In den über 35 Jahren, seit ich das erste Mal einer Pen’n’Paper-Sitzung beigewohnt habe, hat sich so einiges verändert. Die Art der angebotenen Regelwerke hat sich verändert, vor allem aber deutlich erweitert. Waren es ab Mitte der 1990er zuerst die ganzen Fantasy-Heartbreaker (mehr oder weniger gut identifizierbare Hausregel-Bastarde von D&D, die mit der Verfügbarkeit von Desktop-Publishing auf dem Home-PC aufkamen), fluteten in den 2000ern viele Indy-Systeme auf den Markt, die a) nach neuen Themen abseits der bekannten Topoi suchten und b) andere Herangehensweisen an den Crunch (also die Regeln als solche) suchten. Der Raum, welchen die Regeln einnahmen, wurde schmaler, der Fluff (also die Weltbeschreibungen) nahm dafür mehr Raum ein und auch ungewöhnliche Spielwelten wurden zugänglich. Es wurde damals viel mehr entwicklerische Innovation betrieben, aber deutlich weniger Leute als heute spielten das Spiel. Wenn ich damals versucht habe, jemandem das Spiel zu erklären, der noch keine Ahnung hatte, klang ich immer wie ein Nerd; nun ja, das stimmt ja auch. Man befand sich in einer Nische. Und eigentlich war das auch gut so.
Dann kamen die 2010er. Oft war das Hobby totgesagt worden (was MICH nie besonders gejuckt hat, denn ICH hatte Spaß), aber dann passierten drei Dinge. 2014 kam D&D 5E raus, was zunächst nicht viel änderte. Im März 2015 wurde das erste Mal „Critical Role“ auf Twitch gestreamt (für alle, die das nicht kennen: ihr werdet im Netz rausfinden, was das ist). Im Juli 2016 liefen dann die ersten Episoden von „Stranger Things“ auf Netflix. Und die letzten zwei Dinge haben das Hobby für immer verändert! Denn sie haben eine ganze Generation von neuen Spielern entstehen lassen – und eine verdammt große noch dazu. Letztlich waren es diese zwei Popkultur-Phänomene, die Pen’n’Paper quasi in den Mainstream geholt haben. Das hat aber auch die komplette Wahrnehmung verschiedener Aspekte des Spiels an sich verändert, weil es immer mehr Leute gab, die sich Sessions im Stil von „Critical Role“ mit Stimmen wie von professionellen Voice-Actors wünschten; was SL und Spieler*innen von „Critical Role“ nun mal sind, die meisten anderen incl. mir aber nicht. Sagen wir mal so: es gibt ein paar Ingredenzien, welche eine Pen’n’Paper-Soup zwingend braucht, um Freude zu bereiten – „Doing the Voice“ gehört nicht dazu, „Don’t be an asshole“ aber schon!
Was ich damit meine ist Folgendes: wenn sich ein paar Menschen an einen Tisch setzen, um miteinander Geschichten zu erzählen, dann ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, dass sich alle eine ähnliche Geschichte wünschen und auch an dieser teilzunehmen bereit sind. Also eine, bei der die Prämissen (die Welt, in welcher die Geschichte spielen sollen; der Meta-Plot, welcher dieser Welt Tiefe gibt; schließlich die Core-Story, in welche die Chars verwickelt werden – und die daraus resultierenden möglichen Konzepte für Spieler-Charaktere) allen klar sind – und auch respektiert werden. Sich dann mit einem Char an den Tisch setzen zu wollen, der zu nichts und niemandem passt und nur SEIN DING machen will, wird zwangsläufig für alle Beteiligten zu Problemen führen. Auch Pen’n’Paper lebt von Kompromissen. Ein echtes Problem sind dabei Charaktere, die zwar in der gegebenen Welt funktionieren, letztlich aber darauf ausgelegt sind, allen anderen auf die Nerven zu gehen. Das D&D Dragonlance-Setting hatte eine ganze Spezies, die wie dafür gemacht war: Kender. Es geht aber auch mit anderen Spezies und Konzepten. Ich bin wirklich der Letzte, der irgendjemandem seinen Spaß verbieten möchte – aber ALLE wollen und sollen Spaß haben, das muss man dann einfach akzeptieren. Andernfalls spielt man halt woanders. Denn das Problem hierbei ist nicht der Charakter – sondern der Spieler! Damit ein für alle schönes, erinnerungswürdiges, spaßiges Erlebnis entsteht, müssen die Spieler und die Spielleitung die Charaktere ihrer Mitspieler hinreichend gut mögen können!
Das mag jetzt fast zu platt klingen, um wahr zu sein, aber… Pen’n’Paper ist ein soziales Spiel, welches von der Einhaltung eines sozialen Vertrages innerhalb der Spielerschaft getragen wird, zu welcher selbstverständlich auch die SL gehört! Dieser beinhaltet, allen anderen am Tisch ihren Spaß zu gönnen, ihnen nicht über Gebühr auf den Wecker zu gehen, dem SL wenigstens dann und wann die Chance einzuräumen, eine zur Situation passende STIMMUNG aufzubauen, nicht alles mit einem Witzchen oder einer Anekdote zu dekonstruieren – und insgesamt zu versuchen, ein wenig (mehr) in die dargebotene Welt einzutauchen. Denn ICH mache das wirklich wegen der Immersion. Ich will andere Welten in meinem Kopf sehen dürfen! Die, in der ich real lebe ist mir nämlich manchmal viel zu Depressions-förderlich (ich verweise hierzu auf andere Posts in diesem Blog, welche sich NICHT mit Pen’n’Paper befassen)! Ich möchte dazu all meine Sinne benutzen und auch in meinen Spielern ansprechen. Was mir nicht immer leicht gemacht wird. Schwamm drüber. Ich habe viele verschiedene Spielstile erlebt und selbst durchlaufen, von den SL meiner Anfangszeit, die eher wie Gegner der Chars agiert haben (incl. meiner selbst) hin zu einem kollaborativen Erzählen, welches die Herausforderungen in den Hintergrund gestellt hat – und schließlich heute zu einer, immer schwierig auszutarierenden Balance zwischen den beiden Extrempolen.
Mit dem Spiel als solchem haben sich auch die individuelle Wahrnehmung meines Tuns und meine eigenen Wünsche an das Spielerlebnis verändert; ein vollkommen normaler Prozess, der einerseits meiner (hoffentlich) gewachsenen persönlichen Reife geschuldet ist und andererseits natürlich sich verändernden interessen. Dass ich dem Hobby so lange treu geblieben bin, ist aus meiner Sicht Beweis genug, wie viel Wandlungsfähigkeit darin steckt. Ich bin im Herzen eben schon immer ein Geschichtenerzähler gewesen. Und ich gebe mir immer Mühe, die Chars meiner Spieler*innen gern zu haben, auch, wenn es nicht immer leicht fällt. Wenn sich alle darauf einlassen, dass es eine GEMEINSAM erzählte Geschichte werden soll, ist die halbe Miete schon drin. In diesem Sinne – don’t be an asshole while always gaming on!