Fordernder…?

Nach meinem Aufruf zur Genügsamkeit im sozialen, aber vielleicht auch im wirtschaftlichen Umgang kann ich nicht umhin, nun auch den Gegenpart zu thematisieren. Wir Menschen sind als Wesen immer dualistisch angelegt. Das bedeutet, dass Widersprüche und Gegensätze stets Teil unserer Natur sind. Wir sind sozial, aber auch egoistisch. Wir sind stark, aber auch schwach. Wir herrschen und wir folgen. Oft sind diese Gegensätze so stark, so polarisierend, dass die daraus resultierende Spannung nicht aufgelöst werden kann, oder eines von beiden Prinzipien so dominant, dass es das andere verdrängt. Beide Konstellationen können uns ein Leben lang immer wieder in Probleme stürzen.

Wir können uns dem leider nicht entziehen. Und so ist man zumindest ab und an gezwungen, Entscheidungen zu treffen und dann auch durchzusetzen, die einem überhaupt keinen Spaß machen. Nun ist das Leben zwar ein Ponyhof, doch nirgendwo stand geschrieben, dass alle Ponys nett sein müssten. Im Privaten manifestieren sich solche Problem-Szenarien zumeist in unseren Beziehungen. Darauf will ich hier nicht eingehen, da ich vieles sein kann; als Beziehungsratgeber bin ich jedoch mutmaßlich nicht geeignet. Aber auch im Beruflichen kann einem so etwas passieren. Und genau da stehe ich im Moment gerade…

Wer schon mal in einer komplexeren Organisation tätig war, kennt das: es gibt Grüppchen, Seilschaften, Verbände und dazwischen ein unsichtbares Netz aus altem Scheiß. Freundschaften, Verbindlichkeiten, Sympathien. Aber eben auch Unausgesprochenes, Kränkungen, Widerspruch bis hin zur Animosität. Kommt man da quasi neu hinein, ist es anfangs manchmal wie Pogo-Hüpfen im Minenfeld. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis du den ersten Volltreffer landest. Manche Auswirkungen sind peinlich, manche amüsant; aber manche können auch alles in Frage stellen, was du zu wissen glaubst.

Ich bin, wie schon des Öfteren erwähnt, ein neugieriges Wesen. ich habe gerne das ganze Bild. Doch dazu muss man sich erst einmal mit allen unterhalten. Mit manchen kommt man leichter ins Gespräch, mit anderen weniger leicht. Doch das ändert nichts am Kommunikationsbedarf, wenn man manche Fallen von vornherein entschärfen möchte. Ich darf sagen, dass meine Trefferquote hier mittelprächtig ist. So, wie bei den meisten anderen auch. Allerdings bin ich geduldiger (vielleicht auch leidensfähiger) als viele andere. Mag am Alter liegen. Und ich habe gelernt, dass es einen bestimmten Punkt, ab dem wir uns an unsere (Er)Kenntnisse zu krallen beginnen, weil uns das eine gefühlte Sicherheit im Umgang mit dem Unbill des Alltags gibt. Das ist der Punkt an dem gefühlte Wahrheit zum Dogma wird.

Das Dogma ist immunisierte Überzeugung (gut zu beobachten bei AfD-Anhängern oder machen Gläubigen). Es gibt uns das recht, so zu tun, wie wir tun. Egal, ob wir damit objektiv Recht haben, oder auch nicht. Man neigt dazu, Menschen, die man gut leiden kann so etwas lange nachzusehen. Aber nicht unendlich lang. Irgendwann kommt der Punkt, da das eigene Autonomie-Bestreben sich des Kategorischen Imperativs erinnert und beginnt, Dinge zu fordern. Doch wie fordernd kann bzw. darf ich werden?

Es ist eine Gratwanderung; wie so vieles andere im Leben auch. Unsere Existenz ist nie ein gerader Fluss und wenn mich das Leben erwas gelehrt hat, dann, dass ich das Unerwartete erwarten muss und das Erfahrung etwas ist, das man hat, fünf Minuten nachdem man es gebraucht hätte. Nach allem, was ich in der letzten Zeit erlebt habe, stehe ich jetzt an dem Punkt, an dem ich fordernder werden MUSS. Also werde ich fordern. Und bei Nichterfüllung meine Konsequenzen ziehen. Das Leben ist zu kurz zum Warten!

Habt eine schöne Woche…

Genügsamer…?

Manche Geschichten erzählen davon, dass man mit dem Voranschreiten des Alters ein höheres Maß an Genügsamkeit erlangen würde. Das ist natürlich Käse, weil das Prinzip „One-Size-Fits-All“ in der Sozialpsychologie genauso wenig funktioniert, wie beim Klamottenkauf. Und überhaupt muss man erst mal fragen – vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen Begriffe, die sich dahinter eigentlich verbergen – auf welchem Genügsamkeits-Sektor wir uns gerade bewegen. Ich persönlich bin z. B. sehr einfach gestrickt, wenn es um meine Ansprüche an ein Ferien-Apartment geht: ’n Platz zum kochen, essen, schlafen und abends gemütlich sitzen. Vielleicht ein Pool, wenn ich im Sommer unterwegs bin und das Meer nicht nah genug. Das wär’s auch schon.

