Der verwirrte Spielleiter #19 – Mercer-Effekt?

Lasst uns mal über Erwartungen reden. Also… ich meine jetzt nicht Erwartungen im allgemeinen, an das Leben, an den Job, an die Beziehung, sondern einfach nur an das Rollenspiel. Die vorgenannten, oder besser, deren Erfüllung oder Nichterfüllung haben mit Sicherheit einen messbaren Effekt auf unsere Lebensqualität; wobei ich zu wissen glaube, dass viel zu viele Menschen viel zu hohe Erwartungen an diese Aspekte ihres Daseins haben. Und da kommt beim Rollenspiel der Mercer-Effekt zum Tragen. Oder hätte ich besser „ins Spiel“ gesagt…? [Und ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass Rollenspiel sehr wohl auch einen mess- oder besser fühlbaren Effekt auf MEINE Lebensqualität hat; zumindest, wenn es stattfindet und nicht vollkommen öde daher kommt…]

Also: Matt Mercer ist der SL von „Critical Role“. Die spielen D&D und streamen das im Netz. Mit dem Erfolg, dass ziemlich viele Leute sich das ansehen und denken, dass D&D genau so gespielt werden sollte, weil die Show in der Tat ganz unterhaltsam ist. Und diese Wirkung, die sich insbesondere bei jungen Wannabe-D&D-Spielern an den Spieltisch fortpflanzt, an dem sie dann irgendwann landen, nennen wir „Mercer-Effect„. Wobei Matt selbst das gar nicht so gut findet, wie er in dem hier verlinkten Post auf Reddit einem anderen SL erklärt. Das ändert jedoch erst mal nichts daran, dass es passiert. Und das man sich darauf gefasst machen sollte, dass es einen auch mal am eigenen Spieltisch erwischt.

Ganz ehrlich – ich verstehe nicht, wie man sich Critical Role über mehr als eine Folge anschauen kann. Ich meine, ja, die Leutchen da am Tisch sind schon recht unterhaltsam. Das ist eine Folge „Carnival Row“, „Patriot“, „Sherlock“, etc. allerdings auch. Und das ziemlich mühelos. Denn ich kann mich in die Geschichte involvieren, aber ich muss nicht. Oder anders gesagt, es ist passiver Konsum, der mit echter Immersion am Spieltisch nix zu tun hat. Übrigens hat auch „Critical Role“ an sich nix mit echter Immersion am Spieltisch zu tun. Denn die Leute am Tisch sind sich ja bewusst, dass sie eine Show für andere abliefern. Es ist also ein Schauspiel, welches Rollenspiel simuliert. Scheiße, ich bin mir sicher, da könnte ein Jünger Derridas eine schöne Dekonstruktion rausarbeiten.

Ich habe das eine oder andere Mal schon über das Thema Spielstil gesprochen. Und vor allem darüber, dass dieser individuell sehr unterschiedlich sein kann. Generell etabliert sich aber im Laufe der Zeit bei jeder regelmäßigen Runde eine Art übergeordneter Grundton, der sich aus dem gemeinsamen Spiel ergibt, allerdings auch reziprok wieder auf die Spieler zurückwirkt. Dieser Prozess braucht Zeit, manchmal Moderation und führt immer wieder zu variierenden Resultaten. Dieses Wissen im Hinterkopf ist MIR klar, dass irgendwelche Newbies mit ’ner Online-Show als Kopfkino ganz schnell an ihren Erwartungen scheitern werden. Mal davon ab, dass ich den meisten ein sattes Vierteljahrhundert Erfahrung voraus habe. Und Erfahrung ist auch beim Pen’n’Paper durch nichts zu ersetzen; außer, durch noch mehr Erfahrung…

Nun ist allerdings ein anderer Aspekt des „Mercer-Effect“, dass dieser, zumindest in den Staaten, haufenweise neue Spieler ins Hobby rekrutiert. Aber auch hier in Good Old Germany merkt man’s ein bisschen. Und das finde ich wiederum gut. Denn in den letzten 30 Jahren hatte ich immer wieder das Gefühl, dass mein Hobby N°1 gerade im Sterben liegt und jetzt leise weinend zu Grabe getragen werden müsste. Diese Ahnung hat sich bis heute nicht erfüllt; und jetzt stehen die Chancen gut, dass das auch nie der Fall sein wird, bevor ich zu alt und zu grau zum Zocken bin… wann auch immer DAS sein soll?

Veteranen beklagen manchmal, dass die ganzen Neulinge das Spiel verändern würden, das lieb gewonnene Traditionen sterben würden, etc. Die neuen Traditionen, welche grade im Entstehen begriffen sind, entgehen ihnen dabei möglicherweise. Das Spiel ist, wie jede andere Kulturpraxis auch, schon immer Veränderungen unterworfen gewesen. Nicht alle waren gut, nicht alle waren böse. Allerdings bei einem Hobby, mit dem der eine oder andere einfach nur stabil sein Geld verdienen will, von zu viel Kommerzialisierung zu sprechen, ist echt ein Witz. Ebenso, wie übrigens dieses ganze Rollenspiel-Theorie-Geschwafel von Möchtegern-wichtigen Ober-Soziologen. Vielen Leuten, die derart über das Spiel theoretisieren, was ich im Übrigen in meiner stillen Kammer auch gelegentlich tue, entgeht dabei nämlich der wichtigste Aspekt – es so hinbekommen zu wollen, dass möglichst alle am Spieltisch Spaß haben!

Was auch immer ihr also darüber denken mögt, vergesst bitte vor lauter „Critical Role“ kucken und Porum-Posts schreiben nicht das Entscheidende – always game on!

Auch zum Hören…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert