifizierter Scheißewerfer, die alles mit unfundierten Biertischparolen zuspammen macht auch die Wirkung erstklassiger Artikel vollkommen zunichte, weil man sich lieber über die Verlautbarungen der anderen Bürger amüsiert/ärgert, anstatt übe das Thema selbst nachzudenken. Insofern wundert es wenig, dass die Meinungsproduktion nach althergebrachten Mustern immer noch bestens funktioniert. Und so brennen unsere Volksvertreter eine Nebelkerze nach der anderen ab, liefern sich Scheingefechte, debattieren öffentlich über Themen, die zwar die Volkesseele kochen lassen, im politischen Nettowert aber eher unter ferner liefen rangieren und schieben wichtige Entscheidungen außerhalb des Sichtfeldes durch. Nur wer sich die Mühe macht, Bundesdrucksachen aufmerksam zu lesen, findet die wahren Aufreger. Aber das macht ja Arbeit, nicht wahr?
Also gibt sich die dumme Plebs Mühe, die in sie gesetzten Erwartungen, sich ohne Fragen und Einwände durchregieren zu lassen auch zu erfüllen. Da grinst die Bundesmutti. Ihre Züge nebst der Bundesraute entgleisen bestenfalls, wenn Gegenwind aufkommt. Dann wird sie mürrisch und redet von Alternativlosigkeit und anderem Unfug, schlicht weil es keine andere Meinung neben ihrer geben darf. „Bürgerdialog“? Was für eine sinnlose Geldverschwendung, die doch nur wieder davon ablenken soll, wie wenig unser Mitreden als Bürger geduldet ist. NSA-Affäre? Haben wir alles im Griff, sind wie stets auf Kuschelkurs mit den Amis. Überteuerte Rüstungsprojekte? Da hat doch keiner Schuld… Autobahnmaut? Ach was, die EU ist ja nur gut, wenn sie unsere Gesetze respektiert. Rente mit 63? Ist doch super, was regt ihr euch darüber auf, dass man das Geld für anderes sinnvoller einsetzen könnte. Fiskalpolitik bzw. Sparkurs auf Schäuble äh Teufel komm raus? Tja, mir müsset halt spare gell, weil’s halt bisher immer so teuer war, Stimmen zu kaufen. Ach sterbt doch endlich, ihr ewiggestrigen Wirtschaftsdiener!
Super, jetzt habe ich mich wieder in Rage geschrieben. Und wofür? Es denkt doch eh keiner von euch über das nach, was er liest, oder? ODER? Einen Scheißtag noch…