Geht es indes um sprachliche und inhaltliche Präzision, insbesondere bei Sachthemen von Interesse, bin ich alles andere als genügsam. Da will ich es genau wissen, will verstehen, was mein Gegenüber bewegt, warum manche Sachverhalte so sind, aber nicht anders, wie es zu gewissen Entscheidungen kommt und wie man Prozesse beschreiben kann; weil ich den einen oder anderen gerne verbessern würde.

Das klingt jetzt vielleicht zunächst ganz arg schlimm nach Arbeit, nach einer Verletzung der Work-Life-Balance ( nach längerem Nachdenken mein ganz persönliches Unwort des Jahrzehnts, direkt gefolgt von „Umvolkung“ und „digital natives“ – man kann Völker nicht umtopfen und ein Mensch bleibt auch bei 22h Social-Media-Konsum pro Tag am Ende immer noch ein soziales Wesen). Ist es aber nicht.

Meine Arbeit und mein Privatleben haben immer miteinander zu tun, weil ich Befindlichkeiten nicht so einfach am Schichtende ablegen kann, wie meine persönliche Schutzausrüstung. Weil Kollegen oft genug auch Freunde sind oder umgekehrt dazu werden. Weil ich viel Zeit bei der Arbeit verbringe und daraus notwendigerweise ein Bedürfnis nach etwas Harmonie an diesem Ort entsteht. Zumal Arbeit auch in meinem Gewerk nicht zwingend einen Ort hat, an den sie gekoppelt ist.

Immer wieder neu ringe ich also um Effizienz und Effektivität. Ich versuche stets, meine Zeit bewusst in das Private und das Berufliche zu trennen, wohl wissend, dass der versuch gelegentlich scheitert. Nicht etwa, weil ich ein Workaholic wäre (das hätte mein Chef vielleicht gerne), sondern, weil ich ein Mensch bin, der menschlich handelt. Humanität ist nun zwar kein Merkmal des Gesundheitswesens , in welchem ich tätig bin – wohl aber ist sie ein Merkmal von mir. Eines, das zu bewahren ich immer wieder zu Kraftakten aufgefordert bin, in dieser Welt, in der die Humanitas kein Asset von Wert ist, für das man irgendwas eintauschen kann.

Im Gegenteil ist sie ein Wert an sich, der unhinterfragbar, unhintergehbar Kompass meines Tuns sein soll; auch wenn ich manchmal vom diesem Kurs abweiche, so wie Menschen das eben tun. Doch wie kommt man von der Genügsamkeit zur Humanität? Ganz einfach, indem man sich den Aspekt der Bescheidenheit und des Verzichts zugunsten Anderer ins Gedächtnis ruft. In dem Moment wird klar, dass wir alle dazu aufgerufen sind – unabhängig vom Alter – uns dann und wann in Genügsamkeit zu üben. Denn das, was wir uns versagen, kommt in aller Regel zu uns zurück. Vielleicht auf Umwegen. Aber Karma ist, genau wie Erziehung ein Bumerang.

Bevor man Genügsamkeit also als Schwachsinn für die Schwachen abtut, jene, die ihre Ellbogen zu benutzen nicht ausreichend erlernt zu haben scheinen, sollte ich mich fragen, ganz bewusst bedenken, was dieser Verzicht für mich nun bedeutet. Und zwar jetzt. Und dann in ein paar Wochen. Und dann in ein paar Monaten. Und so weiter… Nicht in allen Dingen ist Genügsamkeit gut. es gibt auch bereiche, in denen ich fordern muss. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Bis dahin alles Gute.

Schreibwut?

Man kann ja immer damit hadern, dass man nicht bekommt, was man sich wünscht. Oft genug geht es dabei nur um materielle Dinge. Ich wünschte, ich könnte mir dieses leisten, jenes kaufen, hierhin reisen, dorthin fahren, noch dieses Event mitnehmen, etc. Wer jetzt glaubt, dass ich diese Tatsache geißeln möchte – ein klares NEIN. Will ich nicht, denn wer ohne Sünde ist, und so weiter… So gern ich mir das einreden würde; ich bin nicht frei von solchen, allzu geschickt durch Werbung und Mundpropaganda geschürten, durch Neid und Gier entstandenen Bedürfnissen. Immerhin bin ich ein Zivilisationskind.

Müßig wäre es, darüber zu debattieren, ob ich diesbezüglich besser werden kann. Ich versuche es (mehr kann ein Mensch kaum tun), mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Und tatsächlich stelle ich manchmal fest, dass kleine Erfolge, oft gar nicht mit Geld beschafft, meinem Leben Antrieb geben, so wie meine Beziehungen meiner Existenz ein (gefühlt) stabiles Fundament verschaffen.

So habe ich zum Beispiel wieder mit dem Schreiben angefangen. Nein, ich meine nicht mein Blog hier, den ich ja seit einiger Zeit wieder mit größerer Regelmäßigkeit pflege (und die letzten Wochen eben nicht). Ich meine damit mein belletristisches Tun, welches immerhin schon die Co-Autorschaft von sechs Büchern erzeugt hat. Und die nächsten Werke sind nun endlich in der Pipeline. Es hat lang gedauert, die Lust wiederzufinden, denn bloggen und Romane schreiben sind tatsächlich zwei grundverschiedene Dinge. Aber letztlich hat meine Lust auf’s Geschichten erzählen dann doch über meinen inneren Schweinehund gewonnen. Womit auch der Grund für meine geringe Tätigkeit hier erklärt wäre. Denn wenn ein Knoten geplatzt ist, muss man den Flow mitnehmen, so lange er anhält.

Ich glaube, jetzt wieder in stabilerem Fahrwasser zu sein, aber sicher ist man da als Autor nie. Im Übrigen geht es meinem lieben Freund, Co-Autor und Co-Verleger Claus ganz genauso. Auch er ist in einer anhaltenden Schaffensphase und nagt wahrscheinlich genauso wie ich an den Nägeln, wenn er daran denkt, dass es wieder vorbei sein kann. So lange also das Mana fließt, widme ich mich lieber dem einen oder anderen Buchprojekt, als hier allzu viel Energie drein zu geben. Dafür bitte ich um Verständnis. Wenn’s mich allzu sehr juckt, werde ich auch Dinge zum Besten (oder Schlechtesten) geben, die hier aus meinem Kopf wollen. Man liest sich also…

Simplify your workload!

Tja, da sind doch glatt schon wieder zwei Wochen ins Land gegangen. Und eine davon sogar mit arbeiten. Aber eigentlich kann ich mich nicht beklagen, immerhin scheint die Erholung des vergangenen Urlaubes immer noch halbwegs entspannend auf mein Gemüt zu wirken. Anders lässt es sich kaum erklären, dass ich die üblichen Anfechtungen durch Familie und  Arbeitswelt bislang einfach wegatmen konnte. Es mag aber auch daran liegen, dass ich gelegentlich fatalistische Episoden habe (vielleicht sind die auch pragmatisch, der Unterschied hängt ja eher vom Standpunkt ab und ich finde Re-Framing gut). Die Dinge sind halt manchmal, wie sie sind…

Nun schrieb ich hier, dass es in mir gerade mal wieder so einen gewissen Drang nach einem einfacheren Leben gibt. Und dass ich mal darüber meditieren müsste, wie das mit dem Entschlacken bei der Arbeit funktionieren könnte. Grundsätzlich sind wir ja soziale Wesen, d. h. miteinander arbeiten liegt in unserer Natur. Aber doch nicht mit jedem, oder? Man muss auf Arbeit immer mal wieder feststellen, dass es Kollegen gibt und Kollegoide. Diese Letztgenannten sind dadurch gekennzeichnet, dass sie am gleichen Ort arbeiten, vielleicht sogar an den gleichen Dingen, dabei aber immer zuerst an ihr eigenes Fort-Kommen oder wenigstes Gut-Weg-Kommen denken. Nix gegen Egoismus, den kultiviere ich auch gelegentlich. Allerdings versuche ich die Kollateralschäden an anderer Leute Interessen dabei zu minimieren. Dem Kollegoiden jedoch ist das schnurz!

Hat man nun solche Menschen um sich, die das Angebot, ab und an mal ihre Probleme zu meinen machen zu dürfen (als Ausbilder ist man halt Trouble-Shooter) gerne und vor allem oft annehmen, kann ich das eine ganze Weile weglächeln. Wenigstens einer hat ja auch eine Berechtigung, mir regelmäßig einen Eimer Arbeit auf den Schreibtisch zu kippen – mein Boss. immerhin kriege ich Geld dafür. Mancher Kollegoide versteht das jedoch als Einladung, sein Zeug einfach daneben zu leeren. Und das mag ich nicht.

Oft passiert sowas subtil; dann ist mein Stammhirn schneller mit einem „JA, mache ich!“ bei der Hand, als es gesund wäre. Insgesamt jedoch werde ich langsam immer besser darin, Dinge zurück zu delegieren. Schlicht weil mir für manches die Zeit, für manches die Expertise und für vieles das Verständnis fehlt. Ein Arbeitsplatz ist ja auch ein Lernort, an dem man durch Erfahrung und Reflexion besser werden kann (nicht muss – das hängt davon ab, ob man lernwillig ist!) Und so will ich jetzt, wenn vermutlich auch mit etwas Mühe, lernen, wie man freundlich aber entschieden „NEIN!“ sagt. Ich unterrichte euch dann in einiger Zeit, wie’s gelaufen ist. Bis dahin, macht’s mal gut.

Entschlacken…?

Bevor jetzt irgendwer glaubt, ich hätte was mit Detoxen am Hut – schämt euch. Diäten sind was für Politiker. Auch dieses Entschlacken durch Heilfasten, also irgendwie der Ur-Ur-Ahn des Detoxens ist nicht meins. Nicht, weil weniger (Essen) nicht manchmal mehr (Gesundheit) ist; sondern weil ich immer noch zu oft eine disziplinlose Genuss-Hure bin. Hat halt jeder so sein Bündel zu tragen.

Ich meine mit Entschlacken eher so dieses Entrümpeln des Lebens. Jedes Mal, wenn ich durch alte Blogposts skimme, stelle ich – durchaus mit ein bisschen Wehmut – fest, dass das Reisen an andere Orte (OK, meistens die Toskana…) in mir den Wunsch nach dem einfachen Leben entfacht. Jedes Mal auf’s Neue. Und was passiert dann jedes Mal daheim? Genau! Nix! Nicht nur wegen der eben angesprochenen Disziplin-Geschichte, sondern vor allem, weil ich nicht alleine auf der Welt bin. Und meinen Lieben ist es schwer zu vermitteln, dass mir ein Zimmer mit drei Möbelstücken ohne jedweden Püschel und Tüschel eigentlich ganz gut gefällt. Das Funktionalität und Design mit klaren Linien seit der Bauhaus-Schule durchaus zusammen gehen.

Soll jetzt kein Lamento, kein Vorwurf und auch keine Entschuldigung sein. Einer Fünfjährigen ist Minimalismus nur eben so schwer zu vermitteln, wie Bedürfnisverzicht. Viel Spaß beim Versuch. Unabhängig davon, gibt es neben „Deko“ im Wohnraum auch noch Ausstattungs-Artikel, von denen man sich ziemlich abhängig machen kann. Z. B. ein Boston-Shaker. Aber ich schweife ab.

Was ist denn das nun, dieses eben genannte, einfache Leben? Will ich mich ab jetzt am „Simplify-Prinzip“ orientieren? Oder doch lieber am Dalai Lama? Oder an sonst welchen Ratgeber-Büchern, bei denen ich mich tief in meinem Innern eigentlich immer frage, ob die Einnahmen das Leben der Autoren und Verleger tatsächlich einfacher machen? Ich habe ehrlich keine Ahnung, was der Begriff für andere meint. Für mich jedoch ist er ganz einfach zu erklären: Klarheit über den gewinnen, der ich bin und das, was ich will. OK, einfache Worte und so viel Probleme. Denn genau an diesen simplen Fragen verzweifelten schon ganze Generationen.

Ich weiß nur so viel: zu viel stofflicher Ballast wird mir mit jedem Jahr meines Lebens lästiger; ja sogar beinahe quälend. Und ich werfe schon jedes Mal beim Renovieren und anderen Gelegenheiten viele, große Müllsäcke voll Schlacke weg, die sich als Sediment über 20-jährigen Bewohnens vermutlich  in jeder Behausung zwangsläufig „absetzen“. Zumeist an Orten, die dafür nie vorgesehen waren. Und selbst das Ergreifen von Ordnungsmaßnahmen als Bastion gegen den Tand erweist sich als schwache Krücke; werden diese doch regelmäßig von mir und meinen Mitbewohnern unterlaufen.

Was bleibt also vom „einfachen Leben“? Für mich das Bewusstsein, dass es auch mit weniger geht und dass es auch ganz langsam weniger wird. Ist wie mit Diäten. Der ganze Radikal-Kram wirkt sowieso nie. Friss die Hälfte und bewege dich mehr funktioniert auf lange Sicht immer noch am Besten. Und genauso versuche ich es mit Tand. Ich frage mich mittlerweile bei vielen Dingen so lange, ob ich das wirklich brauche, bis es keinen Spaß mehr macht, dran zu denken. Dann unterlasse ich unnötigen Konsum fast automatisch.

Demnächst muss ich noch über diese Strategie gegenüber Menschoiden und Kollegoiden meditieren.  Wird bestimmt interessant…

Das Leid Kultur #03 – Bildung

Es gehört zum guten Ton, den allgemeinen Verfall der Sitten und des guten Geistes in den nachfolgenden Generationen zu beklagen – und das ungefähr seit Platons Zeiten. Ist schon ein paar Tage her (so runde 2440 Jahre), was bedeutet, dass wir heute eigentlich in sittenfreien,  gewalttätigem, alles umfassendem Chaos leben müssten; wenn wir es dieser Deutung nach nicht schon lange geschafft haben müssten, uns selbst vollkommen auszulöschen. Nun ja, das mit dem Auslöschen werden die „Führer“ unserer Welt in ihrer Propaganda- und Dogma-umnebelten Arroganz schon noch irgendwann besorgen…

Was nun jedoch die Sitten angeht, so scheinen diese, wenn in ihrem Ausdruck auch einem steten Wandel unterworfen doch einen Kern zu wahren, der mehr oder weniger unhinterfragbar über allen Menschen thront. „Du sollst nicht töten“ ist so ein Grundsatz, den keiner ernsthaft anzweifelt (jene, die ihn verletzten, tun das entweder im Bewusstsein der Verwerflichkeit ihrer Tat, oder entwickeln später das dazugehörende Schuldgefühl – Ausnahmen nennen wir Soziopathen. Und echte Soziopathen sind selten!). Aber rings um die Zehn Gebote ist im Zeitenlauf ein Kanon von Wissen, Erfahrung und auch Kunst als Ausdruck dieser Errungenschaften entstanden, dessen Destillat wir gemeinhin als Basis unserer Kultur verstehen.

Ich hatte bereits gesagt, dass Kultur in ihren Verkehrs- Ausdrucksformen sehr wohl steten Veränderungen unterworfen ist, weil wir Menschen sehr wohl auf verschiedenste Weisen mit unserer Kultur interagieren. Allerdings gibt es einen Kern, um den herum sich unser Tun und Lassen, unser Bemühen und Prokrastinieren, unser Erschaffen und Vernichten gruppiert. Diese Aussage und die der Veränderlichkeit stehen nicht im Widerspruch – denn so wie ich ein immer gleiches Samenkorn im Acker ausbringe, wachsen immer neue, jedoch einander nie gleiche Pflanzen daraus. Man muss Kultur als etwas lebendiges verstehen, dass sich dauernd erneuert.

Was zur Diskussion steht ist die Frage, wie groß dieser Nukleus unserer Kultur sein soll. Aus dieser Spannung stammt die Frage, was wir als Allgemeinbildung betrachten; und was als überflüssig, nicht allgemein gültig, eventuell sogar falsch. Immer mal wieder wirft jemand seine Definition von Allgemeinbildung in den Raum und erklärt sie für gültig. Meist finden sich in diesen Antologien durchaus bedeutende Errungenschaften der Kunst, Philosophie, oder sagen wir der Wissenschaften allgemein. Kenntnisse, welche der jeweilige Autor als unerlässlich für das Funktionieren unserer Kultur erachten.

Womit wir wieder beim Dogmatismus und der Lei(d/t)kultur wären, über deren Deutungshoheit hier gestritten wird. Denn durch Inkludieren oder Auslassen von Diesem oder Jenem kann ich das Verständnis der „eigenen“ Kultur durchaus manipulieren. Vielleicht nicht gleich; aber nehmen wir mal an, dass ich heute aufhöre, die Evolutionstheorie zu unterrichten. wie lange würde es wohl dauern, bis Darwin reines Spezialistenwissen wäre, was unser Verständnis von Naturzusammenhängen nachhaltig verändern würde. Hört irgendwer die Kreationisten rufen? Die Hoheit über die Bildung, speziell die Allgemeinbildung ist eine Machtfrage. Macht, nach der bei weitem nicht nur lautere Kräfte streben. Wo wären wir heute, wenn Holocaust-Leugner es auf den Stundenplan geschafft hätten…?

Ich werde mittlerweile immer misstrauisch, wenn es um diese Diskussion geht, denn viele Interessen treffen hier aufeinander. Meines wäre, dass sich am besten jeder dieser Probleme bewusst wäre.  Schönen Tag noch!

Ein verdammtes Jahr…

Immer dann, wenn Probleme auftauchen, für deren Lösung eigentlich ein Paradigmenwechsel notwendig wäre, graben Politiker in der Mottenkiste und fördern mit tödlicher Sicherheit einen Wiedergänger zutage, dessen Existenz alle besser vergessen hätten. Im Moment zum Beispiel gibt es Probleme mit ausreichender Personaldecke in der Pflege und bei der Bundeswehr. Ist ja nix neues. Nun kommt die junge Union mit einem „Gesellschaftsjahr“ um die Ecke, also der Idee einer Verpflichtung aller Schulabgänger, ein Jahr lang entweder Wehrdienst zu leisten, oder im Sozial- und Gesundheitswesen tätig zu werden. Also im Endeffekt eine Neuauflage des Wehr/Zivildienstes, wie wir ihn bis 2011 Jahrzehntelang gehabt hatten. Echt innovativ…

Die Aussetzung der Wehrpflicht wurde damals u.A. auch mit mangelhafter Wehrgerechtigkeit begründet (nur noch ein kleiner Teil jeder Alterskohorte wurde tatsächlich dienstverpflichtet, was natürlich der Gleichstellungsidee widersprach). Nun möchte man jeden – und vor allem auch jede – verpflichten, entweder bei der Bundeswehr oder im Sozial- und Gesundheitswesen tätig zu werden. Kontroversen waren ja zu erwarten, aber die Diskussionen unter diesem Artikel sind schon haarsträubend. Daher wäre es vielleicht sinnvoll, die Argumente mal kurz zu analysieren:

Die Initiatoren des Vorschlages erhoffen sich ein mehr an gesellschaftlichem Zusammenhalt, wenn das Arbeiterkind und das Managerkind mal zusammen durch den Dreck robben müssen.  Man denkt, dass gemeinschaftliches Tun in mehr Solidarität, mehr sozialer Kohärenz münden würde. Sozialpsychologisch ist diese Ansicht fragwürdig, da Altruismus z.B. nicht erzeugt werden kann.  Man könnte unterstellen, dass tatsächlich der Wunsch nach einer weniger segregierten und fragementierten Gesellschaft als Motiv Pate stand, doch ich habe ob der offenkundigen Naivität einer solchen Strategie meine Zweifel, würde es doch zumindest ein sehr verkürztes Verständnis für soziale Zusammenhänge offenbaren. Und es wäre doch schade, wenn Politiker so einfach dächten, oder? Ach Moment, ich habe den Söder und den Seehofer vergessen…

Tatsächlich liegt der Verdacht nahe, dass rein ökonomische Gründe für diesen Sommerloch-Füller vorliegen: man möchte Personal-Lücken billig füllen. Und dagegen sprechen in der Tat viele Gründe:

  • Für die meisten Tätigkeiten im Gesundheits- und Sozialwesen bedarf es einer Ausbildung, die länger dauert, als das gesamte „Gesellschaftsjahr“ lang wäre. Man müsste also entweder die jungen Leute nach Crashkursen monatelang mit Hiwi-Tätigkeiten langweilen, oder den Zeitraum über mehr als ein Jahr ausdehnen. Nur wenige Bereiche bieten sie Möglichkeiten, für beide Seiten nutzbringend „Freiwillige“ einzusetzen.
  • Die Ausbildung bedarf auch bei Crashkursen für einfachere Tätigkeiten einer Infrastruktur: Bildungsstätten, Lehrpersonal, Sachausstattung. Das kostet Geld und insbesondere geeignete Ausbilder wachsen nicht pflückreif auf Bäumen.
  • Der Versuch hier vermeintlich einfache Tätigkeiten aus Fachberufen im Gesundheits- und Sozialwesen auszugliedern, um diese an billige Hilfskräfte weiterzureichen, wird das sowieso schon schlechte Gehaltsgefüge in diesen Professionen noch mehr unter Druck bringen. Dies konterkariert u. A. die „Bemühungen“ des Bundesgesundheitsministers, der doch die Pflege attraktiver machen möchte…
  • Wehrdienstleistende bei der Landesverteidigung…?!?!? Der Gedanke hat in mir schon immer ein Gefühl irgendwo zwischen Hysterie, Belustigung und Fassungslosigkeit ausgelöst. Und in denen, die es dann ausbaden müssen vermutlich auch. Soldaten auszubilden ist eine komplexe Angelegenheit und macht nur bei Freiwilligkeit wirklich Sinn. Denn Loyalität beim Dienst an der Waffe kann man ebenso wenig erzwingen, wie Altruismus.
  • Die organisatorische Infrastruktur für ein „Gesellschaftsjahr“ müsste erst neu implementiert werden: Kosten, geeignetes Personal, Räumlichkeiten?
  • Bei der aktuellen Rentendiskussion den jungen Leuten evtl. durch ein solches Konstrukt die Renten-Anwartschaften um ein Jahr zu kürzen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass man damals mit Gewalt das G8 einführen musste, damit die Jungen auch ja früh ins Erwerbsleben eintreten können, klingt irgendwie schizophren, oder?

Für dieses Modell spricht momentan lediglich die Hoffnung, so wie früher eine höhere Langzeit-Rekrutierungs-Quote erzielen zu können. Eventuell die vage Idee, mehr soziale Solidarität zu schaffen, obschon ich hierein keine allzu großen Erwartungen setzen würde. Und natürlich die Vermittlung grundlegender Tugenden wie Disziplin, Fleiß, Pünktlichkeit, etc.; yo, das hat bei der Bundeswehr ja auch immer so gut geklappt…

Ich betrachte diese Diskussion als typische Sommerloch-Totgeburt, denn eine solche Zwangsverpflichtung erzeugt gesamtgesellschaftlich wahrscheinlich mehr Kosten, als sie einsparen helfen könnte – und das bei zweifelhaftem psychologischem Nutzen. Ich lehne einen solchen Vorstoß daher entschieden ab. Wenn man die Probleme bei der Bundeswehr und im Gesundheits- und Sozialwesen wirklich angehen will, muss man die entsprechenden Fachberufe stärken. Kostet auch Geld, das aber besser angelegt wäre…

Randnotizen eines Erschöpften #03

Die Hitze hält an und mein geistige Hitze steigt, wenn ich mir unsere Gesundheitspolitik so anschaue. Herr Spahn, amtierender Minster für Gesundheit hat verschiedene Ideen vorgelegt, die allerdings für einen Praktiker wie Trostpflaster klingen. Anstatt eine Neukonzeption zu wagen, tatsächlich, wie überall sonst auch den Bürger in die Pflicht zu nehmen, die Beitragsaufkommen wieder zu solidarisieren  und die Verwaltungsapparate zu entschlacken, wird hier ein bisschen an einer Schraube gedreht und dort ein bisschen an einer Strippe gezogen. Dabei könnte es einfach sein, wenn man sich ein Herz nähme und nicht immer noch wie ein Pharmalobbyist handeln würde…

  • Einführung eines Faches Gesundheitskunde, spätestens ab der dritten Klasse mit einer Stunde Unterricht wöchentlich. Denn Kenntnisse über die Funktionen des eigenen Körpers und die Funktionen des Gesundheitswesens könnten die medizinische Selbstkompetenz der Bürger erheblich stärken. Die Hoffnung ist, dadurch die Zahl der unnötigen Leistungsinanspruchnahmen zu senken.
  • Die Medizinalfachberufe müssen gegenüber der Ärzteschaft gestärkt werden. Nur wenn sie in der Gesellschaft als eigenes Tätigkeitsfeld wahrgenommen werden, erfahren sie vielleicht auch angemessene Wertschätzung.
  • Überdies muss die Gehalts-Struktur überdacht werden.
  • Einführung einer solidarischen Krankenversicherung. Die gegenwärtige 2-Klassen-Medizin erzeugt finanzielle Anreize für Leistungserbringer, die zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen beitragen.
  • Begrenzung des Einflusses der Pharmalobby, verbesserte Steuerung der Ausgaben und Kosten/Nutzen-Bewertung für Pharmaka.
  •  Flächendeckende Einführung des Gemeinde-Notfallsanitäters oder der Gemeindeschwester als Gatekeeper für Notfalldienstleistungen.
  • Disposition der ärztlichen Vertretungsdienste durch integrierte Leitstellen nach bundeseinheitlichem Katalog.

Wenn ich länger darüber nachdächte, fielen mir bestimmt noch mehr Maßnahmen ein. Aber mit dem von mir genannten Katalog ließen sich viele Probleme, die gegenwärtig durch die Medien  geistern (wie etwa überfüllte Notaufnahmen, Hausärzte-Mangel in den ländlichen Räumen) zumindest dämpfen. Zweifelsfrei würde das am Anfang Geld kosten. Langfristig ließen sich Gesundheitsausgaben aber zumindest stabilisieren. Und es kann nicht sein, das Gesundheit – wie derzeit praktiziert – abgesehen von einigen kosmetischen Pflästerchen als Dienstleistung einfach dem Markt überlassen wird. Das verschärft die soziale Ungleichheit weit mehr, als irgendeine andere Unterlassung der aktuellen Politik. Dem muss m,an entschieden entgegen treten, bevor sich auch bei uns lange Schlangen vor den Notaufnahmen bilden.

Das Leid Kultur #02 – Heimat

Über Heimat ist vermutlich schon fast alles geschrieben. Insbesondere jetzt, da plötzlich alle scheinbar ein Interesse an dem Begriff entwickelt haben. Könnte natürlich daran liegen, dass viele – auch manche Politiker – immer noch dem irrigen Glauben anhängen, dass Heimat nur irgendwas mit Abgrenzung zu tun hat. Oh gewiss, es gibt abgegrenzte Gebiete, gemeinhin Nationen genannt, deren Einwohner zumindest einen halbwegs einenden Aspekt gemein haben; nämlich die Sprache. Doch schon hier hapert es bei der Einigkeit, insbesondere, wenn ein Niederbayer mit einem Sachsen spricht. Ortstypische Sprachidiome sind ja auch Teil von Kultur.

Wir lernen daraus, dass Sprache, von den meisten als wichtigster Aspekt einer eigenen Kultur verstanden, als Abgrenzungswerkzeug zumindest schwierig ist. Also gut, dann nehmen wir halt Grenzverläufe. Die wurden ja auch nicht nach Jahrhunderten des Krieges willkürlich entlang irgendwelcher geographischer Landmarken gezogen, die mit Zugehörigkeitsgefühl nicht immer was zu tun haben…oder? Nun sagen wir mal so, die Grenzen der Kurpfalz z. B. haben sich im Lauf der Jahrhunderte dauernd verändert. Man könnte jetzt sagen, dass ich ja damals die Raubritter dauernd um das Land geprügelt haben; nur welcher qualitative Unterschied besteht da zu heute, wenn man sich z.B. die russische Außenpolitik anschaut (Krim-Anexion und so)?

Sprache? Fail! Territorium? Fail! Bleibt also noch die Kultur… Nun dazu habe ich hier schon alles gesagt! Na dann versuchen wir Ethnizität? Nun ja, unser Grundgesetz ist da eindeutig, womit da ganz nebenbei auch gleich die Religionszugehörigkeit als Heimat-Kriterium ausscheidet! Nur für alle, die das immer noch nicht kapiert haben! Auch wenn der Heimat(Schutz)Minister ja genau deshalb so einen Bohei veranstaltet. Es geht um ethnisch und vor allem religiös motivierte Segregations-Bemühungen um „unsere schöne deutsche Heimat sauber zu halten“. Ich weiß nicht, ob er das tatsächlich je irgendwo so gesagt hat, aber alle anderen Äußerungen legen diesen Verdacht nahe. Und wenn’s auch nur in irgendeinem insignifikanten Dorffestzelt war.

Heimat als Kampfbegriff für politische Interessen, insbesondere solche vom nationalkonservativen Typus zu missbrauchen ist ekelerregend. Die Tatsache, dass Heimat für jeden Menschen etwas bedeutet, eine zutiefst emotionale Konnotation besitzt, uns an unsere Herkunft im allereinfachsten menschlichen Sinne gemahnt wird als Instrument genutzt, um negative Gefühle gegen Menschen von woanders zu schüren, indem man den Strohmann des Verlustes brennen lässt. „Die“ nehmen uns unsere Heimat weg. „Die“ sind böse. „Die“ müssen wir bekämpfen, egal wie. Flüchtlinge werden entmenschlicht, objektifiziert und dann gegen das gute Gefühl des Begriffes Heimat gestellt, wie die Schlange, die das Paradies auf den Kopf gestellt hat; und schon haben wir zumindest rhetorische Schützengräben ausgehoben und Waffen ausgeteilt.

Heimat ist, genau wie Kultur als Begriff hervorragend geeignet, von Rassisten missbraucht zu werden. Und wenn ich sehen muss, dass ein Bundesminister sich wie ein Kind freut, dass an seinem 69en zufällig 69 Menschen abgeschoben wurden, muss man sich schon fragen, wes Geistes Kind er denn ist? Letztlich könnte es mir egal sein, weil meine Definition von Heimat nichts mit Abgrenzung zu tun hat. Ich muss keine Unterschiede suchen, um meine Herkunft zu kennen. Ich muss keine Grenzen ziehen, um mich zu Hause zu fühlen. Ich muss niemandes Feind sein, um mein selbst zu kennen!

Was Heimat für mich bedeutet, definiere ich selber – oder besser gesagt, mein Leben definiert das durch mein Tun, mein Lassen und meinen Umgang für mich, so wie es auch mit der Kultur als Lebenspraxis ist. Und ich sehe dabei nicht die Notwendigkeit etwas oder jemand Fremdes als Antithese zu nutzen, an deren Anderssein ich mein eigenes Selbst definiere. Viele Menschen in unserem Lande scheinen jedoch das Bedürfnis zur Abgrenzung zu haben. Nur hat das nichts mit Heimat zu tun, sondern mit Ideologie. Oder besser Demagogie. Da ich mir aber von Demagogen nicht mein Leben diktieren lassen werde, haben alle Bemühungen um eine völkische Ideologie, im Moment auch Heimat genannt, keinen Wert, außer als abschreckendes Beispiel für Anfänge des Faschismus. Danke Herr Seehofer, dass Sie endlich mal Ihr wahres Antlitz zeigen. Und an alle Anderen: Heimat ist, was Ihr daraus macht, nicht was irgendwelche ewig Gestrigen dazu erklären. Habe fertig…

Das Leid Kultur #01

Immer dann, wenn sich andere Strategien erschöpft, als nutzlos oder überholt erwiesen haben, kommt wieder jemand daher und fängt an von Leitkultur. Ob es nun ein reaktionäres Punkte-Programm sei, wie bei Thomas de Maizière, oder der mysteriöse Masterplan unseres Heimat(Schutz)Ministers Seehofer; immer rekurrieren die Apologeten eines allzu statischen Kulturbildes auf den Begriff, der nie als Kampfbegriff, sondern als Erklärungsversuch für das Bild einer multi-ethnischen Gesellschaft, wie sie der Begriff-Schöpfer sehen will.

Obschon vermutlich durchaus mit eigenen Rassismus-Erfahrungen versehen, plädiert dieser für eine, zunächst auf ökonomischer Opportunität basierende Einwanderung nach Deutschland; und darauf, dass eine Leitkultur definiert werden müsse. Definiert? Wer definiert den bitteschön eine Kultur? Und vor allem: was ist Kultur?

Vielleicht sollte man sich der einfachen Tatsache erinnern, das Kultur zuerst und vor allem die gelebte Daseins-Praxis der in einem bestimmten Gebiet lebenden Menschen in all ihren Ausprägungen ist. Kunst ist Teil von Kultur. Kommerz ist Teil von Kultur. Arbeit ist Teil von Kultur. Freizeit ist Teil von Kultur. Und so, wie sich mit dem Zeitlauf, zumeist angeschoben durch technische oder soziale Veränderung, die gelebte Kultur-Praxis ändert, ändern sich auch ihre Ausdrücke.

Meine Photos zum Beispiel sind Ausdruck des in mir sozialisierten Ästhetik-Empfindens, welches ich mit vielen anderen Menschen teile. Damit ist es sowohl Ausdruck von gemeinsamer Kultur, aber auch meines ganz persönlichen Individualismus. Beides – das Individuum und seine soziale Umwelt – stehen in einem steten Dialog, der nicht einfach unterbrochen wird, wenn jemand anders etwas Neues, oder etwas Altes auf neue Weise tut.

Kultur ist damit ein sublimer Begriff für etwas, das wir alle an jedem Tag neu erschaffen. Ich bin Notfallsanitäter des frühen 21. Jahrhunderts. Müsste ich einem rein traditionell gedachten Kulturbegriff huldigen, wie es manche Politiker fordern, lebte ich vielleicht wie ein Feldscher im Großherzogtum Baden. Und ich habe lediglich eine vage Vorstellung davon, wie es da so lief.

Eine Leitkultur definieren zu wollen, deutet damit einen Machtanspruch über die gelebte Kultur-Praxis der Menschen in unserem Lande an; und damit den Wunsch mancher Politiker, auf wahrhaft fundamentale Weise bis in die persönlichsten Bereiche unseres Lebens vorzudringen, um uns Kultur-Praxis vorschreiben zu können. Dieses Ansinnen weise ich – als den Angriff auf meine im Grundgesetz verbrieften Bürgerrechte, als den man es verstehen sollte – auf’s aller schärfste zurück!

Meine Kultur-Praxis – oder besser, mein Denken und Schöpfen in kulturellen Bezügen – ist Teil dessen, was meine Persönlichkeit ausmacht. Und ich werde mir von niemandem – schon gar nicht diesem radikal-reaktionären Idioten Seehofer – vorschreiben lassen, was ich zu tun und zu denken habe. Allein der Gedanke, dass man Kultur festschreiben könne, ist dumm und kurzsichtig.

Wir können gerne darüber diskutieren, was ich mir unter „Heimat“ vorstelle, oder was ich zum Thema Zuwanderung noch zu sagen hätte. Aber wir werden nicht über Leitkultur sprechen, denn die kann und darf es nicht geben! Wäre sie doch lediglich ein Instrument zur Vertretung des Machtanspruchs autoritär denkender Politiker. Schönen Tag noch.